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Ökonomie
Falsch verstandener Vordenker

Der schottische Moralphilosoph Adam Smith gilt als Urvater des ungehemmten Kapitalismus, der auf die unsichtbare Hand des Marktes vertraute und den Einfluss des Staates auf die Wirtschaft begrenzen wollte. Der österreichische Philosoph Gerhard Streminger interpretiert Adam Smith anders.

Von Katja Scherer | 03.04.2017
    Ein Porträt zeigt den schottischen Philosophen und Ökonomen Adam Smith (1723-1780)
    Der schottische Philosoph und Ökonom Adam Smith (imago / Leemage)
    Gerade einmal zwei große Werke hat Adam Smith Zeit seines Lebens geschrieben: "Die Theorie der ethischen Gefühle" von 1759 und "Der Wohlstand der Nationen" von 1776. Diese hallen allerdings bis heute nach. Reduziert wird sein Werk dabei oft auf zwei Kernthesen. Erstens: Arbeitsteilung ist effizient. Und zweitens: Ein freier Markt führt zu Wohlstand.
    Adam Smith gilt daher als der Vordenker der Neoliberalen - also jener Gruppe von Volkswirten, die den Einfluss des Staates auf das Wirtschaftsgeschehen möglichst gering halten wollen. Tatsächlich sei aber gerade das nicht in Smiths Sinne gewesen, schreibt Gerhard Streminger in seiner Biografie:
    "Der Autor der 'Theorie der ethischen Gefühle' sowie des 'Wohlstand der Nationen' hat sich gerade nicht für einen uneingeschränkten Markt eingesetzt. Vielmehr sollte der Staat in Smiths Gesellschaftsmodell den Marktteilnehmern rechtliche Leitplanken setzen, die sich am Gemeinwohl orientieren."
    Rechtliche Leitplanken
    Wie aber kommt es zu diesem historischen Missverständnis? Um Werk und Wirken des schottischen Aufklärers zu erfassen, hat Streminger Smiths Leben in chronologischer Form nachvollzogen. Er beschreibt, wie der Sohn eines Rechtsanwalts durch das rege Treiben im Hafen seiner Heimatstadt Kirkcaldy schon früh mit dem freien Handel in Kontakt kommt:
    "Der kleine Adam war daran offenbar so gewöhnt, dass er diese Form des 'Tauschens' bzw. 'Handelns' später […] als so natürlich wie Konversation beschreibt."
    Streminger skizziert, wie Smith in Oxford studiert und später in Glasgow zum renommierten Moralphilosophen aufsteigt, wo er auch sein erstes großes Werk veröffentlicht.
    Das Wirken der unsichtbaren Hand
    Erst sechzehn Jahre später dann, nach mühevoller Denk- und Schreibarbeit, liegt sein nächstes Buch vor: Der Wohlstand der Nationen, was heute auch als "Bibel der Ökonomie" bezeichnet wird. Darin beschreibt Smith, dass die nicht beabsichtigten Folgen menschlichen Handelns zu einem gesellschaftlichen Zustand führen können, der besser ist, als der eigentlich angestrebte. Dies nennt er das Wirken einer unsichtbaren Hand. Streminger kommentiert:
    "Die Beobachtung, dass Egoismus und Eitelkeit Einzelner die ökonomische Situation anderer fördern können, ist durchaus richtig. Höchst problematisch hingegen ist Smiths Behauptung, dass durch die Wirkung von Marktmechanismen beinahe dieselbe Gleichverteilung lebensnotwendiger Güter wie durch Eingriffe des Staates erreicht würde."
    Positive und negative Auswirkungen des Marktes
    Genau auf dieser Behauptung Smiths basiert auch das historische Missverständnis seines Werkes: Ohne weiteres lässt sich aus diesen Sätzen ableiten, dass der Markt den Staat ersetzen könne. Ordnet man die Passage jedoch in den Kontext von Smiths Gesamtwerk ein, werde offensichtlich, dass der Vordenker das nicht gemeint haben kann, analysiert Streminger:
    "Wie noch in der Besprechung des Wohlstands der Nationen näher ausgeführt wird, plädiert Smith […] nicht für den Markt als solchen, sondern für die Etablierung eines idealen Marktes. Unter idealen Marktbedingungen übernimmt der Staat sehr wohl zentrale Aufgaben, etwa hinsichtlich der Infrastruktur, der Bildung und der Kontrolle, dass sich Marktteilnehmer wie faire Sportler verhalten."
