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Obamas größte Herausforderung

In Washington wird weiter um die Erhöhung der Schuldengrenze gezankt. Sollten sich die Regierung und die Opposition nicht bis zum 2. August einigen, dann droht den USA die Zahlungsunfähigkeit und die Regierung steht ohne Geld da.

Von Klaus Jürgen Haller | 21.07.2011
    Europa veranstaltet heute einen Krisengipfel, um Griechenland erneut unter die Arme zu greifen. Amerika muss mit seiner Finanzkrise allein fertig werden. Auch die Amerikaner leben seit Langem über ihre Verhältnisse. Auch sie leben auf Pump; nur ihre Kreditwürdigkeit hat nie infrage gestanden. Amerikanische Staatsanleihen gelten als risikofreie Anlage schlechthin. Was die Vereinigten Staaten in die Bredouille bringt, ist ein Mangel an politischer Führungskraft. Er gefährdet die Kreditwürdigkeit des Landes, den Dollar als Reservewährung und letztlich die amerikanischen Staatsfinanzen. Da bahnt sich im Zeitlupentempo eine Katastrophe an, die anscheinend niemand zu verhindern weiß.

    Seit Wochen wird gepokert, und dabei geht es nicht um Milliarden, sondern um Billionen. Im laufenden Haushaltsjahr 2011 geben die Vereinigten Staaten 3,7 Billionen Dollar aus; sie nehmen aber nur 2,2 Billionen ein. Also 1,5 Billionen fehlen, ziemlich genau 40 Prozent der Staatsausgaben. Die muss Washington aufnehmen, und das seit Jahren; die Gesamtverschuldung hat die 14 Billionen Dollargrenze überschritten, was in etwa dem Wert der gesamten amerikanischen Volkswirtschaft nahekommt. Der Schuldendienst schlägt in diesem Jahr mit 255 Milliarden Dollar zu Buche, Tendenz steigend. Und es wird nicht einfacher; denn nach und nach scheidet jetzt die Baby-Boom-Generation aus dem Arbeitsleben aus, das sind fast 80 Millionen Menschen. Die Steuereinnahmen sinken, die Sozialausgaben explodieren, die Kreditaufnahme geht weiter. Sofern der Kongress einverstanden ist, denn er bestimmt die Höhe der Einnahmen, die Höhe der Ausgaben; und auch den Kreditrahmen, und zwar per Gesetz. Die Verschuldungsobergrenze liegt zurzeit bei 14,29 Billionen Dollar. Erreicht wurde diese Grenze bereits Mitte Mai; aber der Finanzminister ließ wissen, mit Buchungsmanövern lasse sich die Frist bis zum 2. August hinausschieben; aber dann müsse der Kongress die Verschuldensobergrenze angehoben haben.

    "Andernfalls müsste eine Reihe von Zahlungen gesperrt, reduziert oder verzögert werden, darunter der Sold der Soldaten, die Auszahlung der Renten, der Sozialversicherung, der Krankenversicherung für Senioren, die Auszahlung des Arbeitslosengeldes, der Steuerrückzahlungen und der Zinsen auf die nationalen Schulden."

    Niemand wollte glauben, dass der Kongress ein solches Debakel riskieren würde. Aber zwei Wochen vor Ablauf der Frist konnte Präsident Obama nicht einmal garantieren, dass am 3. August die Rentenschecks herausgingen; weil möglicherweise kein Geld in der Truhe sei.

    "I cannot guarantee that those checks go out on August 3rd if we haven't resolved this issue, because there may simply not be the money in the coffers to do it."

    Neben den Rentnern müssten auch Soldaten und Angehörige des öffentlichen Dienstes mit stark gekürzten Bezügen rechnen. Tausende von Maßnahmen müssten gestreckt oder gestoppt werden. Außerdem – so Notenbankchef Bernanke – könnten die USA ihre Kreditwürdigkeit aufs Spiel setzen, wenn sie ihre Schulden nicht bedient könnte.

    "Die Qualität und Reputation unserer Schatzanleihen ist ein enormer Aktivposten, der uns niedrige Zinsen beschert. Ich bitte den Kongress dringend, jeden möglichen Schritt zu tun, die Nichtbedienung unserer Schulden oder auch nur deren Wahrscheinlichkeit zu vermeiden."

