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Olivier Rolin: "Meroe"
Obsession des Scheiterns

Romane über den Verlust der großen Liebe kippen leicht ins Larmoyante. Nicht so beim französischen Schriftsteller Olivier Rolin. Er verschränkt in "Meroe" intelligent gebrochene Nabelschau mit Exkursen in die Geschichte des Sudans Mitte der 1990er-Jahre - und entführt ins Milieu rivalisierender deutscher Archäologen.

Von Christoph Vormweg | 28.03.2017
    Die Pyramiden des Nordfriedhofs von Meroë im Sudan.
    Die Pyramiden des Nordfriedhofs von Meroë im Sudan. (imago/Fabian von Poser)
    Olivier Rolins Roman "Meroe" - benannt nach der einstigen Königsstadt am Nil - ist vor 15 Jahren schon einmal bei uns erschienen. Erstaunlicherweise gab es kaum Resonanz. An Jürgen Ritte, der das Psychodrama des von seiner großen Liebe verlassenen Erzählers mitreißend ins Deutsche übertragen hat, kann es nicht gelegen haben.
    Auch nicht am krisengeschüttelten Sudan, wo Anfang und Ende des Romans spielen. Denn dieses – wie es heißt - "Land der Trugbilder und Hirngespinste" ist ein aufschlussreicher Spiegel der europäischen Kolonialgeschichte.
    Forscherrivalität zwischen alter BRD und Ex-DDR
    Mehr noch: Im dortigen Archäologen-Milieu – und das ist für Leser hierzulande von besonderem Reiz – kommt es zu Rivalitäten zwischen Forschern der alten Bundesrepublik und der Ex-DDR. Kurzum: Die Neuausgabe dieses schillernd-abgründigen Romans ist mehr als berechtigt.
    "Meroe" spielt Mitte der 1990er-Jahre im Sudan, damals eine islamistische Diktatur. Das strikte Alkohol-Verbot kommt dem Text zugute. Denn der Erzähler, der im Hotel auf das Eintreffen der Polizei wartet, kann sich so erst gar keinen männerüblichen Krisenbewältigungsrausch antrinken. Nein, er hangelt sich von Zigarette zu Zigarette und notiert hellwach seine Sicht auf die jüngsten Ereignisse.
    Suche nach sich Selbst und ängstliche Unruhe
    Es geht um Schuld, in mehrfacher Hinsicht, um eine Schuld, die juristisch schwer nachweisbar ist. Ganz bewusst hat der aus Paris geflohene Erzähler Khartum, diesen düsteren, von Kriegen gezeichneten Ort, als freiwilliges Exil gewählt. Olivier Rolin:
    "Wenn man in die Ferne - nach Sibirien oder in den Sudan - reist, an solche weit entfernten Orte, hat man den Traum, einen vergessenen Teil von sich selbst wiederzufinden. Das ist ein völlig irrationales Bedürfnis. Aber deshalb ist es nicht weniger anziehend, nicht weniger stark. Und zugleich erzeugt die große Entfernung zum eigenen Land, zu den eigenen Gewohnheiten eine Art Angst, eine Unruhe."
    Starke Erzähldynamik durch provisorische Entwurzelung
    Die gesuchte, nicht erzwungene, nur provisorische Entwurzelung ist der innere Motor etlicher Bücher von Olivier Rolin. Davon zeugen sein Reisebericht "Letzte Tage in Baku", sein Roman "Ein Löwenjäger" oder seine in der untergegangenen Sowjetunion spielende Romanbiografie "Der Meteorologe".
    Die für ihn typische Erzähldynamik entsteht durch die enge Verquickung von Gegenwart und Vergangenheit. In "Meroe" ist das nicht anders. Olivier Rolins höchst belesener Antiheld, der sich selbstironisch als "Schwätzer" und "postkolonialer Philosoph" tituliert, beschreibt nicht nur Episoden seines erlebten Liebesdesasters.
    Graben in Ruinen, Geschichte und Biografien
    Er taucht auch tief in die Geschichte des Sudans ab: Zum einen über die Lebensbilanz des vor Ort grabenden Archäologen Heinrich Vollender, der – Gerüchten zufolge – für die DDR spioniert hat; zum anderen über seine Recherchen zum Tod des englischen Generals Gordon, der 1884/85 als Gouverneur von Khartum lange der arabischen Belagerung standhielt.
    Dabei entwickelt der Erzähler eine eigene Theorie, wonach der Scheiternde sein Debakel immer auch selbst herbeiführt. Die Lektionen der Geschichte werden für ihn zum Spiegel des eigenen Werdegangs.
