Proteste in Nicaragua

Mit Lippenstift gegen die Regierung

23:49 Minuten
Eine ältere Dame schminkt sich die Lippen rot.
Die Aktion "Pico Rojo" setzt rote Lippen als Zeichen des Protests ein © Burkhard Birke
Von Burkhard Birke · 13.11.2018
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Nicaragua war einst Sehnsuchtsort der Linken, heute ist es eher ein Ort zum Fürchten. Präsident und Ex-Guerillero Daniel Ortega lässt nicht los von der Macht, Proteste werden mit Gewalt niedergeschlagen. Aber die Opposition ist kreativ.
Holzkreuze mit blau-weißen Luftballons stehen an Straßenecken, blaue und weiße Blumen zieren die Gräber. Es ist Allerheiligen in Nicaragua. Einige Grabsteine sind sogar frisch in den Nationalfarben blau und weiß gestrichen. Selbst die Toten drehen sich im Grabe um – angesichts der Gräuel des Regimes Ortega: Das sollte wohl die Botschaft der als blau-weiße Allianz auftretenden Opposition sein. Über 500 Menschen kamen nach Informationen von Menschenrechtsorganisationen bei der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste im Frühjahr und Sommer ums Leben. Die Regierung spricht nur von 200.
Polizisten verhaften eine Frau bei einer Demonstration gegen die Regierung
Polizisten verhaften eine Frau bei einer Demonstration gegen die Regierung von Präsident Ortega© dpa / Carlos Herrera
Seit Oktober sind Demonstrationen offiziell verboten und seither testet die Fantasie des Protests stets aufs Neue die Obrigkeit: Wegen der blau-weiß verzierten Grabsteine wanderten einige Personen für ein paar Tage in den Knast. Auch blau-weiße Luftballons sind hochverdächtig. Der Initiator der Initiative sitzt im Gefängnis.

Blau-weiße Luftballons sind genauso verdächtig wie rote Lippen

"Überall, selbst in den Gängen der Ministerien, tauchten die blau-weißen Luftballons auf, an den von der Regierung besetzten Universitäten, und überall sieht man Leute im Rahmen der Rotschnabel-Aktion mit knallrot angemalten Lippen. Und wer sich einfach nur so die Lippen rot anmalt, gilt schon als subversiv."
Marlen Chow ist Mitte 60, Soziologin, Ex Guerillakämpferin und jetzt energische Gegnerin von Präsident Daniel Ortega. Als sie unlängst an einem Sonntag auf einer Demo verhaftet wurde, initiierte sie die Aktion 'Rotschnabel' – 'pico rojo'.
"Ich hab den Frauen, die mit mir inhaftiert waren, gesagt: Malt euch die Lippen rot an. Und heimlich hat sich eine nach der anderen mit meinem Lippenstift rot geschminkt. Und auf einmal hatten wir alle rote Lippen und haben gesagt: Wir sind die Rotschnäbel, und so lange wir inhaftiert bleiben, bleiben auch die Lippen rot angemalt."
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich ihre Geschichte durch die Medien und sozialen Netzwerke.
"Selbst Männer haben angefangen, sich die Lippen rot anzumalen. Das war wunderbar, denn dass ein Mann bei so einer Aktion mitmacht, kommt einer Revolution gleich, die viele unheilvolle Symbole dieser Regierung zerstört."
Büste eines Kindes mit Nicaraguabanner am Kopf und Bildhauer
Bildhauer Helmut Bustos und der ermordete Alvarito © Burkhard Birke
Nicht mehr als Verführer, sondern als schwerer Regierungskritiker gilt derzeit in Nicaragua, wer sich die Lippen knallrot schminkt. Das kann Konsequenzen haben. Brutal geht die Polizei in Uniform und vor allem in zivil gegen all jene vor, die ihrem Unmut über Präsident Ortega und seine Frau Murillo, zugleich Vizepräsidentin im Land, besonders kreativ Luft machen. Helmut Bustos und seine Bildhauerfreunde der Gruppe Renacita – die Wiedergeborene – leben auch in Angst:
"Meine Eltern sagen, lade nichts ins Internet hoch, weil sie Angst haben. Ich habe auch viel Angst und manchmal traue ich mich nicht auf die Straße."
Früher errichtete Helmut Bustos Skulpturen vom Revolutionsheld Sandino oder der Heiligen Jungfrau. Heute produziert der 37-Jährige Büsten von einigen der zu Helden gewordenen Opfer der Proteste. Am 20. April kam der erst 15-jährige Alvarito Conrado durch einen Schuss in den Hals um; er hatte die demonstrierenden Studenten mit Wasser versorgt.

