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Old School trifft Zukunft (1/5)
Strenge Regeln - die Eliteschule im benachteiligten Stadtteil

Seit der Jahrtausendwende erprobt Großbritannien ein neues Rezept für bessere Bildung: Viele Schulen in ärmeren Stadtteilen sind jetzt selbstständige "Academies", die wie Elite-Schulen auf Disziplin und Leistung setzen. Die berühmteste Vorzeige-Schule dieser Art ist die Mossbourne Academy im Osten Londons.

Von Benjamin Dierks | 12.11.2018
    Schultor, Schulhof und Teil des Schulgebäudes der Mossbourne Community Academy. Die Schülerinnen und Schüler werden morgens eingelassen, danach wird das Haupttor geschlossen.
    Schultor, Schulhof und Teil des Schulgebäudes der Mossbourne Community Academy. Die Schülerinnen und Schüler werden morgens eingelassen, danach wird das Haupttor geschlossen. (Benjamin Dierks )
    Die Menschentraube vor dem Schultor der Mossbourne Community Academy im Bezirk Hackney im Osten Londons wird größer und größer. Eltern begrüßen Bekannte aus der Nachbarschaft, Kinder spielen. Die Gruppe ist so gemischt wie der Stadtteil: Einst war er ein sozial benachteiligter Arbeiterbezirk. Viele afrokaribische Einwanderer leben hier. Dann zogen Künstler und Studenten her, heute ist Hackney auch unter Gutverdienern beliebt.
    Als zwei Mitarbeiter der Schule das große vergitterte Tor öffnen, ziehen sich bereits lange Schlangen auf beiden Seiten des Eingangs über den Fußweg. Grund des Andrangs: Die Mossbourne Community Academy hat zum Tag der offenen Tür geladen.
    "Wir werden streng sein, aber gerecht"
    "In this class I will aspire to maintain an inquiring disposition…"
    In der Turnhalle stimmt der Schulchor einen Kanon an, während die Besucher die Stuhlreihen füllen. Die Jungen und Mädchen in grau-roten Schuluniformen singen davon, dass sie neugierig und aufmerksam mitarbeiten wollen, um alles aus sich herauszuholen. Nach dem Gesang ergreift die Schulleiterin Rebecca Warren das Wort und gibt den Eltern und Kindern eine Vorstellung davon, was sie erwartet, wenn sie diese Schule wählen:
    "You may be aware that Mossbourne Community Academy carries with it a reputation for no-nonsense values, clear non-negotiable expectations, and strictness."
    Mossbourne sei für klare Werte, hohe Erwartungen und strikte Regeln bekannt, sagt Warren. Sie hat ihre dunkelbraunen Haare vorn zum Pony geschnitten. Sie liest jedes Wort konzentriert von einem Zettel ab. Streng sei man hier, fügt sie hinzu, aber auch gerecht:
    "We will be strict but we will be fair."
    Ein Leuchtturm im einst benachteiligten Bezirk
    Die Academy ist in den 14 Jahren seit ihrer Gründung zu einer der berühmtesten Schulen Großbritanniens geworden und hat einen wesentlichen Teil dazu beigetragen, die Schulbildung nicht nur in Hackney, sondern im gesamten Land gründlich umzukrempeln.
    "Als die Schule 2004 eröffnet wurde, gingen um die 40 Prozent der Kinder aus Hackney nicht hier auf die Schule, sondern anderswo, weil sie so unzufrieden mit den weiterführenden Schulen waren." - Alice Painter ist seit der Gründung der Schule dabei. Sie war vorübergehend Schulleiterin und ist heute für Zulassungen und Inklusion zuständig.
    "Mossbourne sollte eine Leuchtturmschule sein, um den Kindern aus Hackney ausgezeichnete Bildung zu bieten."
    Wo heute das moderne Schulgebäude aus Glas, Stahl und Holz steht, war einst die Hackney Downs School beheimatet, eine von der Kommune betriebene Comprehensive School, eine Gesamtschule, die eher durch Drogendelikte und Gewaltverbrechen von sich reden machte als durch erfolgreichen Unterricht.
    "Wir erzielen herausragende Ergebnisse"
    So wie hier sah es in vielen sozial benachteiligten Gegenden des Landes aus. Die damalige Labour-Regierung setzte dem ihr Academies-Programm entgegen - gescheiterte staatliche Schulen sollten durch sogenannte Academies ersetzt werden. Alice Painter:
    "Wir erzielen herausragende Ergebnisse, wir gehören landesweit durchgängig zum besten Prozent der Schulen, in Hackney führen wir in der Regel. Im vergangenen Jahr haben acht unserer Schüler einen Studienplatz in Oxbridge erhalten, was ein sehr hoher Anteil bei einer Oberstufe von rund 130 Schülern ist."
    Von einem Studium in Oxford oder Cambridge konnten viele Jugendliche aus Hackney bis dahin nur träumen.
    Aber der Erfolg hat seinen Preis: Die Schüler müssen sich an strikte Verhaltensregeln halten und werden schon bei kleinsten Vergehen hart bestraft. Wer zum Beispiel im Unterricht oder auf den Fluren redet, wer die Schuluniform nicht exakt so trägt wie vorgeschrieben, zu spät kommt oder ein Buch vergisst, muss nachsitzen. Mossbourne hat im britischen Schulsystem ein striktes Regelwerk eingeführt, das bis dahin nur aus privaten Eliteschulen bekannt war.
    "Einfache Regeln, aber die werden rigoros durchgesetzt"
    "Okay, we need some help, so with me now in three, two, one..."
    Painter tritt auf eine offene Galerie, auf die viel Licht durch ein Glasdach fällt. In einem angrenzenden Klassenraum sitzt eine neunte Klasse beim Matheunterricht. Die Lehrerin fordert die Schülerinnen und Schüler per Countdown auf, Stift und Papier liegenzulassen und sie anzublicken. Alle tun, wie ihnen gesagt wurde.
    "Wir erwarten ordentliches Verhalten und wir erwarten, dass die Lehrer die gesamte Schulstunde über ohne Störungen unterrichten können. Wir haben einfache Regeln, aber die werden rigoros durchgesetzt."
    Tories fanden Gefallen an der linken Idee
    Die Idee von Mossbourne hat viele Nachahmer gefunden im Königreich. Unter der Labour-Regierung wurde noch eine überschaubare Zahl von rund 200 Schulen zu Academies. Fahrt nahm das Programm auf, als die Konservativen gemeinsam mit den Liberalen an die Macht kamen.
    "Jede als besonders gut bewertete Schule konnte sich nun von der Kommunalregierung lösen und zur Academy werden, was ihnen durch erhebliche Zuschüsse schmackhaft gemacht wurde", sagt Becky Francis, die das Institut für Erziehungswissenschaft am University College London leitet.
    Die Tories fanden Gefallen an der einst linken Idee, an der Rückbesinnung auf traditionelle Werte und der Privatisierung der Schulverwaltung, zumal das nun auch noch als sozial gerecht galt.
    "Sehr schnell wurde ein Großteil unserer weiterführenden Schulen zu Academies. Und das hat unser Schulsystem gewaltig verändert."
    Inzwischen ein Modell für die Mehrheit
    Heute sind gut drei Viertel der weiterführenden Schulen und ein Viertel der Grundschulen in Großbritannien Academies. Viele von ihnen verfolgen ebenfalls strikte Regeln und traditionelle Lehrpläne. Was die guten Ergebnisse angeht, können aber bei weitem nicht alle mit Mossbourne mithalten.