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Orbáns Ungarn
Zwischenbilanz einer nationalkonservativen Wende

Viktor Orbán baute nach dem Wahlsieg seiner Fidesz-Partei vor sechs Jahren Ungarn nach seinen Wünschen massiv um. Einst angetreten gegen Korruption, blüht heute die Vetternwirtschaft. Der wirtschaftliche Aufschwung kam dabei stark durch Gelder der EU zustande - gegen die Orbán so gerne wettert. Und: Sein nationalkonservatives Politikmodell scheint auch außerhalb Ungarns an Attraktivität zu gewinnen.

Von Jan-Uwe Stahr | 30.04.2016
    Präsident Viktor Orban steht vor ungarischen Landesflaggen
    Vikor Orbán wettert gerne gegen die EU - von der Ungarn hohe Zahlungen erhält. (picture-alliance/ dpa / Szilard Koszticsak)
    "Schroff, grob und aggressiv" sei der Ton gegenüber Ungarn, beschwerte sich Ministerpräsident Viktor Orbán kürzlich in seiner Rede zur Lage der Nation. Gemeint war damit die Europäische Union. Dort gab es heftige Beschwerden über die Politik der nationalkonservativen Fidesz-Regierung – wieder einmal. Aktuelles Ärgernis: Ungarns beharrliche Weigerung, Flüchtlinge aufzunehmen.
    Die EU drohe mit finanzieller Vergeltung, indem man sage, Ungarn werde unterstützt und sei undankbar dafür. Doch man sei quitt, kontert Ungarns starker Mann vor seinen Anhängern:
    "So viel Geld, wie die Europäische Union hierher gesandt hat, haben die westlichen Firmen auch wieder von hier mitgenommen. Wir sind quitt. Es gibt nichts, was wir einander vorwerfen könnten."
    Ungarns Ministerpräsident strotzt vor Selbstbewusstsein. Sein nationalkonservatives Politikmodell – "System der nationalen Zusammenarbeit" - so der offizielle Titel – scheint auch außerhalb Ungarns an Attraktivität zu gewinnen. In vielen EU-Mitgliedsländern erstarken Parteien, die einen europakritischen, antiliberalen und nationalistischen Kurs propagieren.
    Seit sechs Jahren ist die nationalkonservative Fidesz-Regierung jetzt an der Macht. Es gab zahlreiche Massenproteste gegen sie in Budapest und etliche Überprüfungsverfahren ihrer neuen Gesetze in Brüssel. Doch nun scheint es, als habe Orbán sein Land tatsächlich auf einen stabilen Weg gebracht. Anfang des Monats zahlte die Regierung Brüssel die letzte Rate des Milliardenkredites zurück, mit dem die EU Ungarn 2008 vor dem Staatsbankrott bewahrte. Auch der aktuelle Konjunkturbericht fällt bereits im zweiten Jahr sehr positiv aus:
    "Die Wirtschaftslage ist wirklich gut, das sagen auch Unternehmen. Sowohl im Land insgesamt, als auch in ihren Geschäften, da sind die Unternehmen deutlich optimistischer als noch in den letzten Jahren."
    Sagt Dirk Woelfer, Sprecher der Deutsch-Ungarischen Handelskammer in Budapest. Diese Einschätzung beruht auf einer Umfrage unter 900 einheimischen und ausländischen Unternehmen in Ungarn. Das ungarische Wirtschaftswachstum liegt derzeit bei ungefähr drei Prozent, die Arbeitslosigkeit ist auf sechs Prozent gesunken. Und die Staatsverschuldung nicht mehr höher als in Deutschland.
    Vor sechs Jahren übernahm Orbán die Macht
    Vor sechs Jahren haben die Nationalkonservativen von Viktor Orbán die Regierungsverantwortung übernommen. In einem Land, das sich - zwei Jahrzehnte nach der Wende - in einer schweren Krise befand.
    "Tatsächlich befand sich die ungarische Wirtschaft damals in einer desolaten Situation."
    Sagt Kai-Olaf Lang, Mittel-Osteuropa-Experte bei der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik, einem unabhängigen außen- und sicherheitspolitischen Think Tank, der auch die Bundesregierung berät.
