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Orientierungslosigkeit einer Generation

"Der kleine Herr Mister" von Tobias Hülswitt steht in der Tradition des romantischen Künstlerromans, in dem es um die Stellung des Künstlers in der Gesellschaft und seine geistige Auseinandersetzung mit der Welt geht. Der Protagonist in Hülswitts Roman ist ein Maler mit mäßigem Erfolg, der unter einem Gefühl leidet, das der Autor als typisch für unsere Zeit diagnostiziert: eine geistige Leere, ein spirituelles Vakuum

Von Cornelia Staudacher | 03.01.2007
    Seit Tobias Hülswitt in Berlin lebt, zieht es ihn immer wieder ins Umland. Die magische Wirkung der melancholischen, teilweise menschenleeren brandenburgischen Landschaft habe ihn zu seinem dritten Roman inspiriert, sagt er. Ihr sind denn auch die eindringlichen Naturbeschreibungen in der zweiten Hälfte des Romans zu verdanken.

    "Das ist was Gespenstisches, und immer die Vogelscharen, diese Krähen, die über Weideland ziehen, in denen tatsächlich so Weidenbäume stehen, bei denen die Hälfte der Äste abgebrochen ist und zu Füßen der Bäume liegt, das gibt so was Steppen- und Savannenartiges, und darin nichts als niedriges Gebüsch und diese Weiden und diese Krähen, das hat durchaus etwas Gespenstisches, dann diese Leere dort, und vielleicht war das eine Metapher für die ganze Geschichte, dass ich dachte, wenn hier in dieser Gesellschaft also so eine spirituelle Leere entsteht durch ein verblassendes Christentum, was strömt dann da ein, und diese Landschaft, die passt genau dazu, die entvölkert sich, die wird immer leerer, was strömt da rein, also das ist eine Projektionsfläche für alles Mögliche. Vielleicht hat sich dann das deshalb so in meinem Kopf zusammengesetzt."

    "Der kleine Herr Mister" steht in der Tradition des romantischen Künstlerromans, in dem es um die Stellung des Künstlers in der Gesellschaft und seine geistige Auseinandersetzung mit der Welt geht. Der Künstler in Hülswitts Roman ist ein in Berlin lebender, seines Alltags etwas überdrüssiger Maler mit mäßigem Erfolg, der unter einem Gefühl leidet, das Hülswitt als typisch für unsere Zeit diagnostiziert: eine geistige Leere, ein spirituelles Vakuum, für dessen Umsetzung ihm zunächst ein formal ganz anderer Roman vorgeschwebt hatte.

    "Die Ursprungsidee war, so, ich habe eigentlich an einem anderen Buch gearbeitet, bevor ich den 'Kleinen Herrn Mister' angefangen habe, und in diesem Buch wollte ich auf eine eher nonlineare Weise einen Charakter entwerfen, der völlig zerfällt, von dem man am Ende nicht mal sagen kann, was der genau ist, weil er alle Erfahrungsangebote, die die Gesellschaft ihm macht, versucht anzunehmen. Das ist ja ungefähr so der Druck, dem man heute ausgesetzt ist. Es gibt Statistiken, die sagen, Depressionen haben heute ihre Hauptursache darin, dass man von seiner Freiheit überfordert ist, während man früher keine hatte und das der Grund für Depressionen war. Und ich wollte dieses Buch so schreiben, dass es aus lauter Kapiteln besteht, die als frei schwebende Erzähleinheiten funktionieren, deren Reihenfolge nicht zwingend ist. Ich habe damit angefangen, ich hab ungefähr sechs Monate dran geschrieben und war dann an so einem toten Punkt, weil ich die Idee immer noch richtig fand und auch glaube, dass man so ein Individuum heute beschreiben kann, aber es war für mich nicht schreibbar, es war so schwer zu schreiben, es hat mich furchtbar gequält und es wurde völlig beliebig, ich wusste eben nicht, wie muss es jetzt weitergehen? Also die Beliebigkeit der Figur hat sich total auf mein Schreiben übertragen. Das ging nicht zu schreiben, und dann ist mir eines nachts in Krakau die Idee dieses kleinen Herrn Misters gekommen. Die Figur hat sich dann mit dem Thema, das ich im Kopf habe, verbunden."

