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Ode an das Ungewisse

Viele Fragen wirft Autorin A.L Kennedy in ihrem Kurzgeschichtenband "Was wird" auf. Antworten bekommen zumindest die Protagonisten aber meist nicht. Was wird aus der Frau, die das nächtliche Telefonklingeln ignoriert? Was wird aus der Mutter, die den Vater ihrer Kinder vor seiner Geschäftsreise verabschiedet? Was wird? Was wird? Was wird?

Von Simone Hamm | 08.02.2010
    Was wird aus dem einsamen Mann im dunklen Kinosaal, der sein Handy abstellt, damit er nicht hört, wie es nicht klingelt? Was wird aus dem Paar, das, finanziell ruiniert, in ein exquisites japanisches Restaurant geht, sich freut am Ambiente, an den Speisen, an deren Darbietung? Was wird aus der Frau, deren Telefon nachts klingelt? Sie hebt nicht ab, zieht den Stecker aus der Buchse. Ist es ihr Liebhaber, der sie anruft? Dessen gekränkte Ehefrau? Schlaflosigkeit ist alles, was ihr bleibt. Was wird aus der Mutter, deren Söhne sich an die Hosenbeine des Vaters klammern, damit er nach dem Frühstück noch ein bisschen bleibt? Sie ahnt, sie fühlt, dass er von dieser Dienstreise nicht zurückkommen wird.

    "Sie steht auf der Türschwelle und wappnet sich. Dies ist eine Art, darauf vorbereitet zu sein, wenn er schließlich nicht mehr zurückkommt."

    Zwölf Mal fragt A.L. Kennedy "Was wird"? "Was wird" heißt ihr Kurzgeschichtenband. Geschliffen-scharf-kalt sind ihre Sätze. Viel Hoffnung auf die Liebe, auf ein "Alles wird gut" macht sie nicht. Und Antworten gibt sie schon gar nicht.

    Es sind fast immer alltägliche Begebenheiten, die A.L. Kennedy in ihrer leisen, trockenen Sprache schildert, nichts von Belang. Nicht den Krieg und dessen Grausamkeit lässt sie heraufziehen, nein, sie zeigt badende Männer. Weil sie Männer waren, sind sie in den Krieg gezogen, verwundet an Körper und Seele kehrten sie zurück, Männer, die dem Krieg ins öffentliche Schwimmbad tragen. Hier treffen sie sich, machen ihre Versehrtheit, ihre fehlenden Gliedmaßen sichtbar. Sie sind der Schrecken der Badenden.

    In allen anderen Geschichten aber sind es nicht Tod und Teufel, die ein Leben durcheinander bringen. Und es geschieht nicht plötzlich. Es sind lieblose Ehen, freudloser Sex, Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Angst. Eine kurze Zeit, meist nur wenige Stunden, blickt A.L. Kennedy auf diese Leben. Sie habe ein Buch schreiben wollen, sagt die Autorin, das Menschen zeige, deren Herz gebrochen sei. Sie blickt auf ihre Protagonisten nicht nur mit Klarheit und Schärfe, sondern immer auch mit Mitgefühl. Und mit sehr schwarzem Humor.

    Was wird aus der Frau, die sich in einem Salzwassertank entspannen will und heimgesucht wird von den schlimmsten Ängsten aus der Vergangenheit, die sie doch längst begraben geglaubt hatte? A.L. Kennedy ist eine Meisterin des inneren Monologes. Es sind die Gedanken der jungen Frau, die im floating tank fließen. Gedanken, Assoziationen, Erinnerungsfetzen, Hoffnungen. Sie glaubt, dass sie aus Wortträumen bestehe. Sie zitiert sinnlose Redensarten wie "mehr Geld als Verstand". Sie erinnert sich an einen siebenjährigen Jungen, der ihr seinen Hamster auf den Bauch setzte. Und an dessen Vater:

    "Ich steckte fast ein Endzeitalter mit ihm in einer Ecke fest. Während er über seine wahrscheinlich mythische Italienreise salbaderte, als er noch jung und unverheiratet war, und er gab sich äußerste Mühe, jedes italienische Wort so auszusprechen wie ein Kellner in einer Fernsehkomödie, und er neigte sich nah zu mir und setzte immer wieder so ein angestrengtes Lächeln auf, das wohl andeuten sollte, was für ein schneidiger Bursche und Schwerenöter er einmal gewesen sei und jederzeit wieder werden konnte, wenn ihn nur ein billiges Motelzimmer und ein freier Nachmittag befeuern würden. Er war so ein Billigmotel-Ehebrecher. Nicht etwas aus interessanten oder perversen Gründen – nur um Geld zu sparen."

