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Opium statt Reis

Wer den 1956 in Kalkutta geborenen Autor Amitav Ghosh kennt, der weiß: All seine Werke sind immer auch kritische Auseinandersetzungen mit der kolonialen Vergangenheit seines Heimatlandes Indien, deren Spuren er noch über die Grenzen hinweg auf dem gesamten Subkontinent nachzugehen pflegt. Stets sind seine Romane dabei eine so wunderbare wie bewundernswerte Mischung aus Fakt und Fiktion, die in dieser Weise nicht denkbar wäre ohne den begnadeten Reiseschriftsteller und den kundigen Anthropologen, der Ghosh gleichermaßen ist. Sein neuer Roman "Das mohnrote Meer" ist eine breit angelegte Saga über eine Gruppe indischer Migranten vor dem Hintergrund der Opiumkriege im 19. Jahrhundert.

Von Claudia Kramatschek | 11.12.2008
    " Es geschah am Ende des Winters in einem Jahr, in dem die Mohnpflanzen merkwürdig lange zögerten, ihre Blütenblätter abzuwerfen: Fast bis Frühlingsanfang waren die Ufer des Ganges, von Benares bis Patna, in die Farben der Blüten getaucht. ... Die Blüten allein würden ausreichen, die Welt mit der fröhlichen Buntheit des Monats phalgun zu schmücken. "

    Phalgun - das ist der Monat, in dem in Indien der Frühling beginnt. Und im Frühling des Jahres 1838 geht ein Schiff namens Ibis im heiligen Fluss Ganges vor Anker, an jener Stelle, wo der Ganges sich in den Golf von Bengalen ergießt. Einst ein Sklavenschiff und nun im Besitz der Britischen Ostindien-Kompanie, wartet die Ibis darauf, in See zu stechen. Ihr Ziel: die Insel Mauritius. Dorthin soll eine Truppe indischer Vertragsarbeiter - die sogenannten girmityas - gebracht werden, darunter auch viele Dörfler aus dem umliegenden Bihar, die in bittere Armut getrieben sind, seit die Briten, deren Macht über Indien 1838 schon längst gefestigt ist, die indischen Bauern zwingen, nur noch Mohn statt Reis und Getreide anzupflanzen.

    " Sobald es kalt wurde, durfte man praktisch nur noch Mohn anbauen, etwas anderes ließen die englischen Sahibs nicht zu. Ihre Agenten gingen von Haus zu Haus, drängten den Bauern Barvorschüsse auf und ließen sie Schuldscheine unterschreiben. Nein sagen konnte man nicht: Weigerte sich ein Bauer, versteckten sie das Geld in seinem Haus oder warfen es durch ein Fenster hinein. Da half es nichts, wenn er dem weißen Richter versicherte, dass er das Geld nicht genommen hatte und dass sein Daumenabdruck gefälscht sei. "

    Es ist ein Geschäft, das den indischen Bauern Schulden und Unsicherheit, den Briten aber enormen Reichtum einbringt. Denn aus dem Mohn wird Opium gewonnen, das die Briten wiederum nach China exportieren. Und vom Handel mit diesem Opium - das ist ein bis heute eher unbekannter Aspekt und zugleich der Dreh- und Angelpunkt in Amitav Ghosh neuem Roman - hing schlichtweg das Fortbestehen des britischen Empire ab. 1838 aber erheben die Chinesen ein Einfuhrverbot für die Droge - die sogenannten Opiumkriege stehen bevor.

    " Fakt ist: Das Britische Empire wurde hauptsächlich durch Opium finanziert. Die Händler wollten den Krieg und sie bekamen ihn, indem sie der britischen Regierung sagten: Wenn England keinen Krieg gegen China führt und den Chinesen das Opium nicht aufzwingt, wird das Britische Empire kollabieren! Und es ist kein Zufall, dass es dann tatsächlich fünfzehn, sechzehn Jahre nach dem Ende des Opiumhandels zusammenbrach. Denn ohne den enormen Profit, den das Opium einbrachte, war es unmöglich, die hohen Ausgaben zu decken. "

    Die Opiumkriege bilden im Roman allerdings nur eine Art Hintergrundgeräusch. Denn wie stets, wenn Ghosh sich der Historie zuwendet, dienen ihm auch hier die reinen Fakten vielmehr als eine Blaupause, um die Menschen darin hervorzuheben - und das heißt in diesem Falle die Art und Weise, wie ihr Leben durch das Opium unfreiwillig, aber unerbittlich geprägt und verändert wird. Auf der Ibis, dem Hauptschauplatz seines Romans, führt er daher neben den bereits erwähnten Vertragsarbeitern eine Handvoll Menschen zu einer wahren Schicksalsgemeinschaft zusammen, deren Geschichten er nach und nach miteinander verwebt: Allen voran Diti, eine Frau mit der Gabe einer Seherin und Goshs heimliche Chronistin des Geschehens.