    "Der Haushalt hatte eine immense Schieflage. Die Wirtschaft lag am Boden. Das Land brauchte Hilfspakete von der Europäischen Union, vom Internationalen Währungsfonds. Das ging einher mit einer generellen Diskreditierung der bislang Herrschenden und dieses Zusammenspiel von massiven ökonomischen Schwierigkeiten und einer Glaubwürdigkeitskrise der Vorgängerregierung. Das spielte natürlich Viktor Orbán und den Seinen in die Hände."
    Demonstranten protestieren mit großen Plakaten und Flaggen gegen die ungarische Regierung.
    Demonstranten protestieren mit großen Plakaten und Flaggen gegen die ungarische Regierung. (picture alliance / dpa / Janos Marjai)
    Anders als in seiner früheren Amtszeit als Ministerpräsident, von 1998 bis 2002, verfügte Orbán nach der Wahl 2010, über eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament. Und damit über unbeschränkte Macht. Er nutzte sie für die – wie er es sah – Vollendung der Wende von 1989/90, und begann mit einem grundlegenden Umbau des politischen Systems.
    Fast täglich wurden nun neue Gesetze verabschiedet. Zunächst für die langfristige Absicherung der eigenen Macht: Die Fidesz-Regierung ließ Ungarns öffentliche Fernseh- und Radiosender auf Parteilinie bringen. Anschließend ließ er sowohl das Verfassungsgericht als auch die Nationalbank in ihrer Autonomie einschränken. Und schließlich sogar die Verfassung neu schreiben. Bisherige gesellschaftliche und politische Eliten stilisierte Orbán zu Feindbildern - verantwortlich für Ungarns miserable Lage.
    "Das waren zum einen natürlich die Postkommunisten, die regierenden Sozialisten, die sich aber tatsächlich mit der Hochfinanz teilweise liiert hatten und auch mit Oligarchien im Bunde waren, tatsächlich. Dazu kam aber generell natürlich das weltoffene, das pro-europäische, businessfreundliche und die intellektuellen Milieus in Ungarn, die er entgegenstellte den kleinen Leuten und dem wahren Ungarntum."
    Dem liberalen, pluralistisch geprägten Gesellschafts- und Politikmodell Westeuropas stellte Orbán nun ein sogenanntes "System der nationalen Zusammenarbeit" entgegen. Es ist ausstaffiert mit nationaler und historischer Symbolik. Und es setzt auf einen Zusammenhalt innerhalb einer nationalen Gemeinschaft anstatt auf einen offenen Aushandlungsprozess verschiedener gesellschaftlicher Interessen. Viktor Orbán:
    "Statt infantiler Träumereien, klassenkämpferischer Romantik, dem Aufeinanderhetzen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, der Kleinunternehmen und Großfirmen ist die Vereinigung, das Zusammenwirken, die Abstimmung der Interessen notwendig. Und hierzu werden eine große, stabile Volkspartei, und eine Regierungsarbeit nötig sein, die wie eine Volkspartei den Interessen der Menschen dient."
    Fidesz dominiert in allen Bereichen
    Orbáns selbst ernannte Volkspartei Fidesz dominiert nicht nur das Parlament. Sie beansprucht auch die Vorherrschaft in allen politischen und gesellschaftlichen Sphären. Dazu setzt man auf eine Zentralisierung der Macht und eine Verlagerung politischer Entscheidungen von den Verwaltungsbezirken, den Städten und den Kommunen auf die Zentralregierung. Ob Krankenhaus- oder Schulplanungen, alle Entscheidungen werden jetzt in Budapest getroffen, von einer Regierung, die sehr stark von dem Ministerpräsidenten dominiert wird, von Viktor Orbán. Orbáns ökonomische Strategie: Die von ihm sogenannte "unorthodoxe Wirtschaftspolitik".
    "Die unorthodoxe Wirtschaftspolitik ist eine sehr eigentümliche Kombination aus marktwirtschaftsfreundlichen, geradezu liberalen Elementen und Elementen der Steuerung, des Etatismus, also einer starken Rolle des Staates."
    Die liberalen Elemente: Zum Beispiel eine sogenannte Flattax – also ein Einheitssteuersatz von 15 Prozent für alle Einkommensgruppen. Der - ganz klar – die Besserverdienenden bevorzugt und damit die neue bürgerliche Mittelschicht, die Orbán ausbauen und fördern möchte.
    Blick vom Burgberg auf die Donau und das Parlamentsgebäude am 11.12.2013 in Budapest (Ungarn) bei Sonnenuntergang am Abend.
