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Offen für politische Kooperationen
Wie das EU-Parlament mit wechselnden Mehrheiten regiert

Große Koalition, Minderheitsregierung oder eine Kooperations-Koalition? Verschiedene Regierungsmodelle stehen in Berlin zur Diskussion. Modelle, die auf wechselnde Mehrheiten im Parlament setzen, wären ein Experiment. Im Europaparlament in Straßburg sind sie Realität.

Von Thomas Otto | 13.12.2017
    Geschäftsmann und Geschäftsfrau beim Handschlag mit Stangen über einer Felsspalte.
    Überraschende Kooperationen sind im Europaparlament möglich. (imago stock&people / Mark Airs)
    Ein Parlament ohne Regierung, ohne feste Koalition, geschweige denn einer Regierungsmehrheit. So sehr sich das EU-Parlament von den meisten Parlamenten unterschiedet: In manchen Belangen könne sich Deutschland etwas vom EU-Parlament abschauen, meint auch Albert Deß. Der CSU-Mann kann gut vergleichen: Von 1990-2004 saß er im Bundestag, seitdem ist er Abgeordneter im EU-Parlament.
    "Ich darf ja agrarpolitischer Sprecher meiner großen Fraktion sein, bin für die Mehrheitsfindung verantwortlich im Agrarbereich und es gelingt mir fast immer im Agrarausschuss Mehrheiten zu finden. Mal mit dieser Fraktion, mal mit der anderen Fraktion - themenbezogen. Also ich habe im Grunde genommen noch nie so parlamentarisch gearbeitet, wie hier."
    Überraschende Kooperationen
    Die Besonderheit des Europaparlaments: Da es keine Regierung gibt, steht auch nicht von vorn herein fest, wie Abstimmungen ausgehen. Mehrheiten müssen immer wieder neu gefunden werden. In den Ausschüssen versuchen die Berichterstatter, also die Abgeordneten, die die Zuständigkeit für einen Rechtsakt erhalten haben, Kompromissvorschläge zu erarbeiten. Das Ziel: Mit einem Papier in die Abstimmung zu gehen, dass eine sichere Mehrheit findet. Manchmal mit ganz unerwarteten Kooperationen. Peter Simon von der SPD ist ein Erlebnis ganz besonders in Erinnerung geblieben:
    "Ich werde es nie vergessen, wie ein FDP-Abgeordneter in einer meiner ersten Sitzungen im Wirtschafts- und Währungsausschuss in öffentlicher Sitzung sagte, er wolle sehr deutlich unterstreichen, was sein Vorredner gerade so Richtiges gesagt habe. Und der Vorredner war ein deutscher Abgeordneter von der Linkspartei. Sowas ist bei uns möglich."
    Auch CSU-Mann Albert Deß meint, in Deutschland sei so etwas nur schwer vorstellbar. Man habe hier eine andere Mentalität:
    "1994 hatten wir nur eine ganz knappe Mehrheit in der schwarz-gelben Koalition. Und da hat Helmut Kohl einmal eine Abstimmung verloren, waren halt ein paar Kollegen nicht da. Und schon ging durch die Medien: Helmut Kohl hat keine Mehrheit mehr. In angelsächsischen Ländern ist das selbstverständlich, dass die eigene Fraktion auch mal der Regierung nicht die Mehrheit gibt."
    Abstimmungen sind keine Show-Veranstaltungen
    Und auch im EU-Parlament sind sicher geglaubte Mehrheiten nicht immer sicher. Denn auch der Begriff Fraktionsdisziplin hat hier geringere Bedeutung. Je nach Thema verläuft die Grenze zwischen Zustimmung und Ablehnung auch schon mal quer durch die Fraktionen entlang von Ländergrenzen. Abstimmungsergebnisse sind so nur schwer vorherzusehen. Das Votum ist dafür keine reine Show, wie in vielen Parlamenten mit sicheren Mehrheiten.
    "Ich glaube, der Bundestag hat wenig Erfahrung. Das kann man nicht von heute auf morgen lernen. Da braucht man eine gewisse Ruhe dabei und muss auch über festgefahrene Programmpunkte hinwegsehen können."
    ...wendet Werner Langen von der CDU ein. Allerdings: Nicht immer sind Fraktionsgrenzen egal, spielt die politische Farbe keine Rolle. Auch im EU-Parlament gab es eine Zeit lang eine inoffizielle Große Koalition zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten. Und nicht jeder ist bereit, wirklich mit jeder Fraktion zusammenzuarbeiten:
    "Haben die Politiker die Kraft sich zu einigen, wie man mit der AfD umgeht oder haben sie die nicht? Und kann man verhindern, dass die AfD für gute Vorschläge von Rechts oder Links stimmt? Das ist zum Beispiel hier der Fall. Im Europäischen Parlament stimmen die Kommunisten und die Rechtsradikalen von Marine Le Pen häufig zusammen gegen die Vorschläge der Mitte."
    Werner Langen rät hier zu Gelassenheit und warnt vor übertriebener Angst. Die Praxis des EU-Parlaments zeigt: Auch mit viel Pragmatismus und wenig Dogmen kann ein Parlament handlungsfähig sein. Wenngleich im Zusammenspielt mit Kommission und Rat wieder ganz eigene Regeln gelten.