Tod eines Fünfzehnjährigen mobilisiert Künstler

"Wir haben versucht, Alvarito Conrado und den anderen Märtyrern gerecht zu werden. Es gibt viele Märtyrer, und viele Nicaraguaner setzen jetzt ihr Vertrauen in mich. Sie haben mich den Bildhauer des Volkes genannt. Es ehrt mich, das man mir zutraut, Büsten von unseren Helden zu machen in diesem neuen Nicaragua, das entsteht."
Ein älterer Jogger im Sportopurfit mit Protestschild in der Hand
Joggen gegen die Regierung - Protest in Nicaragua© Burkhard Birke
Die Geschichte von Alvarito Conrado hat auch Alex Vanegas so sehr berührt, dass er sich entschloss, für ein anderes Nicaragua zu joggen. Blau-weiße Sportkleidung, ein Protestschild in der Hand läuft der über sechzigjährige Marathonmann – wie er genannt wird – jeden Tag mindestens 30 Kilometer durch Managua.
"Ich laufe für Gerechtigkeit und ich laufe, damit Daniel Ortega wegläuft. Das ist ein Wortspiel und es beleidigt die Regierung sehr. Man hat versucht mich fertig zu machen. Vier Mal war ich schon im Gefängnis, zwei oder drei Mal bin ich festgenommen worden."
Mittlerweile sitzt der Marathonmann schon wieder ein. Für mindestens drei Wochen soll er im Foltergefängnis Chipote einsitzen, berichtet seine Familie. Sein Vergehen: Für Freiheit und ein anderes Nicaragua zu joggen.

Auch die Sandinisten zeigen Flagge

Aber es gibt auch die andere Seite.
Die schwarz-rote Fahne der Sandinisten schwenkend steht Ana mit einer Gruppe Genossen auf der Grünfläche eines Verkehrskreisels in Managua.
"Wir unterstützen die gute Regierung, die vom Kommandanten Daniel Ortega. Das ist die Regierung, die sich mit den Arbeitern solidarisiert und unser Land nach vorne gebracht hat."
Die Sandinisten zeigen Flagge, sie signalisieren: wir sind wieder da, wir haben die Hoheit der Straße zurückerobert. Von den Gegnern der Regierung Ortega, die noch vor wenigen Wochen das Stadtbild Managuas bestimmten, ist weit und breit nichts zu sehen. Ob die Gruppe auf der Verkehrsinsel angekarrt wurde oder freiwillig hier ist, lässt sich nicht ausmachen.
Anhänger von Nicaraguas Präsidenten Daniel Ortega mit der Fahne der Sandinisten in Managua
Anhänger von Nicaraguas Präsidenten Daniel Ortega mit der Fahne der Sandinisten in Managua© Burkhard Birke
Die offizielle Stellungnahme der Regierung hört sich indes so an:
"Ruhe und Frieden ist wieder eingekehrt nach einem gewaltsamen Putschversuch gegen eine legitim gewählte Regierung."

