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"Nymphomaniac 2"
Philosophie der Liebe

Der dänische Regisseur Lars von Trier schafft es regelmäßig, mit seinen Filmen zu polarisieren. Jetzt kommt Teil 2 von "Nymphomaniac" in die Kinos. Ein ungeheuer dichter Film, meint Kritiker Christoph Schmitz. Ein Essay über das Begehren und ein Inbild der Verzweiflung, des Scheiterns und der Depression.

Von Christoph Schmitz | 30.03.2014
    Regisseur Lars von Trier (l-r), Uma Thurman und Christian Slater kommen am 09.02.2014 in Berlin während der 64. Internationalen Filmfestspiele zur Premiere des Films "Nymphomaniac Volume eins. Der Film lief im Wettbewerb der Festspiele.
    "Nymphomaniac“ Regisseur Lars von Trier (l) und die Schauspieler Uma Thurman und Christian Slater während der Berlinale in Berlin. (picture alliance / dpa / Foto: Tim Brakemeier)
    "Ich bin nicht wie ihr. Ich bin eine Nymphomanin! Und ich liebe mich dafür, eine zu sein. Aber vor allem liebe ich meine Möse. Und meine schmutzige, versaute Lust."
    Bekennt Joe in ihrer Therapiegruppe für Sexsüchtige und haut ab. Da hat sie schon ein langes lasterhaftes und zuletzt masochistisches Leben hinter sich, einige Filmstunden sind bereits vergangen, der ganze erste Filmteil und gut zwei Drittel von "Nymphomaniac 2".
    Dass es um expliziten Sex gehen sollte, hatte die Werbung monatelang vor Kinostart getrommelt. Und tatsächlich schimmert Lars von Triers Ursprungsidee, endlich einmal selbst Pornobilder zu drehen und zu zeigen, wie die Tiefenschichten eines Palimpsestes durch: Penetrationen in Nahaufnahme, feuchtglänzende Schamlippen, frisch ausgeworfenes Sperma.
    Für einen Spielfilm ist das allein auf Dauer natürlich denkbar langweilig, und so hat Lars von Trier kräftig überschrieben und den schlichten Sex eingeflochten in ein engmaschiges Gewebe aus Reflexionen, verhaltensbiologische, psychologische, soziologische, kultur- und zeitgeschichtliche.
    In Teil 2 setzt der Regisseur das Erzählschema von Teil 1 fort: Joes Lebensbeichte kommentiert der aufmerksame und allseits gebildete Seligman in seiner heruntergekommenen Wohnung, in die er die schwer verletzte Frau aus der Gosse in Sicherheit gebracht hat. Gegenstände im Zimmer inspirieren die beiden zu Erzählungen und Deutungen. Eine Spiegelscherbe etwa erinnert Joe daran, wie sie einmal ihre nymphomanische Natur zu bändigen versuchte. Alles was sie in ihrer eigenen Wohnung erregen könnte, hängt und klebt Joe ab, Bilder, Armaturen, oder überstreicht es mit Farbe, auch den Spiegel. Eine russische Ikone mit Gottesmutter und Kind führt Joe zu einer Gedankenreise von ostkirchlicher Lebensfreude in die vermeintliche Körperfeindlichkeit unterm Kreuz der Westkirche.
    An Heiligabend verlässt Joe Mann und Kind, um sich beim Sadisten die römische Höchststrafe mit der Knotenpeitsche auf den nackten Hintern verpassen zu lassen, 40 Schläge, bis aufs Blut, bis zum Orgasmus. Als Beispiel für die "polymorphe Sexualität" ordnet Seligman ihr Verhalten ein.
    Gewalttätiger als Teil 1
    "Nymphomaniac 2" ist ungleich dunkler, gewalttätiger, schmerzhafter als Teil 1. Der spielt noch mit der Leichtigkeit kindlicher und jugendlicher Erotik, mit Witz, Ironie und Bildideen, die in Teil 2 so gut wie verschwunden sind. Dennoch gehört beides zusammen, eigentlich dürfte man die beiden Teile gar nicht unabhängig voneinander sehen.
    "Nymphomaniac" ist ein einziger Film, der radikal sein Thema durchdekliniert. Es geht um die sexuelle Revolution, ihr Befreiungspathos, aber auch um die Flurschäden eines hedonistischen Individualismus. "Nymphomaniac" ist zugleich eine säkulare Beichte samt Absolution. Seligman ist alteuropäischer Anthropologe und gottloser Beichtvater in Personalunion. Etwa wenn Joe von ihrem Gruppensex mit "Negern", wie sie es ausdrückt, erzählt.
    "Dieses Wort sollten Sie nicht benutzen. Das ist wirklich alles andere als politisch korrekt, Neger." Joe: "Ja, tut mir leid, aber in meinen Kreisen war es schon immer Ehrensache, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Jedes Mal, wenn ein Wort verboten wird, bricht man einen Stein aus den Grundmauern der Demokratie. Die Gesellschaft demonstriert ihre Ohnmacht angesichts eines konkreten Problems, indem sie Worte aus der Sprache streicht." Seligman: "Ich denke, die Gesellschaft würde behaupten, dass politische Korrektheit eine sehr präzise Bezeichnung für den demokratischen Schutz von Minderheiten ist."
    Von den erotischen Erkundungen und Freuden schlittert Joe in sexuelle Besessenheit und von dort in die Kommerzialisierung des Sexuellen als skrupellose Schuldeneintreiberin. Ihre bizarren Lebenserfahrungen verkauft sie als Waffe.
    Lars von Trier hat einen ungeheuer dichten Film komponiert, der mehr ein Essay ist als eine Erzählung. Ein Essay über das Begehren. Und ein Inbild der Verzweiflung, des Scheitern und der Depression. Am Schluss bekennt Joe nach über vier atemberaubenden Filmstunden und einer ganzen Redenacht: Dass sie alles erzählen konnte, habe sie erleichtert.
    Der keusche, unschuldige, gutmütige Seligman sei ihr erster wirklicher Freund. Aber da fehlt noch die letzte Filmminute. Mit diabolischer Dialektik katapultiert die alles noch einmal in eine andere Richtung. Keiner ist so halsbrecherisch wie Lars von Trier.