Freitag, 29. März 2024

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Oliver Rolin
"Letzte Tage in Baku"

In seinem Reisebericht "Letzte Tage in Baku" begibt sich der französische Journalist Olivier Rolin auf den Weg nach Aserbaidschan. Dort fand er nicht nur eine Vergangenheit, in der Baku als "Weltstadt des Öls" galt. Rolin stellt sich mit viel Humor und Vorstellungskraft auch der eigenen Vergänglichkeit.

Von Cornelius Wüllenkemper | 04.09.2014
    Die Altstadt der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku mit Minaretten liegt vor dichtbebauten neuen Hochhäusern.
    Das Zentrum von Baku: Im Vordergrund die Altstadt der Kaukasusmetropole. (Deutschlandradio / Sven Töniges)
    Eine kleine, schwach beleuchtete Wohnung mit niedrigen Decken, zwischen Seine-Insel, Jardin du Luxembourg und Quartier Latin. Der Salon ist über und über mit Büchern gefüllt, dazwischen ein kleiner Schreibtisch mit Zettelbergen und einem Computer. Hier liest und schreibt Olivier Rolin, wenn er nicht unterwegs ist in der Welt.
    "Schreiben hat für mich immer viel mit dem Gefühl zu tun, nicht zu Hause zu sein. Gut, wir beiden sprechen jetzt hier, in Paris, in der Wohnung, in der ich seit 30 Jahren lebe, voll mit meinen Büchern. Natürlich bin ich hier zu Hause. Es ist mein Land, meine Stadt, mein Ort, ich verbinde viele Erinnerungen und natürlich die Sprache mit diesem Ort. Dennoch fühle ich mich nicht wirklich als Teil des sozialen oder des politischen Lebens. Das Gefühl, nirgendwo wirklich 'bei sich' zu sein, weder in einer Zeit, noch an einem Ort, das hängt für mich eng mit dem Schreiben zusammen."
    Bevor sich Rolin Mitte der 1970er-Jahre der Literatur zuwandte, hatte er an der Seite seines Bruders Jean, der sich heute ebenfalls als Autor einen Namen gemacht hat, eine militante maoistische Gruppe angeführt. Die Zeit im Untergrund, das Gefühl, irgendwie nicht dazuzugehören, nicht "Teil der Epoche zu sein", wie Rolin es ausdrückt, prägen seine Berichte und Romane bis heute:
    "Ich habe angefangen zu schreiben, weil ich über diese Zeit nachdenken wollte. Sechs oder sieben Jahre habe ich im Zustand einer fieberhaften Getriebenheit für politische Gewalt verbracht. Eine absolute Unkultur! Gelesen haben wir wenn überhaupt nur Schriften von Mao. Kein Kino, keine Musik, nichts! Ich musste darüber nachdenken, was ich mir von dieser Zeit bewahren wollte, zum Beispiel den Enthusiasmus und die Großzügigkeit, und was ich absolut loswerden wollte. So habe ich angefangen, mein erstes Buch zu schreiben."
    Tod in Worten
    Zehn Romane sind seitdem erschienen, etliche Reiseberichte und journalistische Reportagen. 2003 befindet sich Rolin auf dem Rückweg von einer Reportagereise nach Afghanistan mit Zwischenstopp in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans. Er nächtigt im Hotel Apchéron, dessen Name ihn an den griechische Totenfluss Acheron denken lässt. Noch im Hotelzimmer verfasst er eine Kurzgeschichte über seinen eigenen Tod durch Selbstmord im Jahre 2009. Die Geschichte erscheint in einer Erzählsammlung 2004 in Frankreich, und auf dem Einband wird sogar das Todesdatum des Autors angegeben. 2009, im Jahre seines angekündigten Todes, setzt Rolin dieses literarische Spiel fort: Er reist erneut nach Baku und will herausfinden, ob ihn der literarisch fantasierte Tod jetzt vielleicht auch real ereilt:
    "Ich wollte dahin zurückkehren, um mit dem Tod, oder dem Wort dafür zu spielen. Im Französischen unterscheidet nur ein einzelner Buchstabe zwischen 'Tod' und 'Wort'. Wenn in 'Letzte Tage in Baku' 84 Mal das Wort 'Tod' auftaucht, dann geht es nicht immer um mein eigenes Ende, sondern um den Tod historischer Figuren in Ländern im Kaukasus und in der ehemaligen Sowjetunion, die eben eine ziemlich gewalttätige Geschichte haben."
