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Özdemir: Koalition mit SPD nicht um jeden Preis

Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir macht klar, dass eine Koalition mit seiner Partei für die SPD in Berlin nicht umsonst zu haben ist: 420 Millionen Euro für den Ausbau der Autobahn A100 auszugeben - das sei mit den Grünen nicht zu machen.

Cem Özdemir im Gespräch mit Silvia Engels | 19.09.2011
    Silvia Engels: Am Telefon ist nun Cem Özdemir. Er ist der Parteichef von Bündnis 90/Die Grünen. Guten Morgen, Herr Özdemir!

    Cem Özdemir: Guten Morgen, Frau Engels!

    Engels: Sie haben die Frage schon oft hören müssen. Renate Künast wollte die erste grüne Regierende Bürgermeisterin in Berlin werden, bei 30 Prozent lagen sie zwischenzeitlich in den Umfragen, nun nur drittstärkste Kraft. Sie sagen jetzt bestimmt, das Wahlergebnis ist trotzdem gut. Ich frage trotzdem, woran lag es?

    Özdemir: Es stimmt beides! Sie haben beide Wahrheiten genannt. Erstens: Wir haben nicht alle Ziele erreicht. Das Ziel, das Sie genannt haben, haben wir deutlich verfehlt, aber wir sind trotzdem die Partei, die unter den bislang im Abgeordnetenhaus vertretenen Fraktionen am stärksten, und zwar deutlich am stärksten, zugelegt hat. Wir haben das beste Ergebnis in unserer Geschichte bei einer Abgeordnetenhauswahl. Warum es nicht mehr wurde? Ich glaube, in Berlin ist noch Platz für bessere Wahlergebnisse für die Grünen. Das werden wir jetzt analysieren, dafür setzen wir uns heute zusammen. Ich könnte mir vorstellen, der eine oder andere, der diesmal Piraten gewählt hat, hätte auch das Kreuz bei uns machen können. Auch da werden wir uns damit beschäftigen.

    Engels: Stichwort Piratenpartei. Viele Stimmen aus dem Milieu, das früher den Grünen nahe stand, haben dieses Mal die Piratenpartei gewählt. Wie sehr muss das die Grünen erschrecken, dass sie neben dieser jungen Partei auf einmal alt aussehen?

    Özdemir: Ach! Also ich glaube nicht, dass wir wirklich alt aussehen. Wenn Sie mal schauen, wer da alles bei uns gewählt ist, das ist schon eine sehr junge Fraktion auch. Aber Sie haben recht: Der Wahlkampf der Piraten war ein sehr spritziger Wahlkampf, das eine oder andere Plakat hätte ich mir auch bei uns vorstellen können.

    Engels: Zum Beispiel?

    Özdemir: Na ja, also die Plakate, die eben klar machen, dass man frech ist, dass man auch bereit ist, da in der Politik ein bisschen zu provozieren und ein bisschen zu ärgern. Das ist, glaube ich, auch das, was gerade junge Wähler erwarten von Parteien. Auf der anderen Seite ist aber auch klar: wir sind eine internetaffine Partei, wir sind die Partei mit dem höchsten Zugang zum Netz, aber wir sind halt auch eine Partei, die sich um Frauenrechte kümmert, die sich um Klimawandel kümmert, die sich um Arbeitsplätze, um Schulen kümmert. Also als Partei muss man das ganze Portfolio haben, und jetzt werden die Piraten im Abgeordnetenhaus Anträge schreiben müssen, sie werden Reden halten müssen, also alles das, was man eben im Parlament so machen muss.

    Engels: Deutet sich denn da gut 30 Jahre nach Gründung der Grünen erneut ein Umbruch in der Parteienlandschaft mit den Piraten an?

    Özdemir: Ach da wäre ich sehr vorsichtig. Schauen Sie mal, im Europaparlament sitzt ein Pirat aus Schweden, der hat sich dann der Grünen-Fraktion angeschlossen, weil er festgestellt hat, dass vieles von dem, was die Piraten fordern, eigentlich das meiste, bei den Grünen längst im Programm drinsteht und von den Grünen vertreten wird. Warten wir mal ab, wie sich das entwickelt.