    "Das ist in der Tat ein Buch über den Ruin: Über Gordons Scheitern; über den Liebesverlust des Erzählers; über seinen Fehlschlag beim Versuch, eine Frau zu finden, die ihn an die Verschwundene erinnert; über das Scheitern des Archäologen, der seine Entdeckungen niemandem weitergeben wird. Kein Wunder, dass es da verlassene Existenzen gibt, Schiffswracks, archäologische Ruinen. Ja, es ist ein sehr melancholisches Buch."
    Wahnhafte Suche nach der Frau
    Die Liebe ist für Olivier Rolins Protagonisten wie das Entsetzen: "Eine gewaltige Kraft". Im Mittelteil des Romans, der in Paris spielt, erzählt er von seiner immer wahnhafteren Suche nach einer Doppelgängerin der schönen Alfa, die ihn verlassen hat.
    Mit aller Macht versucht er, die verlorenen Gefühle wiederzubeleben. Er gleicht einem Sisyphus, der seine Phantasmen immer wieder vergeblich den Berg der Sehnsucht hinaufrollt, oder einem Stalker, der nicht mehr weiß, wo er die Geliebte suchen soll. Die Intensität der Liebe hat sich ganz in die Fantasie verlagert.
    Im fernen Sudan ist der Verlust für den Erzähler erträglicher. Mit Harald, einem Stelzvogel, unterhält er sich über Sinn und Unsinn der Existenz. Oder er vertreibt sich die Zeit mit einer schönen sudanesischen Soldatin.
    Spannungsgeladene, wachsende Ungewissheit
    Auch mit der westdeutschen Archäologin Else bändelt er an. Denn ihre Stimme gleicht fatalerweise der seiner geliebten Alfa. Als Else bei einem Erdrutsch auf der Grabungsstätte in Meroe stirbt, bleibt die Frage: Wer trägt wie viel Schuld an ihrem Tod? Das Finale des Romans "Meroe" gipfelt in einem Feuerwerk der Hypothesen:
    "Ich mag es, wenn Bücher nicht mit Gewissheiten enden. Die Vorstellung einer Lösung finde ich ein wenig kindisch. Viele Dinge im Leben lösen sich nicht. Man weiß nicht genau, was passiert ist, warum etwas passiert ist, et cetera. Ich ziehe die Bücher, die verwirren, denen vor, die entwirren. Denn da sind viel mehr Interpretationen des Geschehens möglich. Ich mag es, wenn die Ungewissheit im Laufe des Buches immer mehr zunimmt."
    Abgöttische Liebe als Illusion
    "Meroe" ist ein Roman, der keine Eindeutigkeit zulässt und damit Spannung erzeugt. Es genügt, die Perspektive zu wechseln, und schon stürzen die vermeintlichen Tatsachen in sich zusammen. Olivier Rolin zeigt, dass Gewissheiten nur Fiktionen sind. Das war schon die große Stärke seines autobiografischen Romans "Die Papiertiger von Paris", in dem er die Geschichte seines militanten - erst kommunistischen, dann maoistischen - Engagements im Umfeld der 68er-Revolte beschrieben hat.
    Nach dem gewaltbereiten Linksextremismus entlarvt er in "Meroe" die abgöttische Liebe als wahnhafte, nur um sich selbst kreisende Illusion. Seinen Figuren folgt er dabei mit Sympathie, ohne erhobenen Zeigefinger. Denn sie sind Suchende, die mehr vom Leben erwarten als bloßes Konsumglück.
    Irritierende, sinnlich aufgeladene Historie
    Wie der gefeierte Mathias Énard demonstriert Olivier Rolin in seinen Romanen ein erhöhtes Geschichtsbewusstsein. Schriftsteller wie sie eröffnen ganz andere Zugänge zur Realität als Historiker. Denn ihre Literatur erschafft irritierende, sinnlich aufgeladene Zusammenhänge.
    Olivier Rolin besticht dabei nicht nur durch seine präzise, elegant verschachtelte Prosa und durch gebrochen exotische Bilder des Verfalls. Sein Roman "Meroe" ist auch mit einer gehörigen Portion Ironie gewürzt. Denn was zählt in einer postkolonialen islamistischen Diktatur heute schon noch ein Europäer?
    Olivier Rolin: "Meroe"
    Aus dem Französischen von Jürgen Ritte.
    Liebeskind, München 2017. 304 Seiten, 22 Euro.