    " Das Bild eines stolzen Schiffes unter vollen Segeln auf hoher See trat Diti an einem ganz gewöhnlichen Tag vor Augen, aber sie wusste sofort, dass die Vision ein Fingerzeig des Schicksals war, denn sie hatte ein solches Schiff noch nie zuvor gesehen, nicht einmal im Traum. Ihr Dorf lag so weit im Landesinneren, dass das Meer so fern schien wie die Unterwelt: es war der Abgrund der Finsternis, wo der heilige Ganges im kala-pani verschwand, im 'Schwarzen Wasser'. "

    Diti, eine hochkastige Rajputin, wollte sich nach dem Tod ihres Mannes, einem Arbeiter in einer der zahlreichen Opiumfabriken, mit seiner Leiche verbrennen lassen. Doch sie wird von einem Unberührbaren namens Kalua gerettet - als sie gemeinsam fliehen, ist die Ibis, auf der Kalua anheuert, ihre einzige Chance zu entkommen. Am anderen Ende der gesellschaftlichen Skala befindet sich Raja Nil Rattan, ein feudalistischer Großgrundbesitzer: Er hat Geschäfte mit den Briten gemacht, ist aber nun durch einen juristischen Trick nicht nur all seiner Länderein beraubt, sondern auch zur Strafarbeit auf Mauritius verdammt. Ergänzt wird die soziale Skala zwischen oben und unten unter anderem durch Zachary Reid, einen amerikanischen Mulatten, der auf der Ibis als Steuermann an Bord geht und sich in Paulette verliebt, eine unter Einheimischen aufgewachsene Französin, die vor den sexuellen Avancen eines britischen Geschäftsmannes auf die Ibis flieht. Und natürlich sind da noch die englischen Sahibs, die Ghosh in all ihrer menschenverachtenden Selbstgefälligkeit zeigt.

    " 'Die Ibis wird auf ihrer ersten Reise kein Opium befördern, Reid.'

    Diese Andeutung überraschte Zachary: 'Haben Sie vor, es als Sklavenschiff einzusetzen, Sir? Aber ist Sklavenhandel nach Ihren englischen Gesetzen nicht neuerdings verboten?'

    'Doch, das stimmt', bestätigte Burnham. 'Es ist traurig aber wahr, dass es nicht an Männern mangelt, die alles tun würden, um den Siegeszug der Freiheit aufzuhalten.'

    'Freiheit, Sir?' Zachary glaubte, sich verhört zu haben.

    'Jawohl, Freiheit', sagte Mr. Burnham. 'Das ist es doch, was die Herrschaft des weißen Mannes für die niederen Rassen bedeutet, oder nicht?' "

    Den gesamten Roman hindurch nimmt Ghosh bewusst die Perspektive der Unterdrückten, der von der Geschichte Ausgebeuteten ein. Das erlaubt ihm, ohne moralisch oder parteiisch zu sein, das ganze Ausmaß der Verlogenheit, die Bigotterie der weißen Sahibs bis in ihre Terminologie hinein zu entblößen. Der antikoloniale Gestus dieser Romans ist daher so stark wie vielleicht bei keinem seiner Werke zuvor - zugleich aber liest sich gerade in dieser Hinsicht "Das mohnrote Meer" auch als äußerst aktuell.

