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Opel-Standort Rüsselsheim
"Industriedorf" im Wartezustand

Stadtforscher bezeichnen Rüsselsheim als "Industriedorf" - formal zwar eine Stadt, aber ohne urbanen Charakter. Alles ist auf das Opelwerk ausgerichtet. Schon lange gibt es Pläne, Rüsselsheim attraktiver zu gestalten - umgesetzt wurden sie allerdings nicht.

Von Ludger Fittkau | 15.02.2017
    Das historische Opel-Portalgebäude in Rüsselsheim.
    Schon lange gibt es Pläne, im Opel-Altwerk Restaurants oder Lofts zu bauen. (Deutschlandradio / Ludger Fittkau)
    Dicht schieben sich kleine Arbeiterhäuser an die alten Backsteinmauern des Opelwerkes heran. Fast, als ob sie Schutz suchen im Schatten der Fabrikhallen, die jahrzehntelang für Arbeit und Brot in Rüsselsheim gesorgt haben. Schutz nicht vor der strahlenden Wintersonne, die heute die Opelstadt in ein helles Licht taucht. Sondern Schutz vor den Ungewissheiten des globalen Automarktes.
    Doch der hat aber Rüsselheim seit ewigen Zeiten fest im Griff – schließlich gehört Opel ja bereits seit den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einem internationalen Konzern – General Motors. Nun kommt womöglich Peugeot. Nicht das erste Mal sind die Opel-Arbeiter und Werksrentner aus vielen Nationen, die hier leben, verunsichert:
    "Es war nicht so überraschend, das passiert fast alle paar Jahre, solche Aktionen. Man muss halt warten, wie sich das Ganze entwickelt." - "Eine Katastrophe. Weil, die wollen dann ja bestimmt dann die Arbeitsplätze kürzen und dann haben viele Leute keine Arbeit mehr. Und die Stadt macht ja jetzt schon zu. Geschäfte und alles machen sie zu, weil – keine Arbeitsplätze, keine Steuereinnahmen."
    Rüsselsheim - "Industriedorf" ohne urbanen Charakter
    Rüsselsheim ist das, was Stadtforscher ein "Industriedorf" nennen. Formal zwar eine Stadt, aber ohne urbanen Charakter. Die multikulturell geprägten Einkaufsstraßen liegen nicht weit vom ältesten Teil des Opelwerks, das sich kilometerlang längs des Mains flussabwärts erstreckt.
    Alles in Rüsselheim ist auf die Erfordernisse des Automobilwerkes ausgerichtet. Selbst das Mainufer, das im nahen Frankfurt oder Offenbach längst für die Wohn-und Freizeitbedürfnisse kaufkräftiger Städter geöffnet worden ist, war beim Werkskraftwerk in Rüsselheim bis vor Kurzem unzugänglich. Seit Neuestem gibt es aber einen Rad-und Fußweg am Ufer. Sehr zur Freude von Hundebesitzer Mohamed Afschar:
    "Wir haben uns gefreut, dass es einen Weg gibt. Dass man einfach bis zum Ende weiterlaufen kann. Das ist auch eine Verbindung zwischen Rüsselsheim und dem nächsten Ort. Weil – wenn man nicht investiert, darf man keine Entwicklung verlangen. Dass die Jugendlichen Interesse haben, dass sie nicht immer auswandern, in andere Orte wie Mainz oder Frankfurt. Man kann auch hier irgendwas veranstalten, dass die Jugendlichen auch hier ihre Freizeit verbringen können."
    Gutes kulturelles Angebot
    Jahrzehntelang war Rüsselheim durch Opel eine wohlhabende Stadt. Öffentliche Einrichtungen wie Theater- oder Kongressgebäude wurden in den 60er- und 70er-Jahren im Betonstil an die Peripherie des Ortes gebaut. Gut mit dem Auto erreichbar, aber für Fußgänger weit weg vom Bahnhof. Dennoch nehmen gerade die Älteren das Angebot bis heute gerne an.
    "Es wird sehr gut genutzt, ja. Ich finde auch das Angebot gut. Ich meine, es gibt auch bei den großen Theatern mal bessere Vorstellungen, mal schlechtere Vorstellungen, hier ist es genauso. Aber unter dem Strich kann man sagen, das kulturelle Angebot in Rüsselsheim ist sehr gut."
    Die Jüngeren aber vermissen in Rüsselsheim vieles. Coole Geschäfte etwa oder Freizeitangebote:
    "Wenn man wirklich was Vernünftiges einkaufen will, fährt man nach Frankfurt in die Zeil. Da bin ich ganz ehrlich. Ich war gestern auf der Zeil." - "Vielleicht ein Kino? Oder mal ein richtiges Schwimmbad, weil hier gibt es ja kein Richtiges."
    Stadt muss sich neu erfinden
    Der Bahnhof direkt am Opel-Altwerk mir der denkmalgeschützten schönen Fassade wurde vor einige Jahren aufwendig modernisiert. Ein erstes Zeichen dafür, dass Rüsselsheim auf Dauer nicht mehr nur aufs Automobil setzen kann. Viele Arbeitsplätze der Zukunft gibt es am Frankfurter Flughafen, im Bankenviertel der Mainmetropole oder in den IT-Betrieben rund um Darmstadt. Dahin gelangt man von Rüsselsheim oft bequemer mit der Bahn als mit dem Auto. Doch viele junge Leute ziehen eben ganz weg: C’est la vie – so ist das Leben, sagt der Franzose. So ist das nun mal. Oder ein alter Spruch sagt: Wenn Opel einmal niest, dann hat Rüsselsheim Schnupfen.
    Egal, ob Peugeot nun Opel kauft oder nicht – Rüsselsheim muss sich sowieso neu erfinden. Es muss junge Leute anlocken, die in den naheliegenden Metropolen arbeiten aber in Rüsselsheim vielleicht günstiger Wohnraum finden als in Mainz oder Wiesbaden.
    Ideen werden nicht umgesetzt
    Seit Langem gibt es Ideen, das zum großen Teil leer stehende Opel-Altwerk am Bahnhof für Loft-Liebhaber umzubauen oder schicke Läden und Restaurants dort zu etablieren. Doch bisher wurde nichts aus diesen Ideen. Ob Peugeot mit hier einen Schub für die stagnierenden Projektpläne bringen kann?
    "Das kann sogar noch besser werden. Dass die Franzosen sagen- die Deutschen sind fleißig. Ich sehe das nicht nur negativ."
    Die alten Arbeiterhäuser am Werksgelände werden wahrscheinlich noch stehen, wenn das Benzinzeitalter zu Ende gegangen ist. Doch ob sie erleben werden, dass im Werk das Zeitalter der Elektro-Mobilität anbricht? Das weiß im Moment niemand im "Industriedorf" Rüsselsheim. Unabhängig davon, ob GM oder Peugeot dort künftig das Sagen hat.