Samstag, 20. April 2024

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Orgelmusik von Oskar Gottlieb Blarr
Holy Tango und Bachpokal

Zeitgenössische Orgelmusik verschwindet meistens in der Nische - außer, wenn ein prominenter Echo-Klassik-Gewinner sich seiner Musik annimmt. Martin Schmeding hat auf seiner neuen CD Musik von Oskar Gottlieb Blarr aufgenommen.

Am Mikrofon: Niklas Rudolph | 01.01.2018
    Der Organist Martin Schmeding
    Der Organist Martin Schmeding (Martin Schmeding)
    Orgelmusik ist die Nische – und zeitgenössische Orgelmusik, das ist die Nische in der Nische. Überraschenderweise kann sich das Düsseldorfer Label Cybele mit dieser Kombination schon seit über 20 Jahren am Markt behaupten. Das klappt nur mit interessanten Künstlern, so wie Martin Schmeding. Der ist für eine Cybele-CD mit Bachs Goldberg-Variationen interpretiert auf der Orgel bereits mit einem Klassik-Echo ausgezeichnet worden. In einer neuen Retrospektive hat er nun Werke des Orgelkomponisten Oskar Gottlieb Blarr aufgenommen. Mit vier Tänzen, drei Albumblättern, fünf Intonationen und einem "Bach-Pokal" aktualisiert Martin Schmeding das zuletzt 2007 eingespielte Orgel-Werk von Oskar Gottlieb Blarr um Beiträge aus den vergangenen zehn Jahren. Oskar Gottlieb Blarr gehört zu den profiliertesten und hat nicht nur die Düsseldorfer Kirchenmusik entscheidend geprägt. Komponist und Interpret, beide waren Kantoren derselben Gemeinde – erst Blarr, dann Schmeding -, und zwar der Neanderkirche in der Düsseldorfer Altstadt. Dort ist auch die CD entstanden.
    Musik: Oskar Gottlieb Blarr - Quasi una Tarantella: für Luigi Ferdinando Tagliavini in Bologna (2013)
    Nach dem zweiten Weltkrieg waren die meisten Orgeln in Deutschland stark beschädigt oder verschwanden während des Wiederaufbaus auf mysteriöse Weise. Auch die Ibach-Orgel in der Düsseldorfer Neanderkirche fiel der Entsorgungswelle zum Opfer. In den 60er Jahren beschloss der Gemeinderat: eine neue Orgel muss her. Da in der Nachbarkirche St. Johannes bereits eine neobarocke Orgel stand, entschloss man sich mit der Orgelbau-Firma Rieger für einen Orgeltypus, der eigene Wege gehen sollte: Spanische Trompeten neben deutschen Flöten, französische Zungenstimmen neben italienischen Schwebungen. Der Komponist Oskar Gottlieb Blarr, mittlerweile 83 Jahre alt, hat den Prozess von Anfang an begleitet:
    "Der Traum dieser Orgel war eine europäische Synthese. Und das hat dann auch Wirkung nach außen gehabt."
    Als Oskar Gottlieb Blarr vor über 50 Jahren als Kantor nach Düsseldorf kam, da sorgten die Konzerte an "seiner" neuen Orgel für Furore: Igor Strawinsky stand auf dem Programm, Leonard Bernstein und Bela Bartok. Blarr war ambitioniert, hatte bei Bernd Alois Zimmermann und Krzystof Penderecki studiert und gab der Orgel in der Neanderkirche eine eigene Sprache.
    Musik: Oskar Gottlieb Blarr - Holy Tango III 'An Himmelfahrt' (2007)
    Der Holy Tango III ist eine Auskopplung aus einem Oratorium, das Blarr für den Himmelfahrtstag komponiert hat - einer von vier Tänzen, die den ersten großen Teil der CD ausmachen.
    "Man weiß natürlich, dass der Tango aus dem Bordell kommt und eine unrühmliche Rolle an eine verdächtige Vergangenheit hat. Aber mit dem Tango ist es so wie mit der Sarabande - die Sarabande war ja auch ein Gesellschaftstanz mit anrüchiger Herkunft."
    Neben einem Tango bietet die CD außerdem einen Blues, einen Walzer und eine Estampie, also ein Stampftanz, umgesetzt als virtuoses Pedalsolo.
    "Hier muss der Organist ziemlich fit sein. Man muss beide Stimmen im Pedal spielen.", sagt Blarr.
    Keine Frage: Martin Schmeding ist fit. Mit weichen Streicherstimmen bereitet er das Bett, über dem sich die beiden Pedalstimmen zunächst vortasten und dann virtuose Läufe vollführen – solange, bis der Orgel buchstäblich die Luft ausgeht. Bei "Estampie" kann Martin Schmeding Tempo geben.