    Zwei Ratingagenturen – Moody's und Standard and Poor's – haben bereits gewarnt, dass die Kreditwürdigkeit der Vereinigten Staaten herabgestuft werden könne. Mit der Folge, dass Großanleger gezwungen sein könnten, amerikanische Staatspapiere abzustoßen. Banken im Besitz solcher Papiere müssten womöglich ihre Reserven erhöhen. Auf jeden Fall würden die Zinsen für künftige Kredite steigen, was auf Haushaltskredite und Hypotheken durchschlagen müsste. Niemand wollte sich vorstellen, dass der Kongress derlei in Kauf nehmen könnte. Aber, er scheint keine Lösung zu finden. Eine Verschiebung des Termins 2. August hat Finanzminister Geithner kategorisch ausgeschlossen.

    "Wir haben alle Optionen überprüft; wir haben keine Möglichkeit, dem Kongress mehr Zeit zu geben; die Zeit läuft uns davon."

    Eine Vorlage, die als Gesetz am 2. August in Kraft treten soll, müsste eigentlich morgen zur Beratung vorliegen. Es sieht nicht danach aus, dass dies zustande kommt. Für alle Fälle wird der Senat auch am Samstag und am Sonntag tagen. Präsident Obama wirkte nicht sehr optimistisch in den letzten Tagen.

    "Ich sehe keinen Lösungsweg, wenn sie nicht einlenken, Punkt. Mit der Einstellung, es geht nach mir oder überhaupt nicht, kriegen wir wahrscheinlich nichts zustande; denn wir haben eine gespaltene Regierung."

    "Gespaltene Regierung" heißt: Eine Partei hält das Weiße Haus, die andere stellt die Mehrheit in einer oder auch in beiden Kammern des Kongresses. In Washington ist das kein Beinbruch, es ist fast schon der Normalfall. Das System der "checks and balances", der Kontrollen und Gegengewichte, erfordert ohnehin den permanenten Kompromiss. Sie müssen sich alle zusammenraufen: der Kongress und das Weiße Haus, das Repräsentantenhaus und der Senat, der Bund und die Einzelstaaten, Demokraten und Republikaner. Bei den Kongresswahlen im November letzten Jahres eroberten die nach acht Bush-Jahren fast schon totgesagten Republikaner eine solide Mehrheit im Repräsentantenhaus. Damit waren sie de facto an der Regierung beteiligt; gegen ihren Willen kommt kein Gesetz zustande, auch keine Erhöhung der Verschuldungsobergrenze. Der neue Speaker, John Boehner, ist der natürliche Gegenspieler des Präsidenten:

    "Ohne ernsthafte Ausgabenkürzungen, ohne die Reform der gesetzlich festgeschriebenen Programme wird dieses Problem nicht gelöst."

    Nach den Kongresswahlen im November sahen sich Präsident Obama und die verbliebene demokratische Mehrheit im Senat gezwungen, sich auf die Unausweichlichkeit von drastischen Ausgabenkürzungen und den Abbau der Neuverschuldung einzustellen. Im Grunde ist das eine gute Nachricht. Die schlechte ist, dass Speaker Boehner die Mehrheit des Hauses nicht zu den unausweichlichen Kompromissen bewegen kann.

    "Einige unserer Mitglieder glauben einfach nicht, dass sie je für die Anhebung der Verschuldensobergrenze stimmen sollen."

    Ein ungewöhnliches Eingeständnis! Speaker Boehner brach die Verhandlungen mit Präsident Obama über eine "große Lösung" ab, als er feststellte, dass ihm der Rückhalt in der eigenen Fraktion fehlt. Auch Boehner sagt, den 2. August zu verpassen, könne die Märkte durcheinanderbringen und zu einer realen Katastrophe führen; niemand wolle das.

    Prompt tönt es Boehner aus den eigenen Reihen entgegen, das Problem mit dem Speaker sei, dass er dem Präsidenten glaube; er rate ihm, damit aufzuhören, so ein Republikaner aus Texas.

    Die Abgeordnete Michele Bachmann aus Minnesota, das Sprachrohr der Tea Party Anhänger innerhalb der republikanischen Fraktion, erklärt in einem Wahlspot – sie bewirbt sich um die Präsidentschaftskandidatur ihrer Partei, sie wisse, dass wir nicht weiter Geld ausgeben können, das wir nicht haben; deshalb habe sie gegen die Rettung der Banken und gegen das Konjunkturpaket gestimmt.
    "Ich werde nicht für die Anhebung der Verschuldensobergrenze stimmen."

    Was immer Speaker Boehner aushandeln mag, sie ist dagegen. Ron Paul aus Texas ebenfalls, ein weiterer Präsidentschaftsbewerber, inzwischen so etwas wie der Guru der Tea Party Anhänger: "Ich bin gegen die Anhebung der Verschuldensobergrenze; ich stimme dagegen."

