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Olympischer Gigantismus
65000 Kilometer bis Sotschi

Quer durchs ganze Land, zum ersten Mal zum Nordpol, dazu mit einer Rakete ins Weltall. Auch der Fackellauf vor den Winterspielen in Sotschi geht auf Rekordjagd.

Von Gesine Dornblüth | 18.01.2014
    Der Rote Platz in Moskau am 7. Oktober. Zufällig ist es der Geburtstag des Präsidenten Wladimir Putin. Auf der Bühne entfacht der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin die erste olympische Fackel: Futuristisch geschwungen, aus hell schimmerndem Aluminiumguss. Sobjanin übergibt die Fackel an die erste Trägerin, Anastasia Davydova, fünffache Olympiasiegerin im Synchronschwimmen. Der Moderator wünscht dem olympischen Feuer eine gute Reise. “Dobryj put olimpijskij ogon!“
    Es soll eine lange Reise werden, der längste Fackellauf aller Zeiten: 65.000 Kilometer. 15.000 Fackeln sind dafür hergestellt worden. Stückpreis rund 300 Euro. Wenig später passiert die erste Panne. Als Fackelträger Schawarsch Karapetjan, mehrfacher Schwimmolympiasieger, in den Kreml einläuft, ist die olympische Flamme erloschen. Karapetjan gestikuliert, winkt Hilfe herbei. Millionen Zuschauer verfolgen live im Fernsehen, wie ein Wachmann die olympische Flamme mit einem einfachen Feuerzeug neu entfacht.
    Es bleibt nicht das einzige Malheur. Das Feuer erlischt in den kommenden Wochen noch viele Male. Mehrere Fackelträger entzünden sich aus Versehen selbst. Einer stirbt an einem Herzinfarkt. Der Begeisterung der Beteiligten und der Zuschauer tut das keinen Abbruch. Ein ums andere Mal flimmern spektakuläre Fernsehbilder in die Wohnzimmer. “Wir sind heute in einer einzigartigen Situation. Zum ersten Mal in der olympischen Geschichte reist das olympische Feuer an den Nordpol. Zweitens passiert das zum ersten Mal in so einer Jahreszeit. Und drittens sind wir mit dem größten atombetriebenen Eisbrecher Russlands unterwegs.“
    Es ist der 9. November. Der Eisbrecher mit dem Namen “50 Jahre Sieg“ ist aus dem russischen Hafen Murmansk ausgelaufen, mit Kurs auf den Nordpol. An Bord eine internationale Crew und das olympische Feuer. Das Schiff erreicht sein Ziel in 91 Stunden, eine Stunde schneller als alle Schiffe zuvor, wie der Fernsehreporter betont. Scheinwerfer erleuchten die Polarnacht. Den Fackelträgern gefriert bei minus 25 Grad der Bart. “Der erste Olympische Rekord ist gesichert. Wir konnten alle Hindernisse überwinden, sogar die Polarnacht. Jetzt ist die Hauptsache, dass sich die Rekorde fortsetzen, im Februar 2014, in Sotschi.“
    Zwei Wochen später ist das olympische Feuer auf dem Weg in den Kosmos, an Bord einer Sojus-Rakete. Das Fernsehen ist erneut live dabei. Alles läuft nach Plan. Im Inneren der Rakete baumelt ein Olympiamaskottchen in die Kamera, der Eisbär, weiß wie die Anzüge der Kosmonauten. Auf der internationalen Raumstation ISS angekommen, tragen zwei Kosmonauten die Fackel hinaus in den Weltraum. Dass sie dabei nicht brennt, ist dies Mal beabsichtigt, es wäre technisch problematisch. Dafür wird genau diese Fackel das Feuer in Sotschi entzünden. Wieder überschlägt sich ein Reporter vor Begeisterung: “Dieser Moment ist bereits in die Geschichte eingegangen. Niemals wurde das olympische Motto ‘Höher, schneller, stärker‘ so schnell, so hoch und so kräftig umgesetzt. Was wir jetzt gleich sehen, kann man eine echte Spezialoperation nennen. Das ist technisch sehr schwierig. Denn das Wasser ist kalt, 3 bis 4 Grad, das Wetter ist nicht stabil, vor einer Stunde hat es noch geschneit, und man muss die Arbeit einer Menge Leute koordinieren.“
    Weitere zwei Wochen später. Das Feuer ist unterwegs auf den Grund des Baikal-Sees. Die Übergabe findet in einer Tiefe von 15 Metern statt, dann geht es weiter auf 26 Meter Tiefe. Die Fackel ist so präpariert, dass die Flamme auch unter Wasser brennt. Das Schauspiel in den Tiefen dauert wenige Augenblicke. Doch damit nicht genug. Zum Abschluss schießt ein Mensch, James Bond gleich, gestützt von einem Wasserschlauch, aus den Fluten in die Höhe und schwebt ans Ufer. Die Fackel in der Hand, natürlich. Kritiker fragen: Wozu der gigantische Aufwand? Dmitrij Tschernyschenko, Präsident des Organisationskomitees der Olympischen Spiele:
    Die Fackel hat eine Mission: Vor allem uns Russen in Erinnerung zu rufen, dass wir in einem großartigen Land leben, in dem es Dinge gibt, auf die man stolz sein kann. Wir können nicht nur auf Zurückliegendes stolz sein, auf das kulturelle Erbe, sondern auch auf heutige Errungenschaften, auf unsere großartige Natur, auf eine wunderbare Architektur und vor allen Dingen auf die Menschen.“
    Olympiagegner vermissen indes die „Seele“ bei dem Spektakel. Wladimir Geskin, stellvertretender Chefredakteur des renommierten „Sport-Express“, sieht es gelassen. Er ist selbst Fackelträger und freut sich darüber. “Einige Stationen, wie den Baikalsee und den Nordpol, haben sich die Organisatoren des Fackellaufs ausgedacht. Aber ansonsten haben die Städte, durch die das Feuer kommt, selbst angefangen, miteinander zu wetteifern. Jeder will etwas Einzigartiges bieten. Das läuft mittlerweile wie ein Wettkampf. Da schwimmen Leute mit der Fackel durch irgendwelche Flüsse, die denken sich alles Mögliche aus. Von der Seite betrachtet, ist das natürlich ein bisschen lächerlich. Aber was soll’s. Es kommen ja überall sehr viele Leute, um sich das anzuschauen. Freiwillig. Das ist Werbung für den Sport. Und für den Sport ist jede Werbung gut.“