    Der kleine Herr Mister ist ein seltsamer Gnom, eine kleine unansehnliche Gestalt mit einer quäkenden Stimme. Als ein deus ex machina, eine Art Mephistopeles, erscheint er in der ersten Szene des Romans dem Protagonisten im Traum. Der widersteht zwar dem zwischen Teufelspakt und Heilsversprechen changierenden Angebot, das ihm Erfolg und Ehre verspricht. Dennoch überschlagen sich von diesem Augenblick an die Ereignisse: Seine Ausstellung ist so erfolgreich, dass alle Bilder verkauft werden und er selbst in den Klatschspalten der Regenbogenpresse landet. Seine langjährige Freundin Johanna verlässt ihn und begibt sich in ein buddhistisches Kloster zur Meditation. Dafür trifft er auf der Vernissage seiner eigenen Ausstellung Marissi, eine Sängerin, die ihn fasziniert und umgarnt und ihn in die Geheimnisse des Kokainkonsums einweiht. Der dritten Frau, die sein Leben beeinflusst, Nkedu, begegnet er in der Einsamkeit der brandenburgischen Raps- und Sonnenblumenfelder, wohin er sich auf der Suche nach Johanna begibt. Drei Frauen, die Hülswitt als Parzen, als Schicksalsgöttinnen verstanden wissen will

    "Die drei Frauen verkörpern drei Lebensentwürfe, drei spirituelle Entwürfe und drei Angebote an ihn, sich aus seiner Misere zu befreien. Es sollte ursprünglich mal 'Marissi' heißen, da hat der Verlag gesagt, das geht nicht, wir haben jetzt schon gerade im letzten Programm fünf Bücher mit Frauennamen, das kann jetzt nicht auch noch ein Frauenname sein. Und dann dachte ich, 'Der kleine Herr Mister' ist jetzt schon passend, es ist Alpha und Omega dieses Buches, es ist der Initialpunkt und es ist der Zielpunkt. Die ganze Geschichte fängt an dadurch, dass der kleine Herr Mister in das Leben des Protagonisten tritt, dass am Ende sich ja auch herausstellt, dass der kleine Herr Mister eigentlich die ganze Zeit in ihm war mehr oder weniger und ihn am Ende ja auch vollkommen übernimmt."

    Und ihn zu allerlei Taten antreibt, die ihn immer mehr aus der so genannten bürgerlichen, der geordneten Welt und einem vermeintlichen Gleichgewicht bringen. Johanna verlässt ihn und entschließt sich, im buddhistischen Kloster zu bleiben, und Nkedu kommt auf eine rätselhafte Weise ums Leben. Nur Marissi, die schillerndste der drei Frauen, ist am Ende noch für ihn da. Sie sei, erklärt Tobias Hülswitt im Gespräch, inspiriert von einer Figur aus Fellinis Film "La dolce vita", einem seiner Lieblingsfilme, der ihn seit langem beschäftigt und auch in seinem Schreiben beeinflusst hat.

    "Da gibt es ein kleines Mädchen, so ganz am Rande taucht das auf, einmal als Marcello Rubini in einem Restaurant isst und versucht, eine Geschichte zu schreiben. Und sie ist also der Engel, die ganz am Schluss wieder auftaucht, als er am Strand ist und sie nicht verstehen kann, weil das Meer so laut ist, und das Mädchen ruft ihm was zu, kennst du mich noch, ich bin wieder da? Und er sagt, ich versteh dich nicht, ich versteh dich nicht, und sie ruft und ruft, und er macht diese ganz traurige Geste, von wegen ich versteh dich nicht, und dreht sich um und geht in sein trauriges Leben zurück, aber sie ist eben noch da. Und so ist es bei Marissi eben auch am Ende, man weiß, sie ist immer noch da.

    Ich habe auch im Grunde das Verfahren kopiert von 'Dolce Vita', weil ich den Film so sehe, dass er auch verschiedene Lebensentwürfe durchexerziert, da ist die Literatur, da ist die Religion, da ist die Liebe, da ist die Ehe, das ist die Geliebte, da ist das dekadente Leben, das Nachtleben, da ist das Leben als Klatschreporter. Und eigentlich scheitern in dem Film mehr oder weniger alle Entwürfe, nur das Mädchen ist am Ende noch da, und das ist auch hier das Verfahren, im Grunde klappert der Protagonist lauter verschiedene Möglichkeiten ab, die es sein könnten, die Sinn in diesem Leben stiften könnten."

    Sinnsuche, Sinnstiftung, die Suche nach Spiritualität - Tobias Hülswitt hat sich mit seinem dritten Roman viel vorgenommen. Katholisch aufgewachsen und sozialisiert, hat er sich früh vom Katholizismus ab- und dem Buddhismus zugewandt. Die Technik der Meditation ist für ihn, ähnlich wie das Schreiben, zu einer bewusstseinsbildenden und lebensnotwendigen Kraftquelle geworden. Beim Schreiben wie beim Meditieren geht es ihm darum, Antworten auf die geistigen Fragen unserer an Utopien und Ideale armen Zeit zu finden, um einen Rückfall in voraufklärerische Zeiten zu verhindern - eine Aufgabe, die seiner Meinung nach nicht der Kirche überlassen werden sollte.

