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Occupy von innen

"Wir sind die 99 Prozent", heißt der berühmte Slogan von Occupy Wall Street. Der Anthropologe und Anarchist David Graeber hat ihn mitgeprägt. Sein Buch "Schulden – Die ersten 5000 Jahre" gilt als Bibel der Occupy-Bewegung.

Von Annette Brüggemann | 31.05.2012
    "Mich hat die moralische Macht von Schulden interessiert. Als ich anfing darüber nachzudenken, fiel mir auf, dass Schulden fast jedem Aspekt unseres Lebens zugrunde liegen. Unsere Verbrauchermärkte, modernen Staaten und internationalen Beziehungen sind von Schulden dominiert. Dabei wissen wir gar nicht, was Schulden wirklich sind! Niemand hat bisher eine Geschichte der Schulden geschrieben und das ist, wenn du mal darüber nachdenkst, doch sehr überraschend, weil es kaum etwas gibt, über das keine Geschichte geschrieben wurde. Es gibt Bücher über die Geschichte des Salz, über die Geschichte bestimmter Fischarten, über alles, was du dir vorstellen kannst. Nur eine Geschichte der Schulden, die gibt es noch nicht."

    David Graeber ist da – zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort. Sein Buch ist mehr als eine Geschichte der Schulden. Es blickt als Anthropologe auf unsere Finanzmärkte, als wären Kredit- und Warenderivate, hypothekenbesicherte Schuldderivate, Hybridanleihen und Kreditausfallswaps die selbstzerstörerischen Erfindungen eines wilden Großstadtvolks, das jegliches Gespür für physische Grenzen verloren hat. Nur in wenigen Jahren wird es dramatische Umbrüche geben, ist David Graeber überzeugt. Und weil er nicht möchte, dass das, was danach kommt, noch schlimmer wird, will er aufrütteln und Aufklärung leisten. Seitdem im letzten Jahr sein "Schulden"-Buch in den USA erschienen ist, seitdem er mit anderen Occupy-Aktivisten ein Camp im Zucotti Park in New York aufgeschlagen hat – ist er zum intellektuellen Protestschild einer jungen, systemkritischen Bewegung geworden.

    Und siehe da: Die kapitalistische Matrix, die seine Bücher mit Vorschüssen finanziert, produziert und vermarktet, läuft wie eine gut geölte Maschine. Sein "Schulden"-Bestseller wird nach seinem überraschenden USA-Erfolg in mehrere Sprachen übersetzt. Allein in Deutschland war die erste Auflage von 10.000 Exemplaren sofort weg. Rund 30.000 Exemplare, sollen sich laut Verlag, in nur wenigen Tagen verkauft haben. Bei Amazon werden – neben seinem "Schulden"-Bestseller - seine Bücher im Dreierpack angeboten: "Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System", plus "Frei von Herrschaft – Fragmente einer anarchistischen Anthropologie", plus "inside occupy".

    Und schon muss sich David Graeber im Spiegel-Interview rechtfertigen, warum er auf seiner Lesereise in Fünf-Sterne-Superior-Hotels logiert - wäre ein Zelt nicht authentischer? Das ist ungefähr so, als würde man einen Apachen fragen, wo er sein Wigwam gelassen hat. Als wäre Occupy im Umkehrschluss nichts weiter als Folklore. Und natürlich war das vom Interviewer nur als Witz gemeint.

