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Olympischer Gigantismus
Gipfel der Absurdität

Mit Gesamtkosten von bis zu 55 Milliarden Euro wird das Olympia-Spektakel in Sotschi das teuerste in der Geschichte der Winterspiele sein. Für Russlands Präsident Putin ist es ein Prestigeprojekt ohnegleichen. Doch der Gigantismus der IOC-Spiele stößt zunehmend auf Kritik.

Von Thomas Kistner | 12.01.2014
    Die Eindämmung des Gigantismus hatte Jacques Rogge zum Kernziel seiner Amtszeit erhoben, neben dem Dopingkampf. Das war 2001, nach der Kür zum IOC-Präsidenten. In den 21 Jahren unter Vorgänger Juan Antonio Samaranch, einem rigiden Verfechter der Totalkommerzialisierung des Sports, war das IOC so tief in den Bann des Geldes geraten, dass ihm nach Korruptionsfällen der Untergang drohte. Viele wollten etwas abhaben vom ständig anschwellenden Reibach, der in den Ringe-Konzern floss. Samaranch, ein Banker und strammer Gefolgsmann im spanischen Franco-Faschismus, musste die Bühne räumen. Und Rogge übernahm, der kein Samaranch-Jünger war, sondern als Arzt die benötigte Reputation einbrachte. Der Belgier führte das IOC aus der Existenzkrise. Aber in punkto Gigantismus kam auch er über sein Wunschdenken nicht hinaus: Die Ringe-Show wucherte munter weiter.
    Rogge lernte, dass sich das auf 35 olympische Verbände festgeschriebene Olympia-Programm von innen nicht mehr bändigen lässt. Bereits für die Peking-Spiele 2008 wollte er Baseball, Softball und Modernen Fünfkampf sowie 24 Disziplinen und Wettbewerbe streichen – geopfert wurden nur je zwei Entscheide im Ringen und Schießen. Dem Lobbydruck der Verbände konnte selbst der Herr der Ringe nicht standhalten; Änderungen blieben marginal. Mit der Aufnahme von Golf und 7er-Rugby werden 2016 in Rio de Janeiro wieder 28 Sportarten geboten sein. In Sotschi sind es sieben. Stark gestiegen ist die Zahl der Wettbewerbe: Im Sommer wuchsen sie für den Zeitraum von 1988 bis 2012 von 237 auf 302. Und gab es 2010 im Winter von Vancouver 86 Wettbewerbe, sind es in Sotschi 98 – mehr als je zuvor.
    Neu dabei: Frauen-Skispringen, Ski-Halfpipe für Frauen und Männer, Mixed-Staffel im Biathlon, Teamwettbewerbe im Rodeln und Eiskunstlauf, Slopestyle und ein Snowboard-Spezialparallelslalom für Männer und Frauen. Dabei wird das Gros dieser Sportarten nicht universell, sondern weltweit nur von wenigen tausend Menschen betrieben. Einzig bei der Teilnehmerzahl ist mit 10.500 ein Limit gesetzt. Jedoch hat Rogge den Gigantismus mit einer neuen Veranstaltung befeuert: Die Jugendspiele sollen dem großen Olympia moderne Impulse liefern.
    Samaranch hatte die olympische Megalomanie Anfang der Achtziger Jahre angestoßen. Der Dreh besteht darin, die alten Ideale des Spiele-Gründers Coubertin über die TV-Vermarktung und das Sponsoring zu versilbern. Wasser predigen und Wein trinken wurde zur Erfolgsprämisse der letzten drei Dekaden: Die Mär von den Werten und der Reinheit der Spiele, ihrer Teilnehmer und Finanziers ist ein Reklame-Gag – doch für das große Ringe-Inkasso so unverzichtbar wie die Mär von der effektiven Dopingbekämpfung. Nur so lassen sich die Erlöse dieser gnadenlosen Pharma-Messe immer höher schrauben, nur so lässt sich ein Sportvatikan simulieren, den Weltkonzerne gern mit ihren Logos tapezieren. Ebenso die Fernsehsender, die Milliarden beisteuern.