    "Ich weiß nicht, ob es bedrohlich ist, der Papst sagt ja, wenn es wirklich verblasst, dass es dann einen geistigen Erdrutsch gäbe, dessen Ausmaß man sich gar nicht vorstellen kann in Europa. Das glaube ich eigentlich nicht. Ich glaube, dass Werte etwas sind, das jede menschliche Gesellschaft eigentlich automatisch natürlich hervorbringt, und dann kommen religiöse Systeme oder moralische Systeme, auch staatliche Systeme, die diese Werte interpretieren und gewichten, fördern und beschneiden.

    Aber was wir schon bräuchten, wäre eine Diskussion darüber, einen Diskurs, wie man diese Werte interpretieren will, wenn das Christentum wirklich verblasst, was es, glaube ich, tut, obwohl es jetzt auch Statistiken gibt, die sagen, dass immer mehr junge Leute wieder Kirchgänger werden und sich zum christlichen Glauben bekennen, ich finde es eigentlich schade, weil wir so ein Maß an Freiheit gerade uns erarbeitet haben in dieser Kultur und kein Werkzeug entwickelt haben, um damit umzugehen, also es gibt keine Bewusstseinsschulung die einem helfen würde, mit der ganzen Freiheit umzugehen. Wir haben Werte eigentlich, wir haben freiheitlich-demokratische Werte, wir haben sozusagen keine positive Philosophie davon, sondern man macht uns einen Dekadenzvorwurf, und wir nehmen ihn an und schämen uns ein bisschen dafür. Und das ist totaler Quatsch."

    Vom Erwachsenwerden in der Provinz erzählte sein erster, von der verführerischen Kraft der Medien sein zweiter Roman. Nun geht es um die geistige Orientierungslosigkeit seiner Generation. Erzählt wird wieder in dem für Hülswitt typischen leichtfüßigen, nonchalanten Gestus, der den Roman, seiner thematischen Schwere zum Trotz, zu einer leichten, unterhaltsamen Lektüre macht. Hülswitt erweist sich einmal mehr als ein Meister einer lakonischen Ironie, womit er dem zwischen Wirklichkeit und Traum angesiedelten Handlungsverlauf auf adäquate Weise gerecht wird. Geschickt versteht er es, den Spannungsbogen aufzubauen und durch Hinzufügung kriminologischer Elemente zu steigern. Und doch bleibt man als Leser vom Geschick des namenlosen Protagonisten seltsam ungerührt, erfährt zu wenig, um sich in seine Rolle hineinzuversetzen und die Unruhe und Angst zu spüren, die ihn umtreibt. Der Text ist zu affirmativ, als dass er Empathie beim Leser auslösen könnte.

    Das Unheimliche liefern allein die Naturszenarien. Die lineare Erzähltechnik, die strikt eingehalten wird, wirkt wie ein Korsett, zumal es manchem Handlungselement an Plausibilität mangelt. Anderes bleibt uneingelöst wie der nur vage angedeutete Schluss. Eine gewisse Harmlosigkeit und Beliebigkeit, wie sie sich auch in der tautologischen Formulierung des Titels zeigt, lassen vermuten, dass der Autor sich nicht vollständig von seinem früheren Konzept eines nicht linear erzählten Romans gelöst hat.

    "Ich habe da selber mit mir so ideologische Kämpfe ausgetragen, weil ich immer fand, dass natürlich ein lineares Erzählen eine Weltordnung suggeriert, eben Zeitpfeil, psychologische Einheit und so weiter, von der ich eigentlich nicht glaube, dass die Wirklichkeit unbedingt so ist. Und ich habe immer versucht, das irgendwie anders zu erzählen und fand das - in Anführungszeichen - besser, aufrichtiger Es ist auch schwieriger, so wie die Freiheit eben auch schwieriger ist, als sich einfach einem System anzuvertrauen. Ich weiß nicht, was jetzt passiert ist, es war auch tatsächlich leichter, linear zu schreiben. Es hat auch sogar Spaß gemacht, obwohl ich sozusagen gegen meine eigenen Prinzipien verstoßen habe."

    Die Sprachkraft und Fabulierfreude des Autors schlägt sich im Tempo und Witz nieder, mit dem hier erzählt wird. Die stellenweise fast auf Slapstickformat verkürzten, zwischen Melancholie und Humoreske changierenden Szenen rollen ab wie am Schnürchen. Und doch bleibt die Begeisterung über den vorliegenden Roman hinter der Erwartung auf den nächsten, den nicht linear erzählten zurück. Wenn es für den Autor dazu einer Ermutigung bedarf, dann sei sie hiermit ausgesprochen.