    David Graeber reagiert auf solche absurden Journalistenfragen mit direkten Spontan-Aktionen. Er twittert Fotos seiner hippen Art-Deco-Hotels. Auch ein Foto seiner hellbraunen Leder-Schuhe auf dem blauen Teppichboden seines Hotelzimmers darunter. Das sei für seinen Style-Berater gewesen, erklärt er mir, der habe wissen wollen, ob seine Schuhe zu seinem abendlichen Outfit passen. Subversiver Humor gehört zu David Graebers Stärken.
    Auch wenn ihm derzeit in Deutschland der rote Teppich ausgerollt wird - sein Weg als Uniprofessor und sozialer und politischer Aktivist war alles andere als von Rosen gesäumt. Er nahm 2002 an den Protesten des World Economic Forum in New York City teil, war Teil des Global Justice Movement und ist immer noch Mitglied der Gewerkschaft Industrial Workers of the World und der Internationalen Organisation für eine Partizipatorische Gesellschaft. Bis Juni 2007 war David Graeber Professor für Ethnologie an der Yale University. Dort wurde die umstrittene Entscheidung getroffen, seinen Vertrag nicht zu verlängern. Seitdem lehrt er Ethnologie am Goldsmiths College der University of London. Und arbeitet an der Herausgabe zweier neuer Bücher: "Reinventing Revolution" – "Revolution neu erfinden" und "Direct Action: An Ethnography" - "Direkte Handlungen: eine Ethnographie".

    In der Zwischenzeit reist er von Deutschland über Israel nach Griechenland und Ägypten, um über Occupy und sein "Schulden"-Buch zu sprechen.

    "Schulden sind ganz einfach ein Versprechen. Sie galten als heilig, weil Versprechen heilig waren. Alle Gesellschaften beruhen auf Versprechen. Und trotzdem haben Schulden eine besondere Geschichte. Sie haben sich die Macht der Moral und noch mehr zunutze gemacht. In meinem Buch formuliere ich es so, dass Schulden Versprechen sind, die von Mathematik und Gewalt korrumpiert wurden. Es ist genau diese Kombination. Die Tatsache, dass Schulden unpersönlich, quantifizierbar und von uns entfremdet wurden. Du kannst heute Schulden von einer Person auf die andere transferieren. Geld ist genau diese übertragene Schuld. Damit werden Gewalt-Beziehungen auf scheinbar anständige Weise legitimiert."

    Es sind diese Gedankengänge über die Transformation von Versprechen in Kapital, bei denen man beim Lesen des Buches den Atem anhält. Spannend wie in einem Krimi entblättert David Graeber die spirituelle, moralische und politische Dimension von Schulden über 5000 Jahre hinweg – als Schuld gegenüber den Göttern, der Gesellschaft, den Banken, dem Staat. Welche Konsequenzen haben Schulden für unser menschliches Zusammenleben? Auf welchen Säulen und Mythen wurde unser heutiges Wirtschaftssystem erbaut?

    Eine Entmystifizierung gehört zu den größten Stärken von David Graebers Buch. Direkt im ersten Kapitel räumt er auf mit dem Gründungsmythos der Ökonomie. Der britische Philosoph und Ökonom Adam Smith hat im 18. Jahrhundert das Märchen vom friedlichen Tauschhandel in die Welt gesetzt. Als hätte es einst ein Dorf gegeben, in dem Menschen untereinander Hühnereier und Wolle tauschten und - um den Handel zu vereinfachen - das Münzgeld erfanden.

    Smiths Theorie wird heute noch vom ökonomischen Mainstream vertreten. David Graeber hat dafür nur ein müdes Lächeln übrig. Früheste Quellen belegen, dass Schulden umgerechnet wurden in Kredite – und deren Nicht-Einhaltung hart sanktioniert wurde. Das zeigen erste Rechtssysteme in nichtstaatlichen Gemeinschaften:

    "Es gab schon immer ausgefeilte Listen von Sanktionen und Strafen. Das macht Sinn, wenn du mal darüber nachdenkst. Menschen tun einander Gefallen. Menschen schulden einander was. Und wenn es zu einem Streit kommt, wird juristisch eingegriffen. So entschied damals zum Beispiel ein Gericht: Wenn du jemandem das linke Ohr abschneidest, schuldest du diesem Menschen 27 junge Kühe. Verweigerst du die 27 Kühe, gibt es Krieg. Hast du keine Kühe, musst du dir einen guten Ersatz als Wiedergutmachung überlegen. Somit schienen Menschen, zumindest in potentiellen Gewaltsituationen, sehr früh über genaue Äquivalente für Schulden nachgedacht zu haben. Und Schulden wurden zu etwas, was genau bemessen werden kann."