    Die dagegen sind, finden Unterstützung bei konservativen Gruppen. "Knicken die Republikaner ein oder zeigen sie Rückgrat", fragt dieser Spot. Kein Wunder, dass sich Präsident Obama zunehmend verärgert zeigt:

    "Einige der Berufspolitiker wissen es besser. Zu erklären, die Verschuldensobergrenze nicht anzuheben, ist unverantwortlich."

    Durchgesetzt haben die Republikaner unter Speaker Boehner, dass eine Anhebung der Verschuldensobergrenze eine nachhaltige Kürzung der Staatsausgaben erfordert. Präsident Obama hat sich das viel zu spät zu eigen gemacht. Nur mit dem Wie – etwa mit der mittelfristigen Privatisierung der Sozialversicherung - ist er nicht einverstanden. Außerdem will der Präsident die Steuernachlässe für Großverdiener oder auch für Ölkonzerne abschaffen. Hier legen sich die Republikaner quer.

    "Das amerikanische Volk wird das nicht akzeptieren und das Haus kann kein Gesetz verabschieden, das Steuern für Arbeitgeber erhöht."

    Senator Mitch McConnell, der Führer der republikanischen Minderheit im Senat, stößt in dasselbe Horn.

    "Das amerikanische Volk glaubt ziemlich sicher, dass wir das Defizitproblem haben, weil wir zu viel ausgeben, nicht weil wir zu wenig besteuern."

    Das ist auch nur die halbe Wahrheit. Präsident Clinton und ein republikanisch geführter Kongress hatten das Kunststück fertiggebracht, mehr einzunehmen, als auszugeben. Das hatte es in 30 Jahren nicht gegeben. Damals hieß es, die Gesamtverschuldung von seinerzeit drei Billionen Dollar könne in zehn Jahren abgebaut sein. Sie hat inzwischen die 14 Billionen Dollar Marke überschritten.

    Weil Clintons Nachfolger George W. Bush die Steuern senkte, um geschlagene 1,7 Billionen Dollar, wie immer auf zehn Jahre hochgerechnet. Und dann horrende Ausgaben, ohne dass jemals Steuern oder Beiträge erhöht wurden.

    272 Milliarden, weil Bush durchsetzte, dass Medicaid, die staatliche Krankenversicherung der Senioren, nunmehr auch Arzneimittelkosten trägt;

    Über 1,3 Billionen für die Kriege in Afghanistan und im Irak; dann die Wirtschaftskrise:

    700 Milliarden zur Stabilisierung der Banken und Versicherungen;

    570 Milliarden zur Unterstützung des Immobilienmarktes;

    eine Konjunkturspritze von 787 Milliarden.

    Und nun zeigte sich etwas Erstaunliches. Wenn Automobilkonzerne sich in die Pleite wirtschaften, sollen sie scheitern, konnte man hören. Und wenn es in Banken wie in einem Spielkasino zugeht, sollen sie zum Teufel gehen. Als diese Banken ihren Führungskräften dann auch noch millionenschwere Prämien zuschanzten, selbst solchen, die den Karren überhaupt erst in den Dreck gefahren hatten, schlug der Protest in Wut und Empörung um.

    So ist, zunächst spontan und unkoordiniert, diese merkwürdige Tea Party-Bewegung entstanden. Normalerweise protestieren Junge und Linke, hier waren es Grauhaarige und Rechte. Nicht um den sozialen Besitzstand zu bewahren, sondern um den staatlichen Regierungsapparat zurechtzustutzen. Diese Bewegung hat Amerikas politische Landschaft nachhaltig verändert, indem sie den Republikanern zu neuer Macht verhalf. Obwohl ihre ersten Opfer auch Republikaner waren, gestandene und moderate, vor allem solche, die für Obamas Konjunkturpaket gestimmt hatten; sie wurden in den republikanischen Vorwahlen beiseitegeschoben und durch Kandidaten ersetzt, die weniger an Kompromissen als an einem radikalen Kurswechsel interessiert waren.
    87 der 242 republikanischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus sind Neulinge, die meisten liegen auf der Linie der Tea Party Bewegung. Ob Speaker Boehner sie doch noch zu Kompromissen bewegen kann oder aber ob sie versuchen, die Republikanische Partei zu übernehmen, ist eine offene Frage. Als der Speaker sich im Frühjahr mit Präsident Obama im Rahmen des laufenden Haushalts auf eine Ausgabenermächtigung geeinigt hatte, versagte ihm ein Viertel der Fraktion die Gefolgschaft. Hier liegt der Kern der politischen Führungskrise in Washington.