    Das Todesmotiv führt Rolin auf einen Streifzug durch Aserbaidschan und Turkmenistan. Er berichtet über die brutale Erbarmungslosigkeit des georgischen Agitators und Schürzenjägers Iossif Dschugaschwili, der später unter dem Namen Josef Stalin sein tödliches Erbe hinterlassen wird. Wir erfahren von den Opfern der Konflikte zwischen Briten und Bolschewisten in Turkmenistan um 1918 und von den Gräueltaten der Armenier gegen die Aserbaidschaner nach der Auflösung der Sowjetunion. Olivier Rolin lässt sich auf seiner Reise durch den postsowjetischen Kaukasus einnehmen von der "trostlosen Landschaft der Ölindustrie, vollkommen zerfallen, düster und großartig". Immer wieder kehrt Rolin aber zu seinem Ausgangsthema zurück, dem Freitod des Schriftstellers, ob Malcolm Lowry, der aserbaidschanische Poet Sergej Jessenin, Virginia Woolf oder Guy Debord. Und immer wieder folgen wir dem reisenden Icherzähler auch in seine Fantasien von spektakulären Unfällen oder anderen Vorstellungen vom eigenen Ende.
    "Dort, wo das Motiv des Todes am wahrhaftigsten, am schmerzhaftesten oder auf jeden Fall am furchterregendsten ist - das ist nicht, wenn ich mir vorstelle, wie ich sterben könnte oder mir das Leben nehme. Nein, am Schlimmsten wäre es, wenn ich merken würde, dass alles, was ich geschrieben habe, nicht überleben wird, dass alles umsonst war. Das wäre ein wirklicher Tod!"
    Und so wird aus Rolins Meditation über Literatur und Tod, aus diesem heiter-düsteren Reisetagebuch zugleich eine Rückschau auf das eigene Werk. Das Aufspüren der eigenen Vergänglichkeit wird bei Rolin zu einem raffinierten und ebenso amüsanten literarischen Spiel mit Perspektiven und Erzählhaltungen, irgendwo zwischen Ich-Fantasie, Reisebericht und geschichtlichem Rückblick.
    Papier macht geduldig
    Anders als beim Todesmotiv zu erwarten wäre, trifft Rolin dabei stets einen humoristischen Ton voller heiterer Melancholie und sanfter Selbstironie. In Rolins Reisetagebuch ist die Handschrift eines geläuterten politischen Extremisten zu lesen: Durch die Literatur habe er die Duldsamkeit gegenüber der Realität gelernt, so sagt Rolin. Schreiben versteht er als Waffe gegen zu einfache Lösungen in einer unauflösbar vieldeutigen Welt:
    "Ich habe etwas gegen offensichtlich politische Literatur, die einem Lehren erteilen will. Literatur eignet sich nicht, um ein bestimmtes Programm zu verfolgen. Literatur macht einen allerdings intelligenter, das ist es! Sie macht die Kräfte des Geistes freier und stärker. Wenn es eines Tages keine Literatur mehr geben sollte - was man nicht ausschließen kann - geht es der Welt schlechter, auch politisch."
    "Letzte Tage in Baku" ist also nicht nur demjenigen zu empfehlen, den die Geschichte des Kaukasus' und die verfallene Größe des Sowjetreiches interessieren, der ein Faible hat für marode Industrieanlagen, verrottete Stalin-Büsten und für heitere Melancholie in grauer Landschaft. Olivier Rolin ergründet in seiner Reise auf den Spuren der Vergänglichkeit ganz spielerisch auch das stets unsichere, nie eindeutige Verhältnis zwischen Fiktion und Realität, zwischen Autor und Welt. Rolins essayistischer Bericht ist das humorvolle Selbstporträt eines Mannes, der mit der Literatur als Waffe in der Hand gegen die Vergänglichkeit kämpft.
    Olivier Rolin: "Letzte Tage in Baku"
    Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Liebeskind Verlag, 155 Seiten (mit Fotos)