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Obdachlose in Madrid
Arm und unsichtbar

Die spanischen Zeitungen schreiben, die Wirtschaftskrise sei vorbei. Der Armutsbericht der Caritas spricht eine andere Sprache. Ein Viertel der Bevölkerung sei armutsgefährdet, heißt es da. Doch in der Hauptstadt werden die Armen kaum wahrgenommen.

Von Hans-Günter Kellner | 22.12.2014
    Ein Obdachloser sitzt im Februar 2014 in Berlin Mitte auf dem Gehweg.
    Ein Obdachloser auf einem Gehweg. (picture alliance / dpa / Foto: Jens Kalaene)
    Als vor sieben Jahren die Immobilienblase platzte, mussten Zehntausende Spanier ihre Häuser oder Wohnungen räumen, sie konnten die Hypotheken nicht mehr bedienen. Denn viele Spanier haben in der Zeit ihren Arbeitsplatz verloren. Nun verkünden die Schlagzeilen passend zur Weihnachtszeit, dass die Krise im Land zu Ende sei.
    Doch der Armutsbericht der spanischen Caritas spricht eine andere Sprache. Wer in Spanien vor fünf Jahren weniger als 566 Euro im Monat verdiente, galt als armutsgefährdet. Das waren damals rund 15 Prozent der Bevölkerung. Heute sind es nach Angaben der umfangreichsten Sozialstudie in Spanien 25 Prozent.
    Unterm Strich steht nur noch ein Drittel der Spanier ohne nennenswerte wirtschaftliche Probleme da. Nur sie haben ein regelmäßiges Einkommen und den Zugang zur Gesundheitsversorgung und Bildung.
    Die Statistik ist sogar noch positiver als die Lage, denn die Obdachlosen, die Menschen am Rande der Gesellschaft wurden von ihr nicht erfasst. Allein in Madrid sind es aber nach Schätzungen der Caritas rund 3.000 Menschen, die auf der Straße leben.
    20 Uhr im Zentrum von Madrid. Eine Handvoll Leute zieht Handkarren mit Lebensmitteln für Obdachlose einen dunklen, steilen Gehweg hinauf in die historische Altstadt von Madrid. Gabriel, von Beruf Hausmeister, hat vier Stunden Brote geschmiert:
    "Ich musste einfach etwas unternehmen. Jeder von uns kann sich morgen in der gleichen Situation wiederfinden wie diese Leute. Das Leben kann sich schlagartig ändern und dann schläfst Du auf Kartons in Hauseingängen."
    Die Obdachlosen sind genervt vom Weihnachtstrubel
    "Granito a granito" nennt sich die Gruppe Freiwilliger, was sich in etwa mit "Sandkorn auf Sandkorn" übersetzen lässt. Neben dem Madrider Opernhaus Teatro Real wartet der vollbärtige Miguel schon auf alten Kartons im Hauseingang sitzend auf ein heißes Getränk und Essen. Seit zehn Jahren ist dies der Schlafplatz des ehemaligen Minenarbeiters:
    "Eigentlich hätte ich mit 52 Jahren in den Ruhestand gehen sollen. Jetzt bin ich 54. Aber vor zehn Jahren wurde ich krank, niemand hat sich um mich gekümmert, weder das Unternehmen, noch die Ärzte, noch die Gewerkschaften. So lebe ich jetzt seit zehn Jahren auf der Straße. Ich nehme keine Drogen und trinke keinen Alkohol."
    Auf der Plaza Mayor reihen sich die Stände des Weihnachtsmarkts aneinander. Die Obdachlosen unter den Arkaden sind ein bisschen genervt vom Weihnachtstrubel. Den Besuchern wiederum fallen die Obdachlosen nicht auf, erzählt Toño Batres. Er war einst ein erfolgreicher Programmierer. Aber dann scheiterte seine Ehe, er bekam Depressionen und wurde obdachlos:
    "Zum Schlimmsten auf der Straße gehört, dass man unsichtbar ist. Hier im Zentrum begegnet man als Wohnungsloser am Tag Tausenden von Menschen. Sie sehen Dich, aber sie blicken dich nicht an. Das schmerzt sehr. Obdachlose werden nicht mehr als Menschen wahrgenommen, sondern als Teil des städtischen Mobiliars."
    Toño schaffte den Ausstieg, lebt heute in der Sozialwohnung eines Hilfswerks und verdient als Programmierer rund 250 Euro im Monat. Doch die Erlebnisse auf der Straße haben ihn nicht losgelassen, so macht auch er bei "Granito por granito" mit:
    "Manche denken, auf der Straße genieße man die große Freiheit. In Wahrheit weckt die Polizei die Leute um sieben Uhr morgens, damit die Touristen hier niemanden schlafen sehen. Um neun Uhr musst Du zum Frühstück in eine Armenküche, um eins gibt es irgendwo ein Mittagessen und das Abendessen gibt es wieder woanders. Man sucht den ganzen Tag nach Essen. Manchmal bin ich bis zu 15 Kilometer gelaufen."
    Die Hilfswerke zählen rund 3.000 Obdachlose in Madrid
    Rund 2.000 Schlafplätze soll es im Winter in Madrid geben. Demgegenüber stehen rund 3.000 Obdachlose, sagen die Hilfswerke. Doch verlässliche Statistiken fehlen. Mit der Krise lebten deutlich mehr Menschen auf der Straße, darunter auch immer mehr Akademiker, sagt Toño. Lorenzo zum Beispiel sieht niemand an, dass er auf der Straße lebt. Wie so viele Obdachlose achtet er sehr auf sein Erscheinungsbild. Der 28-Jährige gilt als hochbegabt. Aber auch sein überdurchschnittlicher Intelligenzquotient von 158 garantiere ihm keine goldene Zukunft, sagt er:
    "Meine Familie ist keine normale Familie, wie andere.Sie denken, ich als Mann könne mich schon durchschlagen und denken nicht daran, dass ich ihre Hilfe brauchen könnte."
    Lorenzo spricht nicht gerne über seine Kindheit. Seinen Vater habe er nie gekannt, sagt er, in der Schule habe er so viele Probleme mit Lehrern und Mitschülern gehabt, dass er die Schule mit 12 Jahren abgebrochen habe. Erst jetzt, im Selbststudium, habe er die Examen für die Sekundärstufe abgelegt.
    "Ich hoffe sehr auf Sozialhilfe. Wenn sie mir einmal gezahlt wird, will ich studieren. Informatik, Computersicherheit, Verschlüsselungssysteme. Mir gefällt die Mathematik sehr!"
    Doch vielen Obdachlosen wird die Sozialhilfe verweigert, weil sie keine Meldeadresse haben. Zudem lassen die Behörden die Anträge bei knapper Haushaltslage oft lange Zeit unbearbeitet. Und so stehen auch hinter dem Opernhaus wieder viele Menschen um Brote und heiße Getränke an, die die Helfer ausgeben. Auf einer Bank sitzt die 60-jährige Maravillas mit einem heißen Kakao. An Weihnachten würde sie gerne mit ihrem Sohn essen, überlegt die ehemalige Sekretärin, meint dann aber traurig:
    "Ich werde in die Armenküche gehen. Ja. Zu den Leuten, die so sind wie ich. Arm."