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Offene Wunden

Die Türkei hat von Beginn des syrischen Bürgerkriegs an Flüchtlinge des Nachbarlands aufgenommen - inzwischen gut 80.000. Doch die Regierung in Ankara befürchtet, dass es kurdischen Gruppen gelingt, nahe der türkisch-syrischen Grenze ihren Einfluss auszubauen. Die Auseinandersetzungen mit der PKK werden heftiger - das hat auch mit der unzureichend aufgearbeiteten Vergangenheit zu tun.

Von Gunnar Köhne, Istanbul | 05.09.2012
    Die Soldaten kamen in der Nacht, und sie nahmen nicht nur alle erwachsenen Männer mit, sondern auch Hazmi und seinen Bruder Seyhan. Seyhan war damals 14 Jahre alt, sein Bruder Hazmi 12. Sie seien Unterstützer der PKK, hieß es, im Untersuchungsgefängnis wurden die Kinder verhört und gefoltert. Hazmi durfte irgendwann gehen, seinen Bruder Seyhan hat er nie wieder gesehen. Er gilt seitdem als "verschwunden". Seit 20 Jahren quält den Kurden Hazmi Dogan das Schicksal seines Bruders:

    "Nach diesen Vorfällen war meine Kindheit sozusagen mit zwölf Jahren beendet. Eine riesige Veränderung, plötzlich wurde ich in das Leben eines Erwachsenen katapultiert. Das hat mein gesamtes Leben verändert. Normalerweise kann man einen Toten beerdigen, um ihn trauern, und sich langsam an den Verlust gewöhnen. Aber das konnte ich bis heute nicht. Ich werde immer wieder mit dem Geschehenen konfrontiert, durch Medienberichte über verschollene Personen, oder durch ein Lied im Radio. Wenn wir wenigstens ein Grab für meinen Bruder hätten, dann könnten wir die Tatsachen akzeptieren und mit dem Thema abschließen. Aber dem ist leider nicht so."

    In ihrem neuesten Türkeibericht erinnert die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch an das Schicksal tausender Verschwundener und Ermordeter - und beklagt, dass die mutmaßlichen Verantwortlichen für diese Verbrechen noch immer nicht zur Rechenschaft gezogen worden seien. Das türkische Strafgesetzbuch sieht eine Verjährungsfrist von 20 Jahren vor. Damit droht eines der finstersten politischen Kapitel des Landes demnächst ad acta gelegt zu werden. Emma Sinclair-Webb von Human Rights Watch:

    "Die meisten Fälle - Verschwindenlassen und politische Morde - trugen sich in den Jahren 1993 bis -94 zu. Das heißt, die Justiz hat nur noch wenig Zeit, diese von den Sicherheitskräften begangenen Taten aufzuklären, die ja in die Tausende gehen. Die meisten geschahen damals im Südosten des Landes."

    Immerhin gab es in den vergangenen Monaten an etlichen Orten in den kurdischen Gebieten Exhumierungen von Massengräbern - manchmal sogar von der Staatsanwaltschaft angeordnet. Doch Menschenrechtsorganisationen vermissen bei der Regierung einen klaren Aufklärungswillen. Sie fordern von Ankara unter anderem eine parlamentarische Wahrheitskommission, die sich mit den Menschenrechtsverletzungen seit den 1980er-Jahren beschäftigt. Ehemalige Angehörige der Sicherheitskräfte, die aussagen wollen, sollten genauso unter staatlichen Schutz gestellt werden, wie die Betroffenen selbst. Der kurdische Menschenrechtsanwalt Tahir Elci spricht von einer Atmosphäre der Angst:

    "Verantwortlich war der Geheimdienst der Gendarmerie, JITEM. Das sind noch heute sehr gefährliche Leute. Sie genießen immer noch staatlichen Schutz und sind gut organisiert. Und sie setzen uns, die Anwälte der Opfer, bis heute unter Druck. Nicht nur wir, sondern auch unsere Familienangehörigen werden von ihnen regelmäßig bedroht.

    Nicht nur die einzelnen Polizisten oder Soldaten, die diese Verbrechen begannen haben, sondern auch deren Vorgesetzten müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Die Befehle kamen doch von ganz oben, von der damaligen Regierung!"

    Hazmi Dogan hat nach dem Hinweis eines Zeugen in der Nähe seines Heimatdorfes die Exhumierung eines Massengrabes organisiert. Wahrscheinlich waren darin auch die sterblichen Überreste seines Bruders. In der Hoffnung auf Gewissheit hat er die Knochen zur DNA-Analyse an ein staatliches forensisches Labor geschickt:

    "Seit sieben Monaten warten wir auf den Bericht ... Das ist natürlich eine große Qual. Wir Angehörigen hoffen, endlich die sterblichen Überreste unserer Liebsten gefunden zu haben. Stattdessen müssen wir weiter in Ungewissheit warten und werden nicht aus unserer Opferrolle befreit."

    Hazmi Dogan kennt inzwischen auch den Namen des mutmaßlich Verantwortlichen für den Mord an seinem Bruder. Der damalige JITEM-Kommandant seiner Heimatregion ist heute Bürgermeister einer anatolischen Kleinstadt.