Ein Brand im Naturpark Indio Maiz entzündete die Proteste

Für Nicaraguas stellvertretenden Außenminister Valdrack Jaentschke ist klar, wer den bis 2021 gewählten Präsidenten Daniel Ortega zum Rückzug zwingen will und damit die Schuld an der Misere, den Toten und der Gewalt hat.
"Eine kleine radikalisierte Gruppe bestehend aus teils militärisch ausgebildeten Politikern und einigen Leuten, die den Krieg in den 80er-Jahren auf Seiten der Contra mitgemacht haben, hat im Nichtregierungsbereich Leute organisiert und bewaffnet."
So rechtfertigt die Regierung Ortega das gewaltsame und blutige Vorgehen gegen die vermeintlichen Putschisten. Eine absurde Argumentation für die Opposition.
"Hauptauslöser der Protestbewegung war die Unfähigkeit des Staates, den Brand in dem Naturpark Indio Maiz unter Kontrolle zu bringen, und später die Repression, mit der gegen diejenigen vorgegangen wurde, die dagegen demonstrierten," das sagt Amaro Ruiz, Sozialaktivist und Vorsitzender der Fundacion del Rio, im Süden des Landes. Der Vorfall mobilisierte vor allem die ländliche Bevölkerung und Studenten.

Korruptionsvorwürfe gegen Präsident Ortega

Am 18. April kündigte die Regierung dann noch eine Rentenkürzung und eine Beitragsanhebung in der Sozialversicherung an. Die brachte zunächst die Rentner, dann die Studenten und andere Bürger auf die Straße. Die Reform wurde zwar zurückgenommen, die Proteste freilich blieben. Es war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Seit 2007 regiert Präsident Daniel Ortega ununterbrochen. Die Opposition sprach nach der letzten Wahl von Wahlbetrug und wirft ihm und seiner als Vizepräsidentin agierenden Ehefrau Rosario Murillo persönliche Bereicherung und Korruption vor.
02.09.2018, Nicaragua, Managua: Schwer bewaffnete Polizisten sitzen auf einem Pick-up und stehen neben einem brennenden Polizeifahrzeug. Mindestens eine Person wurde in Managua verletzt als Unbekannte mit Schusswaffen auf die Teilnehmer einer Demonstration gegen die Regierung schossen. Foto: Carlos Herrera/dpa | Verwendung weltweit
Schwer bewaffnete Polizisten sitzen auf einem Pick-up und stehen neben einem brennenden Polizeifahrzeug Anfang September in der Hauptstadt Managua. © picture alliance / dpa / Carlos Herrera
Überall im Land wurden die Universitäten besetzt und Barrikaden errichtet, die später von Sicherheitskräften und bewaffneten, vermummten Zivilisten – mutmaßlichen Paramilitärs oder Polizei in Zivil – gewaltsam geräumt wurden.

"Ist es normal, dass man Leichen zählt?"

Die Studentin Valeria erinnert sich:
"Ich war schockiert, dass es normal wurde, die Toten zu zählen nach dem Motto: Heute sind es vier- oder sechs! Ich verfiel in Panik. Es kann doch nicht normal sein, Leichen zu zählen."
Max lebt im Untergrund in der täglichen Angst, festgenommen und im berüchtigten Chipote Gefängnis gefoltert und misshandelt zu werden:
"Viele der Studentenführer und Demonstranten der Bewegung für Gerechtigkeit und Demokratie in Nicaragua, die auch den Abgang des Präsidentenpaares Ortega-Murillo wollen, mussten untertauchen, um in diesem System der Einschüchterung, Verfolgung und Belagerung am Leben zu bleiben."
Der Politikstudent Max gehört der Alianza Civica por la Justicia y la Democracia, der Zivilallianz für Gerechtigkeit und Demokratie an. Die Allianz ist zum Sammelbecken des Protestes geworden, vereint unter anderem Vertreter der katholischen Kirche, der Frauenbewegung, Unternehmer und viele einstige Weggefährten Ortegas, die früher gegen Somoza und nun gegen den ehemaligen Anführer der Sandinisten kämpfen – gegen den "neuen Diktator".
Valdrack Jaentschke, stellvertretender Außenminister von Nicaragua
Valdrack Jaentschke, stellvertretender Außenminister von Nicaragua © Burkhard Birke
Mónica Baltonado war Guerillera der Sandinisten und arbeitete früher in leitender Funktion im Präsidialamt bei Ortega.
"Er ähnelt sehr Somoza. In mancher Hinsicht ist er sogar schlimmer. Mehr als 500 Nicaraguaner umzubringen, junge Männer und Frauen schlimm zu foltern, sie zu vergewaltigen – in nur vier Monaten. In zehn Jahren der Diktatur von Somoza gab es nicht solche Grausamkeiten."