    Der Billigmotel-Ehebrecher hat eine Frau mit toten Augen und schrecklichem Lächeln, aber, er hat das aus ihr gemacht, sowie sie aus ihm einen klebefingrigen Betrüger gemacht hatte. Sie verdienen einander. Die Frau im Tank erinnert sich, wie sie dem Billigmotel–Ehebrecher zuhörte, weil sie niemand anderen zum Zuhören hat, steigt tiefer hinab in ihre Erinnerungen, sieht sich als lachendes, boshaftes Kind, hört die Mutter aufjaulen, wenn der Vater sie schlägt. Sie beginnt zu weinen. Sie möchte glücklich sein, geliebt werden, eine Familie gründen, ohne Familie sein, den vollkommenen Schmerz finden. Ihre Gedanken überschlagen sich. Sie wünscht sich staubige Schuhe. Und mit diesem letzten Bild lässt A.L. Kennedy ihre Geschichte "Samstags spätnachmittags" enden. Nichts ist geschehen, eine Frau lag in einem floating tank. Völlig unspektakulär. Und doch hat sie in diesem Tank eine Stunde der wahren Empfindung erlebt, ist sich selbst näher gekommen.

    Jemand schneidet sich tief in den Finger. Eine Frau kommt mit schmerzendem Kiefer, dicker Zunge und blutigen Lippen vom Zahnarzt. Doch dies sind natürlich nur die oberflächlichen Verletzungen. Die Personen bei A.L. Kennedy machen sich etwas vor, täuschen sich selbst. Die einsame Frau, die sich mit dem Fremden von der Hotelbar einlässt, mit ihm eine rauschende, heftige, zarte, brutale Liebesnacht erlebt, und so tut, als sei das genau das, was sie wolle, mag einem Klischee entsprechen – und doch rührt sie die Leser in ihrer schieren Verzweiflung, die sie umdeutet in Wollust.

    A.L. Kennedy ist gnadenlos mit ihren Personen.
    Auch der von seiner Freundin verlassene Mann will getäuscht sein. Er bezahlt sogar dafür, macht sich auf und geht in die Show eines berühmten Magiers. Und dann blitzt auf einmal eine Art Erkenntnis auf.

    "Aus irgendeinem Grunde hatte er vergessen, dass nichts das Single-Dasein schlimmer machte als gut angezogen zu sein. Wenn er gut aussah – und er sah ziemlich gut aus, das fiel ihm ziemlich leicht – aber dennoch keine schöne Begleitung im Arm hatte, dann lag das Problem tiefer, bei einem inneren Makel."

    Und er steckt seine modische Krawatte zusammengerollt in seine Tasche.
    Es sind diese kleinen Beobachtungen, leicht hingeworfen, die einen so begeistert sein lassen von der Prosa der A.L. Kennedy. Und wer seinen Mann nicht mehr liebt, der bastelt sich einfach einen neuen. Das geht freilich manchmal erst, wenn der erste das Zeitliche gesegnet hat. Aus Lynn, der Frau des Unterhaltungskünstler Barry Westcott ist Lynn, die Witwe des Unterhaltungskünstlers Barry Westcott geworden. Sie verliebt sich in den, der seine Hörbücher jetzt sprechen, seine Rolle spielen wird.

    Er ist je nach Jahreszeit, einmal zehn, einmal neun Jahre jünger als sie. Liegt der Altersunterschied im einstelligen Bereich, kann sie ihn gelten lassen. Wieder so eine rabenschwarze Beobachtung der A.L. Kennedy.
    Ehe heißt die schwärzeste Geschichte. Der Mann, der beim Spazierengehen seiner Frau übers warme Haar streicht, die Arme um sie legt, will, dass man die beiden bewundert, beneidet. Im Schlafzimmer hatte das noch anders ausgesehen. Da hatte er sie geschlagen, sie vergewaltigt. Und jetzt gehen sie die Straße entlang.

    "Und alle, die sie sehen, werden sicher sein – so sieht sie aus. Genauso sieht sie aus. Die Ehe."

    A.L. Kennedy: Was wird. Erzählungen. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009. 224 Seiten, 19.90 Euro