Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Opernfestival Aix en Provence
Mit Verboten gegen störende Bilder

Das Opernfestival von Aix en Provence startete in diesem Jahr mit einer bemerkenswerten Premiere der Händel-Oper "Alcina" unter der Regie der Britin Katie Mitchell und Mozarts "Entführung aus dem Serail" in einer Inszenierung des Münchner Residenztheaterdirektors Marin Kusej. Doch in die hat die Direktion des Festivals entscheidend eingegriffen.

Von Frieder Reininghaus | 04.07.2015
    Groß und breit haben die Opernfestspiele in Aix im Grand Théâtre de Provence heuer eröffnet. Andrea Marcon dirigierte das erheblich aufgestockte Freiburger Barockorchester in der Halle, die für eine Annäherung an Händel-Originalklang nicht geeignet ist.
    Katie Mitchell zeigte die Magierin Alcina als Zentrum einer durch und durch sexualisierten Gesellschaft – in einem nach dem Geschmack des späten 18. Jahrhunderts ausstaffierten Schlafzimmer sowie dessen Nebenräumen. In ihnen finden sich seitlich Arbeitsplätze für Tierpräparatoren, im Obergeschoss ein Maschinenraum mit einer größeren Vorrichtung, die Menschen in ausgestopfte Tiere verarbeiten kann (aber auch in umgekehrter Richtung). Alcina, die abgelegte Liebhaber durch diese leistungsfähige Maschine zu schicken pflegt, und ihre Schwester Morgana, die ganz dem sadomasochistischen Handwerk zugetan scheint, sind Best Ager. Sie können sich nur durch erheblichen "Zauber" für den Liebesmarkt frisch halten. Mitchell lässt einen altbewährten Theatertrick wieder zum Zuge kommen: Geht eine der beiden so vorzüglich singenden Sopranistinnen – die treffsicher-virtuose Patricia Petibon oder die ihr stimmlich so gut wie ebenbürtige Anna Prohaska – durch eine der Doppeltüren in den dicken Wänden, kommt eine Alte heraus. Antonio Marchis Libretto sieht vor, dass das Zauberreich der Alcina am Ende zerstiebt und im Meer versinkt. Um einen analogen Effekt zu erzielen, werden Sprengkapseln an den Türen angebracht – dann aber nicht gezündet. Es hat sein Bewenden damit, dass sie die Schwestern in Glasvitrinen entsorgen. Das ausbleibende Feuer- und Nebelwerk wirkte, als wäre sanft die Schere der Zensur oder Selbstzensur angesetzt worden.
    Die kam definitiv bei der "Entführung aus dem Serail" zum Einsatz. Martin Kušej siedelte den im Text von Gottlieb Stephanie exponierten Konflikt zwischen Orient und Okzident in einer Sandwüste an und fast gegenwartsnah - bei einem großen Beduinenzelt, in dem Bassa Selim mit seinen Mannen haust und dem der Krieg immer näher rückt. Kušej zeigt Konstanze und ihre Begleiter als Geiseln in der Hand von Leuten, die die westlichen Medien pauschal als "Terroristen" bezeichnet (Pedrillo wird gleich in der zweiten Szene bis zum Hals im Sand eingegraben). Die Entführung findet dann nicht aus einem architektonisch wertvollen Serail statt, sondern als Flucht durch die Wüste, bei der das vom leicht und locker singenden Danil Behle angeführte Quartett der Westeuropäer beinahe verdurstet und wieder eingefangen wird. Auch das orientiert sich, obwohl die Dialoge von Albert Ostermaier nachgebessert wurden, eng an der Originalhandlung (Mozarts Singspiel war, sosehr es immer wieder verharmlost gezeigt wurde, nie "gemütlich", sondern Nachhall der jahrhundertelang so bedrohlichen Türkenkriege). Am Ende glauben die vier Westler, davongekommen zu sein durch die Huld des im westlichen Sinn aufgeklärten Pasha Selim, der aus Sicht der streng gläubigen Männer seiner von Osmin angeführten Leibgarde allerdings ein Renegat ist. Die schwarzen Gestalten enthaupten die, die sie eigentlich zur Grenze bringen sollten, im Off.
    Offensichtlich unterm Eindruck des jüngsten Anschlags in Lyon, bei dem ein Mann seinen Arbeitgeber enthauptete, wurde die Schluss-Szene kupiert: Die Köpfe der Opfer dürfen in Aix nicht gezeigt werden, nur ein paar blutige Kleider. Der Zensur-Eingriff erfolgte nach Rücksprache mit dem Regisseur, der wohl zähneknirschend akzeptierte (und nicht abreiste). Bernard Foccroulle, der Leiter des Festivals in Aix, demonstrierte, was er von der Freiheit der Kunst und der Wahrheit eines zutreffend dargestellten historischen Werks hält. Er mag sich ja als Schönwetterintendant für das heiter gestimmte Vergnügen der reichen Franzosen in der Sommerfrische verstehen. Aber die ungetrübten Operntage sind womöglich perdu. Sie könnten nurmehr in einer geistigen und realen Festung aufrecht erhalten werden. Das verhängte Bilderverbot war und ist kein angemessenes Mittel, um auf die aus der Mitte der französischen Gesellschaft aufgebrochenen Fragen des Terrorismus zu reagieren.