    David Graeber spricht von einer umfassenden Ökonomisierung sozialer Beziehungen, die klar macht, dass es um weit mehr als um einen idyllischen Tauschhandel geht. Es geht um Moral, Gerechtigkeit und Macht und darum, was passiert, wenn wir moralische Verpflichtungen auf Schulden reduzieren.

    Genau diese Mechanismen seziert David Graeber wie bei einem kranken Patienten. Mit der Expansion antiker Imperien habe sich ein "militärischer Münzgeld- und Sklaverei-Komplex" entwickelt, der Menschen, um Kriege zu finanzieren, zu Sklaven des Geldes gemacht habe. Und Sklaven seien wir im gewissen Sinne heute noch, - nicht nur, weil eine kapitalistische Großmacht wie die USA heute noch Kriege führe, die wir mitfinanzieren. Sondern, weil wir, so Graeber, eine Schuld bezahlen müssten, für die unser Leben gar nicht ausreicht.

    Wer schuldet wem wirklich was? Und warum glauben wir überhaupt, dass wir Schulden zurückzahlen müssen? – lauten seine Leitfragen.
    Trillionen virtueller Schulden haben für David Graeber ihre Legitimation verloren. Das Gespenst des Kapitals gehe um, während Menschen in der Dritten Welt verhungern und sterben. Das könne nichts mehr mit der Logik von Märkten und Wissenschaft zu tun haben, das sei pure Theologie. Und der will Graeber einen Strich durch die Rechnung machen – mit einem generellen Schuldenerlass:

    "Auf gewisse Weise benutzen wir immer noch die alten Kategorien aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert. Wir glauben, auch wenn Geld nicht Gold oder Silber ist, wäre es nur eine Sache, ein limitiertes Gut. Darum wird dauernd geklagt, dass uns das Geld ausgehe. Dabei ist Geld in Zeiten von virtuellem Kreditgeld, wie wir es momentan erneut erleben, in besonderem Maße ein Versprechen. Es ist ein soziales Versprechen unserer Gesellschaft an uns. Da dachte ich, die Idee eines Ablassjahrs für alle könnte doch genau dieses Versprechen einlösen. Aber 2008 haben wir gesehen, dass das nur für einige, wenige Menschen zutrifft. In dieser schrecklich schizophrenen Situation haben Menschen an der Spitze des Finanzsystems sich so verhalten, als könne Geld beliebig vermehrt oder nachjustiert werden. Gewöhnliche Leute aber steckten noch im 17. Jahrhundert fest. Deshalb glaube ich nicht, dass wir ein völlig neues ökonomisches System entwickeln müssen. Ein genereller Schuldenerlass würde zeigen, dass wir bereits in einem alternativen System leben."

    Die negativen Auswirkungen eines unkontrollierten Schuldenschnitts haben wir 2008 erlebt. Die big Player haben ihre Schulden bis heute nicht zurückgezahlt. Stattdessen wurden ihre Schulden verstaatlicht und kollektiviert, während Gewinne weiterhin personalisiert werden. Too big to fail? Genau das zeige in David Graebers Augen doch, dass ein Schuldenerlass möglich ist. Nur sollte er nicht nur möglich sein für 1 Prozent der Bevölkerung, sondern für alle. "Wir sind die 99 Prozent!” wurde zum wütenden Protestschrei von Occupy Wall Street. In seinem Buch "inside occupy" erzählt David Graeber von den Anfängen, Visionen und Strategien einer jungen, weltweit gewachsenen Bewegung:

    "Wir versuchen uns mit Occupy nicht in die politischen Strukturen Amerikas zu integrieren, weil wir sie von Grund auf für korrupt halten. Occupy begann mit unserer Idee der 99 Prozent, weil die restlichen 1 Prozent nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische Größe sind. Diese 1 Prozent der Bevölkerung schaffen es immer wieder, Reichtum in Macht zu verwandeln."

