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Oper "The Turn of the Screw"
Wenn aus Wahn Realität wird

Von Julia Spinola | 16.11.2014
    Auf dem englischen Landsitz Bly geschehen merkwürdige Dinge. Die beiden Waisenkinder, die einer neuen Gouvernante anvertraut wurden, scheinen dunkle Geheimnisse zu hüten. Zwei ehemalige Bedienstete, die eigentlich längst gestorben sind, spuken als unsichtbare, aber musikalisch dafür umso präsentere Geister durch die labyrinthische Architektur, die der Bühnenbildner Christian Schmidt für die Staatsopernbühne entworfen hat. Die Haushälterin Mrs. Grose deutet an, dass der frühere Diener Peter Quint die Kinder in der Vergangenheit sexuell missbraucht habe. Auch das damalige Kindermädchen Miss Jessel soll ihre Unschuld durch Quint verloren haben, um sich anschließend das Leben zu nehmen. Doch was davon ist real, und was entspringt der sexuell aufgeladenen Fantasie der jungen und mit ihrer Aufgabe überforderten Gouvernante? Scheint sie nicht ihrerseits ihre erotischen Wünsche auf die ihr anvertrauten Kinder zu projizieren?
    Die Kammeroper "The Turn of the Screw" nach der gleichnamigen Erzählung von Henry James ist in der mathematisch genau kalkulierten Suggestion eines durch und durch ambivalenten musikalischen Ausdrucks vielleicht das beste Bühnenstück von Benjamin Britten - und sie bleibt doch eines der rätselhaftesten Werke der Opernbühne. Claus Guth, ein Regietheater-Spezialist für die psychologische Deutung komplizierter Frauenfiguren, erzählt die Geschichte aus der Perspektive der einsamen Gouvernante, deren Name in der Oper - wie so vieles - ein Geheimnis bleibt. Der Vormund der Kinder hat sie auf eine absolute Verschwiegenheit über die Vorgänge in Bly eingeschworen. Getrieben von ihrem Verdacht, ihren Lüsten und ihren Ängsten irrt sie durch das Gefängnis eines surrealen, sich beständig verwandelnden Wohnraums, dem die Drehbühnenmechanik ein kafkaeskes Eigenleben beschert.
    Kaleidoskop eines überbordenden seelischen Innenlebens
    Emmy Bell singt und spielt diese zunehmend aus der Balance geratende junge Frau, deren Sehnsüchte sich in atemvollen, melancholisch-herben Kantilenen ergießen, mit großer, jedoch nie überzogener Eindringlichkeit. Auch alle weiteren Partien sind glänzend besetzt: Sónia Grané und Thomas Lichtenecker geben das sexualisierte Geschwisterpaar, das sich mysteriösen Ritualen mit einem weißen Kaninchen hingibt; Marie McLaughlin ist die viktorianisch zugeknöpfte Haushälterin Mrs. Grose, die doch auch ein laszives Doppelleben zu führen scheint; Anna Samuil als Miss Jessel und Richard Craft als Quint, dessen betörend orientalisierendes Melos alle um den Verstand bringt, singen aus dem Off die musikalischen Geistererscheinungen. Fabelhaft präzise und einfühlsam bringt Ivor Bolton mit den Musikern der Staatskapelle die verwunschenen Schönheiten dieser Partitur zum Leuchten, deren Stimmungen und instrumentale Farben sich zum Kaleidoskop eines überbordenden seelischen Innenlebens zusammensetzen.
    Faszinierend ist Guths Inszenierung, weil sie trotz der psychologisierenden Erzählhaltung der Versuchung widersteht, das Geheimnis der Geschichte im Sinne einer planen Seelenstudie über weibliche Hysterie aufzulösen. Seine Bilder bleiben mehrdeutig, verunsichern und lassen den Zuschauer bis zuletzt im Ungewissen darüber, was der Fantasie der Gouvernante entspringt und was einem tatsächlichen Geschehen. Erst ganz am Ende wird aus Wahn Realität: Die Gouvernante erdrosselt den Jungen, zu dem sie sich obsessiv hingezogen fühlte. Das führt über Britten hinaus, ohne das Stück jedoch im Sinne des Regietheaters zu banalisieren.