    Das gelte besonders, weil Adam Smith nicht nur die positiven, sondern auch die negativen Auswirkungen des Marktes gesehen habe:
    "Jene Einrichtung, die für den ökonomischen Reichtum verantwortlich ist [...], die Arbeitsteilung, hat gesellschaftlich höchst bedenkliche Auswirkungen. Sie führt nämlich zur Verdummung und geistigen Verelendung der Massen. Dadurch werden demokratische Strukturen bedroht und gewinnen feudal-autoritäre Verhaltensweisen erneut an Einfluss."
    Angeborener Gerechtigkeitssinn
    Der Staat sollte Smiths Ansicht nach daher nicht nur die schlimmsten Auswüchse von Armut bekämpfen, sondern auch für ausreichend Bildung sorgen. Letzteres war für ihn ein zentraler Aspekt für eine funktionierende Gesellschaft. Mit Bildung sei dabei nicht Schulwissen oder das Erlernen eines bestimmten Berufes gemeint, erläutert sein Biograf Streminger. Bildung bedeute, dass ein Mensch sich in die Situation anderer hineinversetzen und neutral über eine Sache urteilen könne. Überhaupt: Die Dinge mit Distanz zu betrachten, ist für das moralphilosophische Konzept von Smith eine unerlässliche Eigenschaft. Der Aufklärer geht davon aus, dass jeder Mensch über einen angeborenen Gerechtigkeitssinn verfüge, schreibt Streminger:
    "Zwar sind wir auch von Eigeninteresse geleitet, doch sind Menschen keinesfalls triviale Nutzenmaximierungsmaschinen. […] Menschen sind mehrdimensionale Wesen, die sich nicht nur an der eigenen Besserstellung erfreuen, sondern auch persönlichen Gefallen daran finden, wenn es anderen gut geht und der Tausch von Gütern gerecht und fair erfolgt. Wer übervorteilt oder betrügt, kurz: unethisch handelt, kann sich keinen Freibrief von Adam Smith holen."
    Smith stellt also hohe Ansprüche an jedes einzelne Mitglied einer Gesellschaft - möglicherweise sogar zu hohe, meint Streminger. So nähmen wir in aller Regel zwar Anteil am Leben unserer Angehörigen, Freunde und Bekannten. Echtes Mitgefühl für Menschen, mit denen man nicht in einer direkten Beziehung steht, sei dagegen ein Luxusgefühl.
    Kein Freibrief für unethisches Verhalten
    Luxusgefühl oder nicht - Streminger schafft es in seiner Biografie, solche abstrakten moralphilosophischen Fragen anschaulich darzustellen. Das gelingt, weil er nicht nur Smiths Gedankenwelt beschreibt, sondern auch dessen Wesen. Er berichtet, wie der zerstreute Professor in Diskussionen teils den Faden verliert. Und er erzählt, wie der Moralphilosoph bei einem Vortrag in einer schottischen Gerberei so wild gestikuliert, dass er aus Versehen in eine Grube mit Tierkadavern plumpst.
    Die Analyse ergibt, dass Smiths Werk durchaus Schwächen hat. Viel wichtiger ist aber die Erkenntnis, dass der schottische Ökonom die starke Rolle des Marktes, die heute oft propagiert wird, niemals in Reinform eingefordert hat. Eine Gesellschaft ohne starken Staat kann genauso wenig funktionieren wie eine Gesellschaft ohne freien Markt, so lautete Smiths These. Wie Gerhard Streminger aufzeigt, kann es also sicherlich helfen, sich die Werke von Adam Smith noch einmal vorzunehmen - und zwar nicht nur die ersten paar Seiten.
    Gerhard Streminger: "Adam Smith. Wohlstand und Moral. Eine Biographie"
    C.H. Beck Verlag, 254 Seiten, 24,95 Euro.