    " Ich habe etwa 2003, 2004 begonnen, diesen Roman zu schreiben, und das war die Zeit, in der die USA nicht nur eine aggressive Militärpolitik betrieben, sondern auch den freien Markt feierten, die Tugenden des Kapitalismus und so weiter und so weiter Deshalb war diese Zeit für jeden, der wie ich dachte, eine deprimierende Zeit. Denn wir hatten ja all das schon gesehen, wir kennen die Geschichte und wussten: Wann immer der Westen etwas will, kleidet er es in wunderbare Worte wie Freier Markt, Freiheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit. Dahinter aber verbirgt sich nichts als der nackte Wille zur Macht! Und selbst heute noch lassen sich Menschen davon blenden. Denn tatsächlich ist der ideologische Background der Opium-Kriege absolut identisch mit dem heutigen Krieg im Irak! "

    Für Ghoshs Schicksalsgemeinschaft stellt sich die Ibis jedoch nicht nur als ein Ort der Verdammnis, sondern auch als ein Schiff der Verwandlung dar: Diti etwa wird zur Anführerin der Frauen und erhält ein zweites Leben; der Raja wiederum - all seiner Macht entkleidet - durchläuft eine seelische Läuterung. Oben und unten tauschen im Rahmen dieser Verwandlung ihre Plätze. Und tatsächlich spielt für Ghosh die Frage der Identität als Folge der indischen Migration auch in diesem Roman erneut eine wichtige Rolle. Er selbst treibt dabei ein hintersinniges Spiel mit der, wie er sagt, Besessenheit des 19. Jahrhunderts, Menschen in Kategorien einzuteilen. Seine Figuren tragen daher bewusst nicht nur allesamt zwei verschiedene Namen, sondern haben vor allem auch mehrere Identitäten.

    Ghosh hat dabei für diesen Roman aufwändig und lange recherchiert, auch Details etwa aus der Opiumfabrikation werden minutiös geschildert. Das ist umso bedeutsamer, wenn man erfährt, dass dieser Aspekt der indischen Vergangenheit in Indien selbst verdrängt und verleugnet wird.

    " Englische Historiker, die über diesen Zeitraum schreiben, schreiben sehr selten über den Opiumhandel, der wird quasi unter den Teppich gekehrt. Aber genau das Gleiche tun auch die indischen Historiker, denn dieses Thema ist mit Scham behaftet. Es gibt einen ernormen Widerstand, über diese Periode zu arbeiten. Was umso erstaunlicher ist, wenn man bedenkt: Für die Bedingungen des Kapitalismus, so wie wir ihn heute kennen, spielte das Opium wirtschaftlich gesehen eine enorme Rolle. "

    Doch bei aller Faktenfülle und historischen Tiefenschärfe: In diesem Roman hat nicht der Historiker oder, wie in früheren Werken, der Anthropologe Ghosh die literarische Oberhand, sondern eindeutig der Romancier. "Das mohnrote Meer" bordet quasi über an Einfallsreichtum und einem lustvollen Spiel mit der Sprache an sich: Das eher spröde wirkende Schiffsvokabular etwa wird quasi konterkariert durch das wunderbar auch ins Deutsch übertragende Kauderwelsch, in dem die Matrosen mit ihresgleichen sprechen; da ist die raue Grobschlächtigkeit der englischen Sahibs. Und nicht zuletzt sind da die Gesänge und Erzählungen der girmityas, die sich wie ein roter Faden durch den Roman hindurchziehen.

    " Liest man Berichte über diese indischen Migranten, die girmityas, dann erstaunt vor allem eins: Obwohl sie Schreckliches erleiden mussten, haben sie die ganze Zeit gesungen. Das bestätigen alle Darstellungen. Allen Umständen, allen Widrigkeiten zum Trotz, haben sie ausgeharrt. Und seit dem Moment, in dem ich über sie zu schreiben begann, bewundere ich diese Ausdauer, diese Stärke. Denn letztlich ist diese Stärke auch die große Qualität von Indien selbst: die Fähigkeit, zu überleben. Schließlich haben nur wenige Länder eine Geschichte, die so voller Tragödien und Abgründe ist wie die Geschichte Indiens. "

    Diese zu vermessen, ist für Ghosh ein erneutes Hauptanliegen auch im Falle dieses Romans. "Das mohnrote Meer" ist nämlich letztlich nur der erste Teil eines auf drei Bände angelegten Breitband-Panoramas zwischen Land und Meer, zwischen Indien und Mauritius. Wohin diese Fahrt führen wird, ist dabei so offen, wie der Romanschluss selbst. Denn für den unbedarften Leser endet "Das mohnrote Meer" eher abrupt. Doch das ist wohl der einzige Makel an diesem Roman, der in all seiner analytischen Kraft das Historische als ewig währende Gegenwart kenntlich macht.