    "Löscht alle Schulden, und verteilt das Land neu" lautete das Programm aller revolutionären Bewegungen der Antike, sagt der Althistoriker Moses Finley. Mit seiner Staats- und Finanzkrise tritt Griechenland zurück in die antiken Fußstapfen. Auch Spanien und Portugal, heißt es, könnten ohne einen Haircut vielleicht nicht mehr richtig wachsen.
    David Graeber glaubt nicht mehr an Wachstum. Mit Finanztransaktions- oder Reichensteuern könne man den Patienten nicht retten. Nur ein einmaliger Schuldenerlass und eine gleichzeitige Neugestaltung unserer Demokratie können Schlimmeres verhindern. Es ist die einzige und letzte Lösung, die David Graeber uns nach über 400 Seiten "Schulden"-Historie anbietet.
    In den Zelten von Occupy hat er diese Vision zum Experiment gemacht. In seinem Buch "inside occupy" erzählt er von der Unschuld eines Neuanfangs:

    "Es ist lustig, du machst weiter, Jahr für Jahr, und organisierst dein Leben um etwas herum, was passieren könnte. An einem bestimmten Punkt glaubst du es schon nicht mehr und dann, plötzlich, passiert es (lacht). Vieles in dem Buch kreist darum, selbst zu verstehen: Warum hat es diesmal geklappt? Es war genau das, was wir erreichen wollten: Die Demonstration einer neuen Form von Demokratie."


    "inside occupy" liest sich nicht nur wie ein Erfahrungsbericht mit konkreten Erkenntnissen, sondern wie ein praktischer Revolutionsführer. Die sogenannte "General Assembly" – die "Vollversammlung" - in und mit der alle Aktionen organisiert wurden, wird als wichtigstes Organ von Occupy beschrieben. Vom Kern her anarchistisch, ohne Hierarchien und Redeführer, dem Konsens verpflichtet. Von seinem Vater hat David Graeber die Idee, dass Anarchie funktionieren kann. Dieser war als Amerikaner in den Spanischen Bürgerkrieg gezogen und hat dort auf der Seite der Anarchisten gekämpft. Und der russische Anarchist Kropotkin - der 1902 das Werk "Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt" schrieb -hat David Graeber, wie er sagt, sehr geprägt. Vor allem seine Haltung zum Kommunismus als natürliche, alltägliche Kooperation. Wie schade, dass David Graeber Kropotkin in seinen Büchern nicht erwähnt.

    Er durchschreitet das brisanteste Thema unserer Zeit – Schulden - wie einen neu zu entdeckenden, uralten Kontinent. Er macht moralische Verstrickungen deutlich und hat den Mut, große Fragen zu stellen – outside the box. Er bietet keine eingängige Lösung, kein simples Rezept. Stattdessen öffnet er den Blick dafür, dass wir es sind, die die Welt gestalten. Wir sind die 99 Prozent. Das ist radikal und befreiend. Ebenso radikal lehnt David Graeber die Erfolgsgeschichte des Kapitalismus ab, solange unser Wohlstand auf Schuldenbergen und Ausbeutung beruht.
    Nur mit einer Expansion in den Weltraum könne der gefräßigen kapitalistischen Maschine, scherzt Graeber, noch zu helfen sein. Sollte die Kolonisation eines neuen Planeten gelingen, gehören seine Bücher hoffentlich zum Reisegepäck.

    Literaturhinweis:
    David Graeber: "inside occupy", aus dem Englischen von Bernhard Schmid, 200 Seiten, (mit Fotos und einem 24-seitigen "Revolutionsguide"-Booklet), EAN 978-3-593-39719-1. 14,99 Euro

    David Graeber: "Schulden – Die ersten 5000 Jahre", aus dem Amerikanischen von Ursel Schäfer, Hans Freundl und Stephan Gebauer,. 536 Seiten, ISBN 978-3-608-94767-0, 26,95 Euro

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