    Die Demokaten lehnen größere Einschnitte in die Sozialversicherung und die Krankenversicherung für Senioren ab, solange nicht irgendwo die Einnahmen erhöht werden; dies lehnen die Republikaner ab, und zwar kategorisch. Damit ist der Weg zu einer einvernehmlichen Lösung blockiert. Speaker Boehner ist nicht stark genug, um sich über den Widerstand in den eigenen Reihen hinwegzusetzen. Die Bevölkerung reagiert zunehmend ungehalten, vor allem, was die Haltung der Republikaner betrifft. Nur drei von zehn Amerikanern, sagen die Meinungsforscher, wollen ihren Abgeordneten wiederwählen. Das würde die Hoffnung der Republikaner, im kommenden Jahr auch die Mehrheit im Senat zu erobern, infrage stellen, von der Eroberung des Weißen Hauses nicht zu reden. Als wolle er die Kuh gewaltsam vom Eise treiben, machte Senator Mitch McConnell, der Obmann der Republikaner im Senat, einen völlig überraschenden Vorschlag: Soll der Präsident doch die Verschuldensobergrenze auf eigene Faust anheben.

    "Der Präsident soll Schwarz auf Weiß zeigen, welche Kürzungen er unterstützt. Tut er das nicht, muss er die Verschuldensobergrenze allein anheben, ohne dass Republikaner das unterstützen. So kann der Präsident nicht behaupten, er unterstütze Kürzungen, wenn er es nicht tut. Er muss Farbe bekennen."

    Vom Kongress beschlossene Ausgabenkürzungen könne der Präsident an seinem Veto scheitern lassen. Verwirrend das Ganze, auch für Republikaner. Wir sind doch nicht gewählt worden, die Ausgaben und die Kreditaufnahme zu erleichtern, kommentierte Senator Demint von South Carolina.

    "Das ist nicht unser Plan. Ich habe mit Abgeordneten und Senatoren gearbeitet, wir werden einen Plan einbringen, der dem Präsidenten die Anhebung der Verschuldensobergrenze erlaubt, sie aber auf Jahre von Ausgabenkürzungen und Obergrenzen abhängig macht."

    Genau dies hat das Repräsentantenhaus mit seiner republikanischen Mehrheit vorgestern beschlossen. Die Anhebung der Verschuldensobergrenze von einem Beschluss abhängig zu machen, die Verfassung zu ändern, um die Vorlage ausgeglichener Haushalte zu erzwingen, wird schon im Senat scheitern.

    Ebenfalls vorgestern – das war die große Neuigkeit – meldete sich die Gang of Six, drei demokratische und drei republikanische Senatoren, die einen Vorschlag vorlegten, an dem sie seit einem halben Jahr arbeiten. Als Erstes wird die Verschuldensobergrenze angehoben. Senator Warner von Virginia, ein Demokrat:

    "Eine Herabstufung unserer Schulden wäre eine Steuererhöhung für jedermann durch höhere Zinsen. Das zu verhindern muss unser erstes Ziel sein."

    Das Zweite wäre, die Verschuldung in zehn Jahren um fast vier Billionen Dollar zurückzufahren. Allein die Hälfte der Einsparungen träfe den Verteidigungsetat; auch die Sozialversicherung und Medicaid, die staatliche Krankenversicherung der Senioren, müssten Federn lassen. Gleichzeitig aber sollen die Einnahmen steigen. Senator Tom Coburn von Oklahoma, ein Republikaner:

    "Ohne Frage, Einkünfte, erweiterte Einkünfte sind Teil dieses Plans. Wir glauben, es dreht sich um eine Billion Dollar."

    Widerspräche dies dem bisherigen Dogma der Republikaner, keine Erhöhungen der Einnahmen? Nicht unbedingt; denn die Steuersätze für Privatpersonen und Unternehmen sollen gesenkt werden; die Abschaffung von Schlupflöchern, Abschreibungsmöglichkeiten und dergleichen soll es bringen.

    Präsident Obama zeigte sich erfreut und mancher erleichtert; aber die Lösung ist das noch nicht. Es sei fraglich, ob der Plan in den restlichen zwölf oder 13 Tagen in einen Gesetzestext umgeschrieben werden könne, gab Senator Warner vorgestern zu bedenken.
    Bis morgen klappt das sicher nicht. Außerdem kann eine Vorlage, die Steuern und andere Einnahmen berührt, laut Verfassung nur vom Repräsentantenhaus auf den Weg gebracht werden, nicht vom Senat. Der Druck, sich in letzter Minute zu einigen, wird steigen. Und wenn es dann doch noch klappen sollte, wird wieder einmal Winston Churchill zitiert: "Die Amerikaner tun immer das Richtige, nachdem sie alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft haben."