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"Ohne Formulierung jedoch ist die Welt nicht ertragbar"

Angela Krauß braucht keine Fabel. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit in "Wie weiter" auf Situationen und Gefühlslagen, wobei sie sich auf ein aus 41 Stäbchen bestehendes Spiel bezieht. Die Regeln dieses Spiels liegen als Konstruktionsprinzip der Geschichte zugrunde.

Von Michael Opitz | 27.12.2006
    Angela Krauß: "Der erste Satz. Die Suche danach, das Warten darauf, die Entscheidung dafür kann Jahre dauern. Der erste Satz, der auf den Leser trifft, diese Situation ist vergleichbar jenen ersten Momenten einer Begegnung zwischen zwei Fremden, in denen sich alles weitere entscheidet. Umgangssprachlich nennen wir es Chemie, was da stimmt oder auch nicht. Wir nennen es auch Wellenlänge. Schlagen wir ein Buch auf und lesen die ersten Sätze, so trifft uns eine bestimmte Wellenlänge, ein Ton ist angeschlagen. Der Ton, in dem dieses Buch zu uns sprechen wird. Ob wir als Leser unser inneres Orchester auf diesen Ton einstimmen können, das entscheidet sich nach wenigen Sätzen."

    Mit dieser Wertschätzung des ersten Satzes beginnt Angela Krauß ihre 2004 gehaltene Frankfurter Poetikvorlesung Die Gesamtliebe und die Einzelliebe. Erste Sätze sind Eröffnungen. Manche bleiben unvergessen, wie zum Beispiel dieser: "Eduard - so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter - Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen." Nicht minder berühmt ist der folgende: "Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen." Ob Goethes Wahlverwandtschaften oder Johnsons Mutmaßungen über Jakob, die ersten Sätze dieser und anderer Bücher bleiben unvergessen, weil wir durch sie in eine Geschichte eingeführt wurden. Auch der lyrisch klingende erste Satz der Erzählung "Wie weiter" von Angela Krauß bleibt im Gedächtnis haften:

    "Du, der Du alles weißt! "

    Doch dieses Du, das alles weiß, hält sich in der Erzählung bedeckt. Deutlichere Konturen erlangen dagegen jene Personen, mit denen die weibliche Ich-Erzählerin darüber hinaus in Kontakt steht. Zu ihren "Liebesmenschen" zählt der aus Wien stammende und in Amerika lebende Leo, mit dem sie lange Telefonate führt. Verbunden fühlt sie sich auch mit der Tatarin Toma, die den Westen hinter sich lassen will und immer weiter nach Osten fliehen muss. Und schließlich ist da der Geliebte Roman, der den Mund hält und lange schweigt, was die Ich-Erzählerin schmerzt, weil er sich ihr so entzieht.

    Das Buch macht Suchen zum Thema. Allzu gern würde die Erzählerin etwas darüber erfahren, wie man mit in der Vergangenheit erfahrenen Prägungen leben kann, wenn sich die Lebensbedingungen radikal geändert haben. Bei dieser Suche werden Daten genannt: 1914, 1945, 1989, an den September 2001 wird erinnert und mit der Jahreszahl 2025 wird auf eine vorhergesagte Klimakatastrophe verwiesen. Zugleich begibt sich die Erzählerin auch auf Reisen, manche finden im Kopf statt und führen an die unterschiedlichsten Orte: Von einer Stadtvilla ist die Rede, eine Strandpromenade wird erwähnt, Gebiete hinter dem Ural werden ebenso aufgerufen wie Afrika mit seinen Savannen; sie macht Abstecher nach Amerika, speziell nach New York; sie sieht sich in Leipzig während und nach der Revolution um und besucht den Zoo, erinnert an Wien, das dem Führer zu Füßen lag und macht Halt in Sibirien, Bayern, Dresden, Moskau, China, Alberoda, Neustädtel und schließlich Oberschlema. Doch werden die Stationen scheinbar zufällig angesteuert, einer geplanten Route folgt die Reisende nicht.

    " "Was sind kompakte Geschichten, die wir kennen? Also, von A nach B -und einen direkten Verlauf oder auch auf Umwegen, aber immer noch verfolgbar. Das ist doch eine einzige Konstruktion, nur zu unserer Beruhigung - das gibt es doch im Leben gar nicht. Das gibt es nicht in unserem Denken, nicht in unserem Wahrnehmen. Das, was ich als mein Leben wahrnehme, ist doch nichts, was von A nach B geht. Und ich wundere mich, wieso immer noch die Darstellung in der Literatur als ungewöhnlich oder schwierig empfunden wird. Es ist eigentlich genau unsere Wahrnehmung! Unsere Wahrnehmung ist keine gerade Geschichte. Wir brauchen - das ist meine Überzeugung - wir brauchen die nur, um uns zu beruhigen, dass irgend etwas einen Anfang und ein Ende hat, eine Ursache und eine Wirkung, dass sind ja eigentlich Konstrukte. Eine Geschichte, die man nicht nacherzählen kann, da beginnt die Literatur - kurz gefasst gesagt, für mich."