    Engels: Dann schauen wir auf die Regierungsmöglichkeiten, die sich ja jetzt den Grünen in Berlin bieten. Da hat Herr Wowereit neben den Grünen die Alternative CDU. Er selbst hat gestern gesagt, wenn sich die Grünen dem Fortschritt entgegenstellten, wäre die Regierung mit ihnen nicht zu machen. Wo ist die grüne Schmerzgrenze?

    Özdemir: Das kommt darauf an, wie er den Fortschritt definiert. Für ihn ist ja Fortschritt, 420 Millionen Euro für drei Kilometer Autobahn auszugeben. Also für die Nicht-Berliner: die A100, die in Berlin sehr kontrovers diskutiert wird, übrigens auch innerhalb der Partei von Herrn Wowereit. Und da ist völlig klar: Wir werfen das Geld nicht zum Fenster raus, in Zeiten knapper Kassen muss man auch mit dem Geld verantwortlich umgehen. Da hat Herr Wowereit Probleme damit, das wissen wir, wenn man die Verschuldungssituation Berlins anschaut. Wir sind eine Partei, die klar sagt, man muss in Zeiten knapper Kassen genau wissen, wo man das Geld ausgibt, und die Prioritäten in Berlin, das sollten die Schulen sein, das sollte die Sanierung sein der Stadt und wie gesagt nicht das Geld zum Fenster rauswerfen. Insofern ist klar: Die Grünen gibt es nicht für umsonst. Bislang war Herr Wowereit gewöhnt, die letzten zehn Jahre, viel Stillstand zu machen. Das ging mit der Linkspartei, mit uns geht das nicht.

    Engels: Herr Özdemir, machen wir es doch konkret. Wenn Herr Wowereit darauf besteht, die Autobahn A100 auszubauen, sind dann die Grünen raus?

    Özdemir: Also ich sage es gerne nochmals: Uns gibt es nicht für umsonst, uns gibt es nur mit klaren Inhalten. Herr Wowereit kann sicherlich nicht erwarten, dass wir in Koalitionsverhandlungen mit ihm eintreten, wenn er ein Diktat macht und sagt, ohne dass die Grünen in dieser Frage ihre Position aufgeben, gibt es keine Koalition. Dann gibt es eben keine Koalition.

    Engels: Herr Özdemir, dann schauen wir noch auf den generellen Trend. Der Wahl- und Umfrageschub, den die Grünen im ersten Halbjahr erfahren haben, ist nun offenbar vorbei. Liegt das daran, dass die Schockwirkungen nach der Atomhavarie in Fukushima ein wenig abgeklungen sind?

    Özdemir: Ich weiß nicht, woran Sie das festmachen. Wenn wir um die fünf Prozent herum zulegen, wenn wir einen Ministerpräsidenten stellen, fünf Landesregierungen, vielleicht bald eine sechste und ...

    Engels: Aber von 30 sind sie mittlerweile weit entfernt!

    Özdemir: Na ja, also ich meine, dass man das beste Ergebnis bei einer Umfrage nimmt und sagt, daran werdet ihr gemessen, das funktioniert, glaube ich, nicht, sondern es ist klar, man muss als Maßstab immer nehmen das letzte Ergebnis, das man beim letzten Mal hatte. Dass Fukushima sicherlich nicht etwas sein wird, was die Menschen auf Dauer dazu bringt, dass die Grünen Spitzenwerte haben, das haben wir immer gesagt. Ich erinnere Sie daran, dass Sie bei mir ja und auch bei vielen anderen Spitzengrünen immer nachlesen können, dass wir immer gesagt haben, wir bleiben auf dem Teppich, und genau so ist es.

    Engels: Cem Özdemir, Parteichef von Bündnis 90/Die Grünen, zum Ausgang der Berlin-Wahl. Vielen Dank für das Gespräch.

    Özdemir: Ich danke Ihnen!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.