Fast täglich gibt es Verhaftungen

Die Bilanz, die Menschenrechtsorganisationen ziehen, ist erschreckend: Je nach Organisation und Erhebung zwischen 320 und 528 Tote, bis zu 4000 Verletzte, hunderte Menschen, die verschwunden sein sollen, und viele Inhaftierte.
"568 Gefangene gibt es momentan, und sie werden unmenschlich behandelt. Sie dürfen kein Tageslicht sehen, keine Briefe schreiben und dürfen einmal pro Monat Besuch bekommen, wenn das Regime es erlaubt. Es gibt Häftlinge, die haben erst nach 45 Tagen oder zwei Monat Besuch empfangen."
Daniel Esquivels Frau, die Aktivistin Irlanda Jerez, ist eine der Festgenommenen.
Natürlich streitet die Regierung die Zahl ab. Es gäbe nur 372 Gefangene und die seien allesamt Kriminelle. Die Zahl der Toten rund um die Proteste beziffert sie auf 200.
Fast täglich werden Personen festgenommen – es läuft eine erbarmungslose Säuberungsaktion auf den Straßen, während die Vizepräsidentin und Ehefrau Ortegas der Versöhnung das Wort redet. Rosario Murillo letzte Woche im Radio:
"Wir werden noch in dieser Woche die Befragung zu einer Politik der Versöhnungs- und Friedenskultur in unserem Land abschließen. Diese Befragung soll in Vorschläge münden, die wir dem Parlament vorlegen und dann in Gesetzesform gießen. Alles was uns eint, uns aussöhnt, uns die christliche Brüderlichkeit leben lässt."
Mit einem Leguan auf dem Kopf protestiert diese Frau gegen die Regierung.
Mit einem Leguan auf dem Kopf protestiert diese Frau gegen die Regierung.© AP
Interessanterweise steht schon fest, wer das Aussöhnungsgesetz überwachen soll: ausgerechnet die Polizei, die für die Übergriffe auf die Oppositionellen verantwortlich gemacht wird. Zweifel, dass die sandinistische Parlamentsmehrheit die Maßnahmen demnächst verabschieden wird, gibt es kaum.
"Das gehört zu einer Strategie, die Straffreiheit sichern und Zeit gewinnen soll. Vor allem aber will man der Staatengemeinschaft signalisieren, man halte die Menschrechte ein, die seien nicht in Gefahr", glaubt die oppositionelle Soziologin Maria Teresa Blandon.

Die Kirche steht unter Generalverdacht

Die Regierung unterbreitet ein Angebot zur Aussöhnung, hat jedoch den im Sommer initiierten Dialog mit der Opposition unter Vermittlung der Kirche abgebrochen. Begründung: die Kirche sei parteiisch. Mehr noch: Seit Wochen werden Priester als Anstifter der Unruhen attackiert.
Unterdessen ist die Wirtschaft um 10 Prozent eingebrochen, die Arbeitslosigkeit ist explodiert. Es werden keine Kredite mehr bewilligt. Auch das billige Öl aus Venezuela, mit dem Ortega Wohltaten für seine Treuen finanzierte und – wie böse Zungen behaupten – seinen persönlichen Reichtum mehrte, sprudelt nicht mehr.
Welchen Ausweg gibt es?
"Den Dialog. Es muss eine Verständigung zwischen den in der blau-weißen Allianz zusammengeschlossenen Kräften und der Regierung geben," sagt Sergio Ramirez. Der Schriftsteller kennt Ortega gut: Von 1985 bis 1990 war er sein Vizepräsident. Jetzt plädiert er dafür, den Ortegas Garantien wie z.B. eine Ausreise zu geben, damit sie, wie die Opposition fordert, sich von der Macht verabschieden und so bald wie möglich vorgezogene Neuwahlen ermöglichen.