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Ohne Ort

Der Protagonist entspricht nicht den Klischees islamisch-arabischer Männlichkeit. Als er 1990 nach Monaten Kriegsdienst nach Hause zurückkehrt, teilt ihm die Nachbarin mit, dass seine Frau mit ihrem Mann durchgebrannt sei. Doch nicht Rachsucht, Ortlosigkeit quält ihn, der Verlust moralischer Gewissheiten, die zehn Jahre Kriegsalltag und Propaganda im Irak zerstört haben.

Von Christoph Vormweg | 19.11.2004
    Hanser Verlag, 320 S., EUR 24,90
    Von Christoph Vormweg

    Schreiben in der Sprache des Exils: Auch Najem Wali hat diese Verlockung verspürt. Schon vor seiner Flucht aus dem Irak 1980 hat er zwischen irakischen und ostdeutschen Militärs gedolmetscht, später dann in Hamburg Germanistik studiert. Nach einigen Experimenten jedoch hat sich der 48jährige gegen das Deutsche entschieden.

    Ich sehe mich mehr als Schriftsteller ein, wenn ich auf Arabisch schreibe, weil die arabische Sprache braucht auch Erneuerung. Und wenn ich provozieren will, was soll ich auf Deutsch provozieren?

    Also provoziert Najem Wali auch nach mehr als 20 Jahren im deutschen Exil weiter auf Arabisch. Und das mit Wirkung. Die Originalausgabe seines jetzt ins Deutsche übertragenen Romans Die Reise nach Tell-al-Lahm, die vor drei Jahren in Beirut erschien, hat schon etliche islamische Zensurbeauftragte in Rage gebracht. In Kuwait, Ägypten, Syrien, Jordanien und Saudi-Arabien steht das Buch auf dem Index.

    Wegen dieser Tabubrüche. Also angeblich ist Gotteslästerung dabei, Obszönität, also vieles - das ist diese offizielle Seite, aber auf der anderen Seite: das Buch ist ein Renner bei den Jugendlichen. Und was bemerkenswert ist, daß viele junge Frauen das Buch gelesen haben, wahrscheinlich weil ich Themen behandelt habe, die sie interessieren: zum Beispiel Liebe, Schwangerschaft, Liebe vor der Heirat, Jungfräulichkeit, abtreiben et cetera.

    Mehr noch: Najem Walis Erzähler entspricht nicht den Klischees islamisch-arabischer Männlichkeit. Als er 1990 nach Monaten Kriegsdienst nach Hause zurückkehrt, teilt ihm die Nachbarin mit, dass seine Frau mit ihrem Mann durchgebrannt sei. Doch nicht Rachsucht treibt den Gehörnten dazu, die Suche nach ihr aufzunehmen. Es ist die Ortlosigkeit, die ihn quält, der Verlust moralischer Gewissheiten, die zehn Jahre Kriegsalltag und Propaganda im Irak zerstört haben. Der Erzähler ist verloren und offen zugleich.

    Und deshalb überlässt er seiner Nachbarin auf der tagelangen Fahrt in einem gestohlenen Mercedes das Wort. Sie gestattet ihm einen ungeschminkten Blick hinter die Fassade der islamischen Frauenrolle. Denn sie hat einst das Vertrauen der nationalen Puffmutter gewonnen, die auf Wunsch des Diktators die Prostitution zur Staatsangelegenheit machte.

    Damit die Fassade familiärer Treue stets gewahrt blieb, die Soldaten aber trotzdem willig an die Front zogen, wurden überall in Grenznähe Bordelle errichtet, die sogenannten "neuen Häuser für den notwendigen Dienst". Mit einem Wort: es werden unweigerlich Erinnerungen an George Orwells Roman "1984" wach. Der Staat in seinem Allmachtsanspruch lässt keinen Raum mehr für Liebe und Menschlichkeit. Für den Erzähler und seine Begleiterin kann die Reise deshalb nur ein Ziel haben:

    Tell-al-Lahm ist ein Ort, der fast diskriminiert, vergessen war im Irak, ist ein kleiner Ort, war ein Friedhof da, und dieser Friedhof war nur für Fremde, Fremde haben da ihre Leute beigesetzt und uneheliche Kinder. Und die alten Frauen haben Knochen ausgegraben für ihre Amulette und abergläubige Geschichten. Und das war ein Hügel: weil Tell ist ein Hügel auf Arabisch und Lahm ist Fleisch an sich. [...] 26:35 Auf jeden Fall: dieser Ort heißt Fleischberg - Tell-al-Lahm - dieser Hügel war auch ein Durchweg für Schmuggler Richtung Saudi-Arabien. Und ironischerweise, als die Bodentruppen, die Alliierten 1991 einmarschiert sind in Irak: Da haben sie ihren Stopp gemacht.

    Die Reise nach Tell-al-Lahm ist ein bitterer, ein tiefschwarzer, tabuloser Roman über die Nachtseiten der Diktatur Saddam Husseins. Najem Wali, der sein Geld als freier Journalist verdient, besticht durch seinen illusionslosen Blick auf die allgegenwärtige rituelle Heuchelei, auf Machtmißbrauch, sexuelle Nötigung, Verrat und Menschenverachtung. Äußerlich hat er seinen Roman an das Erzählschema der Bücher Mose angelehnt. Doch fächert er die beziehungsreich verschachtelte, zwischen den Zeiten hin und her springende Handlung in eine Vielzahl von zum Teil wunderbar bizarren Lebensgeschichten auf: so über einen Palmenkletterer und Hahnenbändiger, dem im totalitären System ein fulminanter Aufstieg gelingt.

    Der Sinn für Ironie ist Najem Wali aller Düsternis zum Trotz jedenfalls nicht abhanden gekommen. Denn die Machos im Militärstaat entlarven sich selbst, während die Frauen mit ihrem Realitätssinn retten, was zu retten ist – so zum Beispiel, indem sie Operationen zwecks Zusammennähen des Jungfernhäutchens vermitteln. In jedem Fall: sofern der Roman eine Botschaft hat, dann die, dass das Erzählen und Sich-gegenseitig-zuhören zum Rettungsanker werden kann.

    Ich sammele Geschichten, und ich reflektiere diese Geschichten in ihrer Umgebung - und das ist manchmal gut, daß ich da nicht im Irak war. Als ich in den Irak jetzt eingereist war, ich habe gedacht: Wenn ich da war, hätte ich den Roman nicht schreiben können.

    Die Distanz des Exils ist Najem Walis literarischer Motor. Er habe sich, sagt er, sein Heimatland "immer wieder nach seinen Vorstellungen neu ausgemalt". Sein erster Besuch im Irak nach mehr als 20 Jahren im letzten Frühjahr hat ihn ernüchtert. "Die Rückkehr", sagt er, "ähnele dem Weg ins erste Exil." Und deshalb wird Najem Wali Exilant bleiben, ganz gleich ob in seiner zweiten Heimat Deutschland oder in einem anderen Land.

    Najem Wali
    Die Reise nach Tell-al-Lahm
    Hanser, 320 S., EUR 24,90