    Blick vom Burgberg auf die Donau und das Parlamentsgebäude in Ungarns Hauptstadt Budapest: Die Partei Orbáns dominiert hier. (picture-alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Das andere Element: Der starke Staat. Orbán ordnete zum Beispiel den Rückkauf der Energieversorger an. Diese waren nach der Wende an ausländische Konzerne verkauft worden. Auch ausländische Banken, Handelskonzerne und Telekommunikationsunternehmen bekamen Orbáns unorthodoxe Wirtschaftspolitik zu spüren: In Form von Sonderabgaben und rückwirkenden Steuererhöhungen. Maßnahmen, die bei einem Großteil der schuldengeplagten, ungarischen Bevölkerung gut ankamen.
    "Die verbalen Spitzen in der Wirtschaftspolitik gingen ja immer auch gegen - in Anführungszeichen – das ausbeuterische, ausländische Kapital, was in der Tat in den Jahren zuvor sehr gut verdient hatte. Und die Argumentation von Fidesz war: Jetzt müssen die mal ran in Zeiten der wirtschaftlichen Krise. Wir können einem nackten Mann nicht in die Taschen fassen, jetzt müssen auch diejenigen ran, die in den letzten Jahren große Profite eingefahren haben."
    Orbáns harter Kurs gegen Banken und Konzerne sorgte bei ausländischen Investoren für Verärgerung und Verunsicherung. Zumindest vorübergehend. Dieter Woelfer von der Deutsch-Ungarischen Handelskammer:
    "Am Anfang wurde versprochen, die Sondersteuer nach einem Jahr oder nach zwei Jahren wieder auszusetzen oder wieder aufzuheben. Das ist dann nicht in jedem Fall und sofort passiert. Inzwischen muss man sagen, hat das etwas beruhigt. Also, wir haben die wichtigsten Änderungen so bis 2012 hinter uns gebracht. Und seitdem gab es eigentlich relativ wenig negative Überraschungen. Und das schlägt sich auch ein bisschen positiv auf die Stimmung nieder."
    "A Magyar Reformok Müködnek!" - "Die ungarischen Reformen greifen!": So ist eine 20-seitige Broschüre betitelt, mit der die ungarische Regierung derzeit ihre sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen lobt, begleitet von Fernseh- und Hörfunkspots. Die Wohltaten sind unter anderem: eine Steigerung des Familiengeldes, die Senkung der Steuern beim Wohnungsbau, staatliche Kredithilfen für Familien ab drei Kindern. Und eine beachtliche Steigerung des Wirtschaftswachstums in den letzten fünf Jahren: Von minus 6,6 Prozent im Jahr 2009 auf plus 3,7 Prozent im Wahljahr 2014.
    Hoher Anteil der EU-Förderung am Wirtschaftswunder
    Fakten, die auch Orbáns demonstratives Selbstbewusstsein gegenüber der schwächelnden Europäischen Union erklären können. Der Anteil der EU am ungarischen Wirtschaftswunder wird in der kostspieligen Werbeaktion der Regierung allerdings nirgendwo erwähnt. Dabei ist der beträchtlich. Ökonom Woelfer:
    "Die EU-Fördermittel: Das ist eines der wesentlichsten Faktoren für das starke Wachstum, was wir in Ungarn haben. Wir hatten einen starken Investitionszuwachs gehabt in den letzten zwei bis drei Jahren. Und der ist zum ganz großen Teil auf EU-Fördermittel zurückzuführen. Wenn man sich die Zahlen der EU anschaut, ist Ungarn, ich glaube nach Litauen, das Land, bezogen auf die Wirtschaftsleistung, die höchsten Zuschüsse aus Brüssel bekommt. Das geht manchmal etwas unter hier in der öffentlichen Diskussion, wenn auf Brüssel geschimpft wird."
    Rund fünf Prozent des ungarischen Bruttosozialproduktes stammen aus Transferleistungen der Europäischen Union. "Eine riesengroße Hausnummer", sagt Woelfer. Und eine enorme Abhängigkeit von Brüssel. Ein Großteil dieser Gelder wird zusammen mit ungarischen Eigenmitteln vom Staat verteilt. Auch das schafft Abhängigkeiten in der Wirtschaft. Joszef Martin von der ungarischen Sektion der Antikorruptionsorganisation Transparancy International:
    "Die vom Staat vergebenen Gelder, sie machen ungefähr sieben Prozent des ungarischen Bruttosozialproduktes aus, werden mit einem sehr starken Einfluss der Politik vergeben."