    Musik: Oskar Gottlieb Blarr - Estampie
    Natürlich kennt Martin Schmeding die Rieger-Orgel in der Neanderkirche in- und auswendig. Jahrelang war er dort selbst Kantor und weiß, welche Knöpfe er drücken muss, um den Notentext in kontrastreichen Farben auszumalen. In den "Fünf Intonationen" beispielsweise bekommt Schmeding reichlich Gelegenheit, die Farbpalette seiner Orgel vorzustellen.
    "Im ersten Teil gibt es verschiedene Plenums-Mischungen, dann werden die Zungen in einem anderen Stück vorgestellt, Die Flöten in einem anderen Stück vorgestellt. Na ja, und das letzte Stück ist dann so eine richtige Donnernummer, wie man dann eine Toccata am Schluss machen muss.", erklärt Oskar Gottlieb Blarr.
    Musik: Oskar Gottlieb Blarr - Fünf Intonationen (2014)
    Alle Stücke auf dieser CD sind maßgeblich vom Klang der Neander-Orgel inspiriert – nur das letzte Stück des Albums tanzt aus der Reihe. 2007 erhielt Blarr den Auftrag, für eine frisch restaurierte Orgel in Naumburg an der Saale ein Stück zu schreiben. Das Besondere an diesem Instrument: Johann Sebastian Bach hatte die Orgel noch selbst abgenommen.
    "Die klanglichen Möglichkeiten der Orgel habe ich dann so komponiert, dass ich so tue, als hätte Bach eine Orgelprobe gemacht. Er stellt die einzelnen Register vor. Er stellt die Mischungen vor. Er prüft den Wind, ob die Orgel auch genügend Puste hat."
    "Bach-Pokal" heißt die Komposition – benannt nach einem Trinkgefäß des Thomaskantors. In Blarrs Wohnzimmer steht eine Replik, auf der zwölf Noten eingraviert sind. Die Töne B-A-C-H, darunter die Umkehrung und ganz am Schluss der musikalische Krebs – eine Zwölftonreihe also, die als Grundlage für Introduktion, Passacaglia und Choral dient.
    Musik: Oskar Gottlieb Blarr - Der Bach-Pokal - Introduktion, Passacaglia und Choral als Orgelprobe in honorem Zacharias Hildebrandt (2007)
    Viele Stücke auf dieser CD tragen Widmungen. Darunter auch ein ehemaliger Bundeskanzler. "Für Helmut Schmidt" heißt eines von drei Albumblättern. Blarr habe zufällig die Orgel gefunden, an der damals noch-Bundeskanzler Helmut Schmidt heimlich übte – in einer kleinen Dorfkirche in Schleswig-Holstein. Grund genug für ein gewidmetes Orgelstück - der Anlass war allerdings ein anderer:
    "Schmidt hat (…) ein Fernsehinterview gegeben über religiöse Dinge und hat dann gesagt er könne an Gott nicht glauben, weil er Auschwitz zugelassen hat. Und das fand ich einfach doof. (…) Das haben ja nicht irgendwelche dunklen Mächte gemacht. (…) Diese Menschen haben sich für den Weg des Todes entschieden und nicht für den Weg des Lebens."
    Als Vorlage für seine Komposition wählte Blarr den Choral "Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich", der auch im Evangelischen Gesangbuch steht.
    "Das schien mir ganz passend für Schmidt zu sein der ja ziemlich mutiger Kerler gewesen war."
    Bei der Uraufführung 2012 hatte man sogar einen Stuhl für Schmidt reservieren lassen. Der aber kam nicht und bedankte sich für die Widmung stattdessen mit einem Brief.
    "Aber über diese religiöse Debatte, die ich ja eigentlich mit ihm geführt hätte, hat er sich nicht geäußert."
    Musik: Oskar Gottlieb Blarr - Drei Albumblätter - I. Für Helmut Schmidt (2012)
    Diese CD offenbart dreierlei: den Farbenreichtum der Rieger-Orgel in der Düsseldorfer Neanderkirche, die sinnlich, auch humorvolle Kraft der Blarrschen Orgel-Kompositionen und die technisch-perfekte Leidenschaft des Interpreten Martin Schmeding. Sie ist jetzt schon ein einmaliges zeitgeschichtliches Dokument Düsseldorfer Musikgeschichte.
    Oskar Gottlieb Blarr (* 1934)
    Orgelwerke (2007-2017)
    Martin Schmeding an den Orgeln der Neanderkirche Düsseldorf
    Cybele SACD 061701