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Ocean Vuong: "Nachthimmel mit Austrittswunden"
Von Liebe und Krieg

Nach seinem hochpoetischen Roman "Auf Erden sind wir kurz grandios" ist nun auch der gefeierte Gedichtband des jungen vietnamesisch-amerikanischen Schriftstellers Ocean Vuong in deutscher Übersetzung erschienen. Und auch hier geht es um eine zerrissene Identität, um Herkunft und Sexualität.

Von Dorothea Dieckmann | 26.05.2020
Ocean Vuong und sein Buch "Nachthimmel mit Austrittswunden"
Ocean Vuong - Verse voller Sinnlichkeit und Schmerz (Buchcover: Hanser Verlag, Foto: Hanser Verlag / Tom Hines)
Der Satz von Arthur Rimbaud "Ich ist ein Anderer" prägt eine poetische Grundformel. "Je est un autre", dieses Paradox, dem sich selbst die Grammatik beugen muss, markiert den Urimpuls aller gestaltenden Tätigkeit in einem Riss – zwischen Sein und Sprache, Gefühl und Ausdruck, Körper und Kultur, Welt und Wahrnehmung, Ich und Nicht-Ich. Wenn aus der Andersheit Erkenntnis entsteht, dann schöpft der junge vietnamesisch-amerikanische Schriftsteller Ocean Vuong aus vielen Quellen. Eine ist die gespaltene Identität des Einwandererkindes; sie manifestiert sich schon in seinem Vornamen, den er einmal so erklärte:
"Als wir in die USA kamen, entschied meine Mutter, mir einen neuen Namen zu geben, um ihre Unabhängigkeit von ihrem [geschiedenen] Mann zu bekräftigen. Später erzählte sie mir, sie habe Ocean gewählt, weil wir, wie der Pazifische Ozean, weder in den Vereinigten Staaten noch in Vietnam zuhause sind."
Meerwasser im Einschussloch
Aus dieser und anderen Quellen – seiner schwulen Sexualität, dem Aufwachsen in der illiteraten Working-Class und einem doppelt gebrochenen Verhältnis zur Sprache – gewinnt Vuongs Roman "Auf Erden sind wir kurz grandios", ein Leuchtsignal in der amerikanischen und hiesigen Literatur des vergangenen Jahres, seine außergewöhnliche poetische Kraft. Drei Jahre zuvor war der erste große Gedichtband des jungen Lyrikers erschienen; nun enthüllt die deutsche Fassung "Nachthimmel mit Austrittswunden" eine Fülle von Parallelen zum Roman. Dieser hat die Form eines Briefs an die Mutter, die ihn nie wird lesen können. In den Gedichten dominiert dagegen die Figur des fernen Vaters; er präfiguriert das männliche Wunschziel, Spiegelung, Bedrohung und Vereinigung:
"Wie jeder gute Sohn ziehe ich meinen Vater aus
dem Wasser, schleife ihn an den Haaren
durch weißen Sand (...).
(...) Ich knie bei ihm, zu sehen, wie tief
ich sinken mag. Erkennst du mich,
Ba? Doch die Antwort bleibt aus. Die Antwort
ist das Einschussloch in seinem Rücken, das überfließt
von Meerwasser. (...)
(...) Das Gesicht
nicht meines – doch eins, das ich tragen werde
wenn ich all meine Geliebten zur Nacht küsse:
so auch versiegele ich meines Vaters Lippen
mit meinen & mache mich
an die getreue Arbeit des Ertrinkens."
"Telemach" ist der Titel dieser Begegnung des Sohns mit dem gestrandeten Kriegsheimkehrer Odysseus: Er birgt den toten Vater und besiegelt mit dem Kuss das Versprechen, ihm nachzufolgen. In der "Arbeit des Ertrinkens" verbindet sich die Versenkung in der Liebe mit dem Schreiben, von dem es im Roman heißt:
"Das ist Schreiben, (...) so tief herunterzugehen, dass die Welt einen gnädigen neuen Blickwinkel offenbart (...)."