    1985 begann die systematische Vermarktung. Seither verkauft das IOC die Rechte an einer Auflage von Sommer- und Winterspielen im Vierjahres-Paket. Kassierte das IOC aus seinem ersten Top-Sponsorprogramm bis 1988 rund 96 Millionen US-Dollar, kam für das Intervall 2009 bis 2012 schon das Zehnfache rein: 950 Millionen Dollar. Die TV-Erlöse verdreifachten sich von 1,25 Milliarden Dollar in der Periode 1993 bis 1996 auf 3,85 Milliarden für 2009 bis 2012. Acht Milliarden Dollar insgesamt erbrachte das letzte Vierjahres-Paket bis 2012, etwa zehn Milliarden stecken im laufenden Verkaufsprogramm bis Sommer 2016. Mit Rücklagen von über 600 Millionen Dollar könnte das IOC sogar den Ausfall der Spiele verkraften. An seinem Tropf hängt der größte Teil der Fachverbände, dazu 205 Nationale Olympische Komitees.
    Der monetäre Gigantismus prägt die Spiele, das Übel keimt überall im Veranstalter-Vertrag. Weil das IOC eine Distanz zwischen Flughafen und Sportstätten von höchstens 100 km bzw. einer Fahrtstunde wünscht, muss infrastrukturell massiv aufgerüstet werden. Zwar ziert der fromme Begriff Nachhaltigkeit die IOC-Dossiers: Dass es die gar nicht geben kann, liegt in der Logik von Randsportarten und lässt sich an zahllosen nicht nachgenutzten Sportstätten zeigen. Heuchlerisch wird auf bestehende Bauten verwiesen, doch wer mit alten Arenen antritt, kann das IOC-Wahlgremium kaum beeindrucken. Auch können ältere Bauten den extremen Kapazitätsbedarf für Zuschauer und Medien bei Olympia nicht abdecken. So nimmt mit Raum- und Umwelt- auch die Sozialverträglichkeit der Spiele ständig ab.
    Das führt zur Abwanderung der Spiele in autokratisch geführte Rohstoffländer. Doch solange es genug Spiele-Bewerber gibt, kann das IOC sogar geltendes Landesrecht aushebeln und höchste politische Gewalt ausüben. So wurde im Veranstaltervertrag ab 2004 eine "Olympic Identity Card" festgeschrieben – die kann das IOC jedem Mitglied seiner teils dubiosen Familie ausstellen. Sie ersetzt in Verbindung mit dem Reisepass das Einreisedokument ins Gastgeberland. Der Veranstalter muss also vom IOC akkreditierte Figuren selbst dann einreisen lassen, wenn diese kein Visum erhalten und nationales Recht gegen die Einreise stünde. Solche Schattenreiche locken die transnationale Geschäftswelt an; auch deren kriminellen Teil.
    Zur Kolonial-Attitüde passt, dass das IOC alle Risiken, vorneweg die Sicherheitsaufgaben, dem Veranstalter aufbürdet. Der trägt auch die Steuerlast. Derweil lässt das IOC sich und seine Familie – zu der die oft obskuren "Berater und Agenten“ zählen – von allen Schadenersatzansprüchen freistellen. Eine vierstellige Zahl von Hotelzimmern muss reserviert sein, zumindest 2004 durfte auch die gesamte Sippschaft gesundheitlich gratis überholt werden. Da warten Söhne, Töchter, Neffen und Agenten gern bis zu den Spielen mit der neuen Zahnbrücke.
    Das post-feudale Gebalze um ein paar Sportfunktionäre stößt immer mehr Bürger in freien Gesellschaften ab. Zuletzt bescherten Volksabstimmungen in der Schweiz, Frankreich, Österreich und Bayern dem IOC herbe Niederlagen. Zu abschreckend wirken die Exzesse, die Putins Russland in Sotschi feiert. Bis zu 55 Milliarden Euro werden im olympischen Feuer verbrannt; es wurden Flüsse umgeleitet und ganze Gebirgszüge gerodet. Nach Athen 2004, das enorm von der EU subventioniert wurde und zur griechischen Finanztragödie beitrug, und den Peking-Spielen 2008 mit ihren gewaltigen Bauruinen, zeigt Sotschi den Gipfel der Absurdität – und dass das IOC zur Korrektur nicht fähig ist. Druck muss von außen kommen, starke Signale gibt es ja schon. Die braucht es. Auch der neue IOC-Boss Thomas Bach ist ja keiner, der für Reformen steht. Der deutsche Industrieberater zählte stets zum engen Kreis um den Geld-Apostel Samaranch.