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Olympia Sicherheit
Blutige Olympia-Woche

Vor Rio de Janeiro hat es bei den Olympischen Spielen vielleicht nie einen größeren Kontrast gegeben zwischen Olympia-Welt und der Wirklichkeit. Um die Sportstätten und in den Touristenvierteln beschützen 88.000 Sicherheitskräften den Spitzensport und seine Gäste. Außerhalb herrscht Gewalt und Lebensgefahr. Das gilt für einen Großteil der acht Millionen Einwohner von Rio de Janeiro und ist auch während der Spiele bitterer Ernst.

Von Carsten Upadek | 13.08.2016
    Sicherheitskräfte bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele von Rio
    Sicherheitskräfte bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele von Rio (picture alliance / dpa Lukas Schulze)
    Am Freitag (12.08.2016) im "Complexo do Alemão", einem Zusammenschluss aus Armenvierteln mit 200.000 Einwohnern im Norden von Rio de Janeiro: Heftige Schusswechsel.
    Eigentlich ist der Deutschlandfunk mit Thainã de Medeiros verabredet, einem Aktivisten und Anwohner der Region. Aber Thainã sagt kurzfristig ab – zu gefährlich. Stattdessen dreht er von seiner Wohnung aus ein Video. Zu sehen ist ein Meer aus schlichten Backsteinhäusern und dazwischen eine aufsteigende Rauchsäule. Zu hören sind Schüsse und die Stimme von Thainã, der kommentiert:
    "Schüsse, sehr viele Schüsse. Das ist also die Stadt der olympischen Spiele. Wirklich traurig, aber so ist das hier jeden Tag." Dann gibt es einen lauten Knall. "Eine Granate. Ich werde mich nicht von hier wegbewegen, das wäre zu gefährlich."
    Mindestens 14 Tote durch Schusswechsel
    In Rio de Janeiro geht eine blutige erste Olympiawoche zu Ende. Die Bilanz laut Amnesty International: bisher sind 14 Menschen durch Kugeln gestorben, mindestens 32 wurden zum Teil schwer verletzt. Donnerstagnacht erlag Hélio Andrade seinen Verletzungen. Er war Soldat der Nationalgarde und nach Rio geschickt worden, um für Sicherheit bei den Olympischen Spielen zu sorgen. Seine beiden Begleiter wurden im Kugelhagel schwer verletzt. Unbewaffnet hatten sie sich am Mittwoch mit ihrem Militärfahrzeug verirrt und waren in ein Armenviertel geraten, das von einer kriminellen Bande kontrolliert wird.
    "Das war ein beklagenswerter, feiger Angriff", reagierte Brasiliens Justizminister Alexandre de Moraes noch am gleichen Abend. "Wir haben bereits zwei Täter identifiziert und werden schnellstens Handeln."
    Das tat der Staat: Am nächsten Morgen rückten 200 Einsatzkräfte in das Armenviertel in Maré ein. Der Favela-Komplex mit etwa 170.000 Einwohnern liegt eingeschlossen von Rios beiden wichtigsten Zufahrtsstraßen zwischen internationalem Flughafen und Stadtzentrum. Bei der Großoperation wurden drei junge Männer angeschossen, einer davon starb. Eine Bestätigung, dass es sich bei ihnen um Mitglieder der kriminellen Bande handelt, gibt es nicht.
    Rache statt Sicherheit
    "Das ist eine Standard-Antwort der brasilianischen Polizei" sagt Vitor Abdala, Sicherheitsspezialist der brasilianischen Presseagentur. "Sie wollen rein in die Favela und töten. Das ist mehr eine Frage der Rache, als eine Frage der öffentlichen Sicherheit."
    Am Abend des gleichen Tages starben in einem Armenviertel nicht weit entfernt vom Olympia-Leichtathletik-Stadion "Engenhão" bei einer Polizeioperation drei junge Männer, 22-, 15- und 14 Jahre alt. Zwei weitere wurden angeschossen. Wütende Angehörige trugen den Leichnam des 15-Jährigen auf eine der wichtigsten Zufahrtsstraßen im Norden von Rio, besetzten die Straße und zündeten aus Protest einen Linienbus an. Der Junge habe nichts mit Drogenhandel zu tun gehabt, behaupten sie.
    "Aus meiner Sicht dürfte nicht passieren, was gerade passiert", sagt Journalist Vitor Abdala. Damit meint er bewaffnete Konflikte während der Olympischen Spiele. "Die Schusswechsel passieren, weil die Polizei in die Armenviertel einrückt, nicht weil es einen Kampf unter kriminellen Fraktionen gibt. Ich hätte gedacht, die Polizei würde in diesem Moment nicht provozieren, aber sie provoziert."
    Tote bei Polizeieinsätzen sind nichts Neues in Rio de Janeiro. Amnesty International zählte für das vergangene Jahr 600. Das Grundproblem: "Unsere Politik der öffentlichen Sicherheit ist in den letzten Jahren keinen Schritt vorangekommen – sie basiert auf der Besetzung von Armenvierteln. Aber das funktioniert nicht."
    Hauptsache die Spiele laufen
    Aber gerade schaut mindestens die ganze Sportwelt auf Brasilien. Dessen Regierung rief für den getöteten Soldaten der Nationalgarde gestern einen Tag Staatstrauer aus. In Rio trafen sich hochrangige Regierungsvertreter, um die Sicherheitslage zu beraten. Eine Änderung des Konzepts für die Olympischen Spiele schloss Brasiliens Sicherheits-Kabinettschef Sergio Etchegoyen aber aus.
    "Die Spiele laufen doch in völliger Ruhe! Es sind ein paar Sachen in der geographischen Peripherie passiert, sie sind Resultat der verbleibenden Kriminalität von Rio de Janeiro. Aber davon abzuleiten, dass wir vor der Welt ein mieses Bild abgeben oder dass diese Probleme größer sind als die Olympischen Spiele: Nein, der olympische Geist ist viel stärker als dieser böswillige Geist!"
    Mindestens, solange man diesen "böswilligen Geist" mit Zäunen und Soldaten aussperren kann – aus der schönen, geschlossenen Welt des olympischen Sports.