    Da die staatlichen Entscheidungen stark zentralisiert und alle politische Macht bei Orbáns Fidesz-Partei konzentriert wurde, hat sich ein idealer Nährboden für Vetternwirtschaft und Korruption entwickelt. Die ungarischen Medien – vor allem die unabhängigen Nachrichtenportale im Internet – sind voll mit Beispielen: Orbáns politische Freunde werden vorrangig versorgt, mit Bauprojekten, beim Verkauf und bei der Verpachtung staatlichen Agrarlandes oder bei sonstigen öffentlichen Aufträgen. Selbst Orbáns Schwiegersohn geriet in die Schlagzeilen mit staatlich vergebenen Aufträgen für öffentliche Straßenbeleuchtung in verschiedenen ungarischen Städten.
    Amigo-Wirtschaft verschlingt viel Geld
    Diese Amigo-Wirtschaft verschlingt viel Geld, zu viel Geld. Das belegt eine Studie von Transparancy International. Jozsef Martin:
    "Wir fanden heraus, dass eine Überteuerung bei EU-Projekten festzustellen ist. Und zwar eine systematische Überteuerung. Wir schätzen diese Überteuerung durchschnittlich auf 25 bis 30 Prozent. Aber in einigen Fällen kann sie noch deutlich höher sein."
    Korruption bei der Vergabe öffentlicher Aufträge ist keine neue Erscheinung in Ungarn. Auch unter den postsozialistisch-liberalen Vorgängern der national-christlichen Fidesz-Regierung war sie allgegenwärtig. Allerdings bekam Viktor Orbán seine Machtfülle von den Wählern auch für sein Versprechen, die Korruptionsnetzwerke zu beseitigen.
    Nun zeigt sich: Die alten Seilschaften wurden lediglich durch neue ersetzt. Und durch die Fördergelder aus Brüssel gestärkt. Das schadet der demokratischen Entwicklung in Ungarn. Jozsef Martin:
    "Eines der Hauptprobleme im heutigen Ungarn ist das rechtsstaatliche Defizit. Und dieses rechtsstaatliche Defizit ist eng verbunden mit dem Korruptionsproblem. Was ist die Verbindung? Wenn sich die Bürger nicht überzeugen lassen, dass ihr Fall in einer transparenten Art und Weise behandelt wird, auf unparteiliche Art und Weise, dann beschädigt man natürlich ihr Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit. Was tatsächlich passiert in Ungarn: Die staatlichen Verfolgungsbehörden stehen unter einem starken Einfluss der Regierung. Deshalb gibt es nur sehr wenige Fälle, die vor Gericht gebracht werden."
    Die mangelnde Transparenz des staatlichen Handelns hemmt auch Selbstständige in ihrer unternehmerischen Entwicklung. Wie zum Beispiel Zsolt Varady, den 40-jährigen Softwareentwickler aus Budapest. Noch vor dem Facebook-Gründer Mark Zuckerberg hatte Varady ein soziales Netzwerk namens IWIW programmiert. Bis zu 4,5 Millionen Ungarn waren dort online, bevor sie zu Facebook wechselten. IWIW hätte vielleicht auch international ein Erfolg werden können. Doch in Ungarn werden junge Unternehmer und Selbstständige regelrecht ausgebremst durch eine undurchsichtige Bürokratie, sagt IT-Entwickler Varady:
    "Das ist, was jeder in Ungarn sagt: Wenn du nicht bescheißt, dann funktioniert das nicht. Du hast hier wirklich nur ganz geringe Chancen, wirklich erfolgreich zu werden. Wobei erfolgreich nur heißt, dass du davon leben kannst von dem Geld, das du verdienst."
    Willkürliche Arbeit der Finanzbehörden
    Die Arbeit der Finanzbehörden sei von Willkür geprägt, sagt Varady. Daran habe sich in den letzten 20 Jahren kaum etwas geändert. Auch nicht unter der Regierung von Viktor Orbán. Dabei hatte sie versprochen, besonders kleine und mittlere Unternehmen in Ungarn zu fördern. Vor anderthalb Jahren entschied sich Varady – der zuvor einige Jahre in Deutschland selbstständig war – zur Gegenwehr:
    "Ich ging zur Polizei und zeigte alle politischen Parteien an, die seit 1989 im Parlament saßen, wegen des Steuersystems. Ich wollte etwas tun, weil sie es nicht verändern. Ich hatte das Gefühl, dass alles nur eine Taktik ist: Wenn es ein Steuersystem gibt, bei dem die meisten Leute gezwungen sind, zu betrügen, dann ist das ein perfektes System, um die Bürger immer in der Hand zu haben."
