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"O, Earth" am Foundry Theater New York
Eine schwul-lesbische Transgender-Fantasie

Ob Klimawandel, Rassendiskriminierung, soziale Gerechtigkeit oder Gentrifizierung: Das New Yorker Foundry Theater hat sich in den mehr als 20 Jahren seines Bestehens einen Namen als politisch engagiertes Theater gemacht. In der neuen Produktion "O, Earth" versucht es gemeinsam mit Autorin Casey Llewellyn, Thornton Wilders "Unsere kleine Stadt" politisch neu zu deuten.

Von Andreas Robertz | 16.02.2016
    In Thornton Wilders "Our Town" von 1938 geht es um die Geschichte einfacher Kleinstadtmenschen; unter ihnen die Nachbarskinder George und Emily, die sich verlieben und heiraten. Emily stirbt und kehrt als Geist zurück, um sich am Ende daran zu erinnern, dass das Leben zu kostbar ist, um es einfach nur hinter sich zu bringen. Ein Erzähler – der Inspizient - führt das Publikum durch das Stück, die Bühne ist normalerweise leer und Handlungen werden pantomimisch ausgeführt. So kennen Millionen von Amerikanern ihren Klassiker, in dem die Kleinstadt als Metapher für ein noch unschuldiges Amerika steht.
    In Casey Llewellyns "O, Earth" ist George ist ein Transgender-Junge und für Emily ist die kleine Stadt zu klein und sie will weg. Die üblicherweise weiße Erzählerfigur ist eine schwarze Frau, die sich genervt fragt, warum gerade sie die Geschichte all dieser weißen Leute erzählen muss, die in Geschäften einkaufen, die sie damals nicht einmal hätte betreten dürfen. Währenddessen gräbt Thornton Wilder, der homosexuell war und dies nie zu thematisieren wagte, in einem großen Erdhaufen nach einer Zeitkapsel mit seinem Stück. Ach ja, und Emily liebt die Ellen DeGeneres-Show und schon verwandelt sich die Bühne in ein Talkshow-Studio. Ein "Applaus"-Schild verführt das Publikum zum Mitmachen.
    Thornton Wilder in der Zeitkapsel
    Ellen, Amerikas berühmteste lesbische Entertainerin, überreicht dem superjungen schwulen Paar Spencer und Duncan, deren Video vom Heiratsantrag in einem Heimwerkermarkt auf YouTube millionenfach angeklickt worden war, 10.000 Dollar und eine Reise in die Karibik. Nach der Sendung sitzt sie allein auf ihrem roten Sofa und kann nicht fassen, wie schnell sich alles verändert hat. Vor dreißig Jahren begannen die Stonewall Aufstände, die den Beginn der Lesben- und Schwulenbewegung markieren; jetzt dürfen Homosexuelle heiraten. Doch die Gesellschaft scheint sich auch rückwärts zu bewegen. Kommen in 30 Jahren wieder die Internierungslager? , fragt sie sich. Angesichts der aktuellen politischen Debatte der republikanischen Präsidentschaftsanwärter, die unverfroren Atombombeneinsätze in Syrien, Waterboarding gegen Terroristen und ein Verbot homosexueller Ehen fordern, eine verständliche Skepsis. Thornton Wilder hat mittlerweile seine Zeitkapsel gefunden und dabei die Geister der berühmten transsexuellen Aktivistinnen Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera befreit.
    Kritik an der homosexuellen Bewegung
    Casey Llewellyns "O, Earth" ist also eine schwul-lesbische Transgender-Fantasie auf Thornton Wilders Klassiker. Mit großem Geschick inszeniert Regisseur Dustin Wills das Panoptikum aus Figuren und Zeitsprüngen, Themen und Reflexionen, die sich nahtlos ineinander fügen. Und das mit viel Ironie und Authentizität. Interessant auch die deutliche Kritik an der homosexuellen Bewegung, die vor lauter Hochzeitsaktivismus ihre politischen Wurzeln vergessen und persönliches Glück gegen echte Solidarität eingetauscht hat. Besonders Transsexuelle leiden in den USA nach wie vor unter homophober Gewalt; selten wird darüber berichtet. Dabei waren es gerade die schwarzen Transsexuellen, die Stonewall zu einer politischen Bewegung machten. Doch die politische Landschaft Amerikas wandelt sich. Neue Bürgerrechtsbewegungen wie "Occupy Wallstreet", "Black Lives Matter", "99 Percent" und "Trans Lives Matter" finden sich unter dem Banner des demokratischen Präsidentschaftsanwärters Bernie Sanders zusammen, der mit ihrer Hilfe Umfragewerte erreicht, die der Herausforderin Hillary Clinton die Sprache verschlagen. Er hat die Frage nach sozialer Gerechtigkeit und Gleichberechtigung zur entscheidenden Frage der künftigen Präsidentschaftswahl gemacht - zumindest bei den Demokraten.
    In "O, Earth" ruft Sophia Riveria ihr leidenschaftliches Plädoyer ins Publikum, nicht aufzuhören, sich füreinander einzusetzen: Ein vom Publikum begeistert gefeierter Theaterabend, der, wie sollte es auch anders sein, mit Disco-Musik der 70er Jahre endet.