Flammenkleid und Bombenkrater
Doch das Wasser fließt aus einer Schusswunde, denn vor der Odyssee liegt die Ilias, wie der Vietnamkrieg vor der Flucht der Eltern. Der Krieg, in dem das brennende Saigon zum brennenden Troja wird, durchzieht die Gedichte zugleich mit der Liebe. Denn der tiefste Riss in Vuongs Biographie ist die Gleichursprünglichkeit von Liebe und Krieg. Sein Leben verdankt er der Beziehung zwischen seiner Großmutter und einem amerikanischen GI: "Keine Bomben = keine Familie = kein Ich." Und so verschränken sich die Bilder. Im Gedicht "Trojaner" tanzt ein Junge im flammend roten Kleid seiner Mutter. Ein Liebesgedicht heißt "Brandstifter", ein anderes ist einem Männerpaar gewidmet, das in Dallas einem schwulenfeindlichen Brandanschlag zum Opfer fiel. Ein Liebesakt der Eltern findet in einem Bombenkrater statt. Die Zunge, zugleich Inbild des Eros und der bezeugenden Sprache, ist mal ein Messer, mal ein brennendes Streichholz. Nicht nur das Feuer, sondern auch das Gewehr wird zum erotischen Sinnbild:
"(...) Ich halte den Revolver
& frage mich, ob ein Einschuss in der Nacht
ein Loch, so weit wie der Morgen, machen würde. Und wenn
ich hindurchblicke, sähe ich (...)
(...) einen Mann auf den Knien
am Bett des Jungen, (...) als er seine Arme um
die milchblauen Schultern des Jungen schlingt. Der so tut,
als schliefe er, da sein Vater ihn zu fest umschließt.
Wie der Lauf sich, auf den Himmel gerichtet, um die Kugel
schließen muss
damit sie spricht"
Doch das bedeutet keine Analogie zwischen Krieg und Liebe. In einem Interview sagte Ocean Vuong, beim Schreiben interessiere ihn weniger der Zorn als das, was ihm folge, nämlich care – die Sorge um Heilung. Im Gedicht "Anapher als Bewältigungsstrategie" lässt er einen toten Freund im wiederholten "Er stirbt, er stirbt" wieder auferstehen; ein anderes nimmt eine Szene des Romans vorweg, in der die Mutter, Angestellte in einem Nagelstudio, die Phantomwade einer beinamputierten Frau massiert:
"(...) ihre Beinprothese auf dem Nachttisch,
das Klick-klack, wenn sie bis zum Rand vollläuft.
(...) & wie
hätte ich wissen sollen, dass ich mit Aufsetzen
dieses Stifts auf Papier uns Mal um Mal
vor Auslöschung bewahrte?
(...) Tinte in die Form
einer Frauenwade gegossen (...)."
Ein Zuhause in der mütterlichen Sprache
Wie der Vater-Mann das Begehren, so verkörpert die Mutter-Frau die Sprache. Sie, die Analphabetin, hat mit anderen weiblichen Verwandten dem Flüchtlingskind den Zugang zur Sprache eröffnet. Es fand in den in einfachem Vietnamesisch erzählten Geschichten ein – und sei es brennendes – Zuhause. Durch die Mutter werden die Worte lebendig, wie in "Die Gabe", wo ihr der Sohn das Alphabet beibringt und eine ihrer Haarsträhnen von der Form eines Buchstabens aufs Papier fällt, sodass sie "lebte / ohne einen Laut. Wie ein Wort. / Ich höre es noch." Zum Vater gehören die Augen und die Hände, der Mund ist Erbe der Mutter. In dem Trostgedicht "Eines Tages werde ich Ocean Vuong lieben" heißt es:
"Du batest um eine zweite Chance
& bekamst den Mund, dich auszuleeren."
Vuongs Sprache ist zugleich üppig und diszipliniert in ihren starken Bildern und Metamorphosen, den Verweisen von Homer bis Rilke – Traditionen, die darüber hinwegtäuschen können, dass er keineswegs immer einen gehobenen Ton anschlägt. Leider geschieht in der Übersetzung durchweg genau dies; aus listen wird "erlauschen", aus hear "vernehmen", aus smell "wittern", aus make gar "schmieden". Dazu passt, dass die unübersetzbare Assonanz von Say Amen. Say amend - also etwa "ändern/abändern" - mit einem pathetischen "Sag Amen. Sag Erbarmen" wiedergegeben wird – oder die grobe Fehlleistung, das Wort für die Sprache American mit "Englisch" zu übersetzen. Vuongs Amerikanisch ist ungleich variabler als die deutsche Version. Das zeigt auch die Formenvielfalt seiner Gedichte, von Notizbuchfragmenten über das Haibun bis zu einem nur aus Anmerkungen bestehenden Gedicht. Dabei ist Vuong alles andere als ein Konstruktivist und Sprachspieler. Für seine Lyrik gilt, was er in "Auf Erden sind wir kurz grandios" so formulierte:
"Ist das vielleicht Kunst? Wenn man berührt wird und glaubt, dieses Gefühl gehöre einem selbst, wenn es doch eigentlich jemand anders war, der uns durch sein Verlangen findet?"
Ocean Vuong: "Nachthimmel mit Austrittswunden"
Gedichte, zweisprachig
aus dem Englischen von Ann-Kristin Mittag
Hanser Verlag, München. 232 Seiten, 19 Euro.