    Zsolt Varadys Anzeigenaktion erzeugte großes mediales Interesse und öffentliche Zustimmung. Das war im Herbst 2014. Einige Monate zuvor war die Orbán-Regierung für eine weitere Legislaturperiode gewählt worden. Doch nun gab es wieder Massenproteste. Neue Fälle von hemmungsloser Vetternwirtschaft im gehobenen Fidesz-Milieu und eine Internetsteuer, mit der die Regierung zusätzlich Geld von den Bürgern eintreiben wollte, trieb zehntausende Demonstranten auf die Straßen.
    Flüchtlingskurs brachte Orbán wieder Zustimmung
    Der bisher geschickt agierende Machtpolitiker Orbán witterte erstmalig eine Gefahr. Allerdings nicht so sehr durch die Demonstrationen in Budapest, sagt Politikforscher und Ungarn-Experte Lang, denn davon hatte es seit 2010 schon viele gegeben.
    "Was für Orbán viel schwieriger war, war diese sich abzeichnende Erosion des Fidesz in den Umfragen. Es sah noch vor einem Jahr danach aus, dass viele Wähler sich von Fidesz abwenden würden, ohne dass das direkt anderen zu Gute gekommen wäre. Viele sind erst einmal in das Lager der Nichtwähler übergewechselt. Aber es war ein sehr spürbarer Trend. Dann kam die Flüchtlingskrise, die hat Orbán innenpolitisch genützt."
    Der ungarische Regierungschef präsentierte sich nun als starker Beschützer, nicht nur von Ungarn, sondern auch der Europäischen Union. Nur, wenn die Außengrenzen der EU effektiv geschützt werden, so wie er es mit Stacheldrahtzäunen vormachte, könne die Freizügigkeit innerhalb des Schengen-Raumes aufrechterhalten werden.
    Ungarische Arbeiter errichten an der EU-Außengrenze einen Zaun (24.08.2015). 
    Grenzzaunbau in Ungarn: Orbán konnte durch seine rigerose Flüchtlingspolitik wieder die Zustimmung in der Bevölkerung steigern. (dpa / picture-alliance / AA)
    Orbáns rigorose Abschottung sorgte außerhalb Ungarns – vor allem in Deutschland – zunächst für Empörung. Inzwischen wird sie allgemein praktiziert. Innenpolitisch nutzte Orbán die Flüchtlingskrise aber auch, um Angst zu schüren. Besonders vor muslimischen Migranten. In Ungarn, das zwei Jahrhunderte unter osmanischer Herrschaft gelitten hatte, wirkt das noch immer. Viktor Orbán:
    "Ganz gleich, ob es uns gefällt oder nicht, die Völkerwanderungen sind niemals friedlicher Natur. Wenn große Massen eine neue Heimat suchen, dann führt dies unvermeidlich zu Konflikten, denn sie wollen solche Orte besetzen, an denen andere Menschen bereits leben, sich eingerichtet haben und die ihr Heim, ihre Kultur und ihre Lebensweise beschützen wollen."
    Orbáns Kalkül, sich als Beschützer des christlichen Abendlandes zu präsentieren, ging auf. Die Zustimmung für ihn wuchs wieder ganz erheblich. Jetzt sogar bei Nicht-Fidesz-Wählern. Damit gerät - zumindest vorübergehend - aus dem Blick, dass Ungarns Wirtschaft noch längst nicht über den Berg und das Wachstum abhängig von EU-Subventionen ist. Dass die Löhne so niedrig sind, dass vielen nur Schwarzarbeit die Existenz sichert. Dass die Mehrwertsteuer mit 27 Prozent so hoch wie nirgends sonst in Europa ist, was vor allem die große Zahl der Geringverdiener belastet. Auch der Rückgang bei den Arbeitslosenzahlen ist nur mit umfangreichen staatlichen Arbeitsprogrammen erkauft, bei denen die Bezahlung noch unterhalb der Mindestlöhne liegt.