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Objektives Erinnern ist eine Illusion

2002 hat Grégoire Bouillier in Frankreich für einiges Aufsehen gesorgt: mit seinem "Bericht über mich", in dem er schonungslos seine Kindheit in den 60er- und 70er-Jahren erzählt. Die deutsche Übersetzung ist jetzt unter dem Titel "Ich über mich" erschienen.

Von Christoph Vormweg | 06.07.2010
    Grégoire Bouillier lässt keinen Zweifel: Sein Bericht "Ich über mich" sei zu 100 Prozent autobiografisch. Doch haben wir es weder mit einem wehmütigen Nabelschauer noch mit einem selbstherrlichen Memoirenschreiber zu tun. Denn der 1960 geborene Wissenschaftsjournalist, der in seiner Freizeit malt und schreibt, weiß: Objektives Erinnern ist eine Illusion.

    "Literatur, glaube ich, beruht auf Erfahrung, auf dem, was wir erleben, was wir wirklich empfinden. Mit Worten können wir das rekonstruieren. Eigenartig ist nur, wenn man dann feststellt, dass diese Wirklichkeit mit Fiktionen kontaminiert ist: zum Beispiel mit Leseerfahrungen. So entsteht eine Art Kreislauf, der dazu führt, dass die Wirklichkeit nicht genau das ist, was wir dafür halten. Sie ist ihrerseits auch eine Fiktion."

    Für Grégoire Bouillier ist die Realität Literatur und – umgekehrt – die Literatur Realität. Denn wer sein Leben rekapituliert, bewegt sich in einem diffusen Grenzbereich: zwischen scheinbaren Tatsachen und erinnerten Fantasien. Schon deshalb ist die Chronologie seiner Lebensgeschichte vielfach gebrochen. Wir titschen durch die Zeiten: hin und her zwischen Kindheits- und Jugenderlebnissen der 60er- und 70er-Jahre und ihren Spätfolgen für den Erwachsenen. Grégoire Bouilliers Resonanzboden ist dabei die Sprache - oder besser: die Spuren, die jede Erfahrung im individuellen Sprachhaushalt eingraviert hat. Nur ein Beispiel: die Doppelbedeutung des Französischen "la quarantaine". Aus der traumatischen Quarantäneerfahrung als krankes Kind folgert Grégoire, dass er mit 40 ein Buch schreiben würde.
    Ein Wort mit elf Buchstaben zog also die Grenzen meiner Welt. Als mir klar wurde, dass Sprache mein Leben strukturierte, war ich niedergeschmettert.

    Es sind Zwangsvorstellungen, die dem Bericht "Ich über mich" seine geheimnisvolle, originelle Struktur verleihen. Auch die Zeitdimensionen können sich aufblähen oder zusammenschrumpfen. So kann ein Nachmittag plötzlich "100 Jahre Existenz in sich vereinen" - oder ein Familiendrama zu einer kruden Feststellung vereisen. Die Freiräume, die zwischen den kurzen Textblöcken aufreißen, und die Lakonik vieler Beschreibungen erzeugen dabei eine ganz eigenwillige Komik. So kann Grégoire Bouillier im ersten Satz feststellen, "eine glückliche Kindheit" gehabt zu haben, um zehn Zeilen später einen Selbstmordversuch seiner Mutter zu beschreiben. Und zwei Seiten weiter erfahren wir, dass er bei einem flotten Dreier in Algerien gezeugt wurde.

    "Ich denke, das ist eine Erzählstrategie, fast eine Überlebensstrategie. Wenn man die Dinge in ihrer Dramatik unmittelbar darstellt, dann wirkt das schnell pathetisch. Ohne die nötige Distanz erschiene alles schrecklich traurig. Ja, erst die Distanz gestattet uns überhaupt, die Dinge zu erfassen. Gerade Humor und Selbstironie erlauben, die Traurigkeit zu transzendieren und zu einem objektiveren Blick zu gelangen."

    Im Rückblick sieht der vierzigjährige Grégoire Bouillier überall die Strukturen wachsen. So bildet er sich ein, dass "die Liebe auch eine Frage der Vokale" sei. Denn nur die Frauen mit einem "i" in der letzten Silbe des Vornamens hätten ihm Glück gebracht. Oder er glaubt, dass sich in Homers "Odyssee" Analogien zu seinem eigenen Werdegang fänden, ja, dass sie der Schlüssel zu seiner Existenz seien. Mit einem Wort: Grégoire Bouillier ist ziemlich durchgeknallt und dabei hochintelligent. Er bastelt sich eine Mythologie um die eigene Person zusammen - mal reflektierend, mal zügig erzählend. Gewaltausbrüche gehören genauso zu seiner Geschichte wie schonungslos dargestellte sexuelle Erfahrungen. Entscheidend aber ist: Als Kind hat Grégoire nach einer Krankheit den Geruchssinn verloren. Seine beste Schulnote aber bekam er für die Beschreibung der "berauschenden Düfte" eines Bazars in Marrakesch.

    "'Ich über mich' hatte in Frankreich ein bisschen Erfolg. Der Roman wurde mit einem Preis ausgezeichnet. Es stellte sich also die Frage, ob jemand, der ein so extrem autobiografisches Buch geschrieben hat, das sehr weit geht und ziemlich hart ist, auch weiter schreibt. Ich erinnere mich, wie ich im Café zufällig ein Gespräch mit angehört habe. Eine Frau, die übrigens sehr hübsch war, fand mein Buch wirklich gut. Aber sie sagte, das sei eine Eintagsfliege. So einer schreibe nur ein Buch, das sei kein richtiger Schriftsteller. Das hat mich so aufgeregt, dass ich 'Der Überraschungsgast' geschrieben habe. Ich wollte beweisen, dass ich ein Buch schreiben könnte, das nicht im selben Ton ist und das zeigt, dass auch etwas Literarisches in der Arbeit steckt, die ich mache."

    "Der Überraschungsgast" ist bereits vor zwei Jahren auf Deutsch erschienen. Und Grégoire Bouillier hat in diesem ebenfalls autobiografischen Buch seine literarischen Kapazitäten bestätigt: mit dem Ausbau der unterschwelligen literarischen Querverweise genauso wie mit dem Wechsel von lakonischer Prosa zu genau austarierten Langsätzen. Sein Erstling "Ich über mich" erscheint im Vergleich chaotischer, sprunghafter, sperriger. Doch auch wenn Grégoire Bouillier nur seine eigene Lebensgeschichte besichtigt: Er fixiert immer die aufschlussreichen, diffusen Momente, wo der Alltag entgleitet, wo die Emotionen sich auf keine Normalität mehr verlassen können. So küsst er mit siebzehn einmal seine Mutter mit aller Lüsternheit. Doch die erwartete Strafe Gottes kommt nicht.

    Die Welt bleibt gleich, und ich bin immer noch ihr Gefangener. Mein Eingreifen hat nichts genützt. Keinerlei Beben hervorgerufen. Ich bin immer noch ich selbst.

    Grégoire Bouillier: "Ich über mich."
    Aus dem Französischen von Oliver Ilan Schulz.
    Nagel & Kimche Verlag, München 2010.
    160 Seiten, 15,90 Euro.