    Angela Krauß braucht keine Fabel. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit in "Wie weiter" auf Situationen und Gefühlslagen, wobei sie sich auf ein aus 41 Stäbchen bestehendes Spiel bezieht. Die Regeln dieses Spiels liegen als Konstruktionsprinzip der Geschichte zugrunde.

    "Du, der Du alles weißt! Wenn nicht ich fass noch mal zusammen: Hier bin ich. Das Kaiserspiel auf der Bettdecke."

    In ihrer Erzählung hebt Angela Krauß Geschichten wie Mikadostäbchen auf. Sehr behutsam berührt sie sie an den Enden, damit der Kontext, in dem sie eingebettet sind, nicht durch eine Unvorsichtigkeit zerstört wird. Denn nur wenn sich kein anderes Stäbchen bewegt, wenn die Gemengelage der Stäbchen nicht ins Wackeln gerät, kann sie einzelner Geschichten habhaft werden.

    "Wenn ich das Stäbchen weggezogen hätte, oder durch eine Vibration wäre es ein Stück weggerutscht - eine andere Gesamtsituation, die Sache wäre anders weitergegangen, das ist schon das Grundprinzip."

    Für dieses Erzählen stellt sich wie beim Mikado immer wieder die Frage: Wie weiter? Denn es müssen stets neue Konstellationen berücksichtigt werden und es gilt, den Zusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren. Mit erzählerischem Geschick legt die Autorin den Finger dort auf, wo sich etwas heben lässt. Sie konzentriert sich auf die Enden und tippt die Geschichten wie Mikadostäbe nur zart an, um sie so aus dem ungeordneten Durch- und Übereinander, in dem sie lagern, aufzurufen.

    "Ich frage mich jedes Mal hinterher: Wie ist das eigentlich entstanden? Aber so an meinen Aufzeichnungen, die mehr grafischer Art sind, stelle ich fest, wie ich's als Bild, als Rhythmus, als Partitur zusammengesetzt habe. Und irgendwann habe ich gemerkt, dass ich eigentlich Mikado spiele."

    Das Erzählen, wie es Angela Krauß praktiziert, gleicht diesem Spiel. Es ist der Versuch, Geschichte durch Erinnerungsarbeit in den Griff zu bekommen. Doch statt Stäbchen, sammelt die Autorin Ereignisse und hebt dabei Biographien, an jenen Stellen, wo sie sich mit weltpolitischen Ereignissen kreuzen. Während Mikado aber auf einem stabiler Untergrund gespielt wird, bewegt sich der Boden, auf dem die Geschichte von Angela Krauß angesiedelt ist.

    "Ich glaube, dieses ständige Vibrieren, der nicht fixierte Untergrund, ist der eigentliche Anlass für mich gewesen, diese Frage zum Mittelpunkt zu machen. [...] Es ist das, was mich immer, wenn ein Buch fertig ist - und ich meine: Genug, ich hab alles gesagt, undenkbar, dass ich noch was sagen möchte. Es ist das, was dann immer wieder sich zeigt, was ich über die Fingerspitzen aufnehmen kann. In welchem Zustand befinden wir uns? In welchem Zustand befindet sich die Gesellschaft um mich herum? Und ich glaube wirklich, da ist etwas grundsätzlich anders so in den letzten zwei, drei Jahren als noch vor zehn Jahren. Wir sind verwirrter [...] und wir stellen doch an uns selbst fest, dass bis in die aller nächsten Beziehungen, Freundschaften, ja bis in die Liebesbeziehungen hinein, uns die Aufmerksamkeit verloren geht."

    Immer wieder landet Angela Krauß, wenn sie von Liebesgeschichten erzählt, bei Ereignissen, die Revolutions- und Weltgeschichte geschrieben haben. "Wie weiter" handelt nicht von Gewissheiten, es macht vielmehr Ratlosigkeit zum Thema und entlässt einen dennoch nicht in eine ungewisse Aussichtslosigkeit.

    " "Literatur gibt keine Antworten. Sie stellt die Fragen, die unformuliert in uns sind. Gefühlt, aber noch nicht in Sprache gedacht, schon gar nicht zur Sprache gebracht. Das Andere, das Fremde, das ist auch der vorsprachliche Raum in mir selbst, gefüllt mit Erlebtem. Auf geheimnisvolle Weise korrespondiert er mit den sprachlosen Lebewesen, den Tieren. Dieser Austausch ist ungewohnt, unsicher, er kostet Anstrengung. Es ist eine anstrengende Übung: die Vermeidung von Sprache in einer Welt, der umgehend verfertigten Meinungen. Es ist eine Übung im Nichtkommentieren, im Nichtmeinen, im Schweigen. Denn die Formulierung verkleinert die Welt. Ohne Formulierung jedoch ist die Welt nicht ertragbar. ""