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Ort der Geheimnisse

Dieses Buch ist sehr viel mehr als nur die pflichtbewusste Schließung einer historischen Leerstelle. Es ist zugleich auch der Versuch, sich auf die vielfältigen Dimensionen psychoanalytischen Denkens zu besinnen.

Von Thomas Kleinspehn | 16.06.2011
    Hinter dem Buch-Titel könnte man eine eher klischeehafte Studie vermuten über Unterdrückung Anpassung oder Kollaboration. Natürlich geht es in diesem Buch auch darum. Aber für die meisten hier vertretenen Autoren beginnt das Thema nicht erst in den 40er-Jahren, sondern ordnet sich in größere zeitliche, aber auch inhaltliche Zusammenhänge ein. Aus dieser Perspektive wird der Kern der Psychoanalyse deutlicher. Unter äußerem politischem Druck lassen sich Widersprüche nicht mehr so einfach verbergen. Das macht dieser schmale Band mit dem Blick auf die Entwicklung der Psychoanalyse in Ungarn und der DDR nach 1945 sehr deutlich.

    "Die Psychoanalyse hat niemals irgendein diktatorisches Regime akzeptiert, ob rechts- oder linksgerichtet. Natürlich haben verschiedene Diktaturen unterschiedliche ideologische Wurzeln, aber in einer Hinsicht sind sie alle gleich: die Befreiung des Individuums, die Entfaltung seiner Autonomie und Entwicklung der persönlichen Freiheitsgrade – die raison d'être der Psychoanalyse – stehen in starkem Gegensatz zu den fundamentalen Interessen und Methoden eines autoritären Regimes, das seine Macht dadurch sichert, dass es die Kontrolle über das Individuum erlangt und behauptet."

    … formuliert die ungarische Psychoanalytikerin Judit Mészáros. Doch der Band zeigt, dass mit dieser idealen Formulierung nicht die Psychoanalyse generell gemeint ist, sondern jene, die sich auch auf eine kultur- und gesellschaftskritische Tradition beruft. Sie ist bei Freud mit angelegt gewesen. Ist dann aber vielfach verwässert und geleugnet worden, sodass die Psychoanalyse nicht selten zu einem reinen "Handwerk" degenerierte, mit dem Menschen behandelt wurden. Als handwerkliche Form lässt sie sich leicht instrumentalisieren oder mit anderen Therapien vermischen. Als gesellschaftskritische Haltung und Methode stellt sie sich aber zwangsläufig quer zu herrschenden Systemen. Und genau das prägt die Geschichte der Psychoanalyse in Budapest und Berlin seit dem Ersten Weltkrieg. Ob das nun Otto Fenichel, Edith Jacobson oder Karl Abraham in Berlin, Sandor Ferenczi, Béla Grunberger, Michael Balint oder Geoges Devereux in Budapest waren: Sie alle stehen noch heute für eine kulturkritische Ausrichtung, die sich auch interdisziplinär öffnet. Sie wurden im Zweiten Weltkrieg ins Exil getrieben. Außer ihren überlieferten Ideen blieb danach wenig, an das hätte angeknüpft werden können. Dennoch war es für die verbliebenen oder zurückkehrenden Analytiker in Budapest beinahe selbstverständlich, sich der kritischen Tradition verpflichtet zu fühlen, wie das János Harmatta beschreibt.

    "Angesichts der vorhandenen Bedrohung konnte man nicht wirklich von einer offenen Gesellschaftskritik sprechen, im Hinblick auf die psychische Freiheit eher von einem gewissen Abstand zur Gesellschaft. Die Patienten kamen hauptsächlich aus intellektuellen Kreisen. Viele hatten frühe Störungen und entweder selbst oder in ihrer Familie traumatische Erfahrungen erlebt."

    Sie mussten in den frühen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erst einmal aufgearbeitet werden. Muster von Macht und Unterdrückung jedoch kehrten auch im kommunistischen Ungarn wieder, sodass sich - wie Harmatta überzeugend beschreibt - die psychotherapeutische Behandlung zu einem Ort der "Geheimnisse" entwickelt. Über die selbstverständliche Schweigepflicht hinaus bildete sie einen Raum jenseits der Gesellschaft.

    "Das Arbeitsbündnis zwischen Analytiker und Patient war eine Art Bündnis gegen die Außenwelt. In einem Gesellschaftssystem, in dem Ideologie und Politik bis in die menschliche Privatsphäre einzudringen versuchte, kamen Patienten mit unterschiedlicher Prägung oft mit der unbewussten Absicht in die Behandlung, ihre Privatsphäre ein bisschen zu erweitern. Die Therapie war der Ort, wo man sich der gesellschaftlichen Kontrolle entziehen konnte."

    Verstärkt wurde das zusätzlich noch dadurch, dass die Therapien häufig in Privatwohnungen stattfanden. Das verändert sich erst allmählich mit den 70er-Jahren. Hier wurden in Osteuropa nunmehr vor allem Gruppentherapien, aber auch andere Psychotherapien gefördert, unter deren Dach die Psychoanalyse auch geduldet war. Einerseits ähnlich, in mancher Hinsicht jedoch ganz anders war die Entwicklung in der DDR, über die Annette Simon und Arndt Ludwig berichten. Beide haben dort bis 1989 als Psychoanalytiker gearbeitet. Die Psychoanalyse war zwar nicht verboten, wurde aber verfemt. Freuds Werke standen lange Zeit in den Giftschränken der Bibliotheken. Die Stasi hat viele der Psychotherapeuten observiert. Ebenso wie in Ungarn ordnen sie sich spätestens ab den 80er-Jahren der Opposition und den Bürgerbewegungen zu. Annette Simon beschreibt sehr eindrücklich diesen Weg der DDR-Psychotherapeuten, ihren mühsamen Kampf um die Anerkennung der psychoanalytischen Ideen und ihren Versuch sich in einer kleinen, aber sehr wichtigen Gruppe zusammen zu schließen, um sich gegenüber dem System zu schützen. Doch die Ost-Berliner Psychoanalytikerin bleibt nicht bei der DDR stehen, sondern beschreibt auch das plötzliche Aufeinandertreffen der verschiedenen Ausprägungen von Psychoanalysen in Ost und West nach dem Fall der Mauer. Hier die Ost-Kollegen mit ihren Erfahrungen des Kampfes um die Psychoanalyse und ihren ambivalenten Gefühlen gegenüber der DDR. Dort die Kollegen aus der alten Bundesrepublik, die die ganze Zeit über einen beinahe zu selbstverständlichen Zugang zu Freuds Denken und Therapieformen gehabt hatten und nun praktisch zu Orientierungspunkten wurden. Annette Simon schildert das in all ihren Ambivalenzen – der neu erlangten Freiheit und dem Druck gerade die politische oder gesellschaftskritische Seite aufgeben zu sollen. Ihr Aufsatz ist ein starkes Plädoyer dafür, das verstärkt zu reflektieren, um damit zugleich die Psychoanalyse in ihrem kritischen Gehalt wieder einzuholen.

    "Gleichzeitig würde ich mir wünschen, dass die Analytikerin sich und ihrem Patienten verspricht – die Bedingung der Freiheit für die Zukunft – trotz allem immer wieder zu versuchen, die gesellschaftlichen Bedingungen, die die Freiheiten der psychoanalytischen Situation einschränken, zu reflektieren und auch zu verändern. ( ... ) Psychoanalyse als Kulturkritik ist subversiv."

    So verstanden ist dieses Buch sehr viel mehr als nur die pflichtbewusste Schließung einer historischen Leerstelle. Es ist zugleich auch der Versuch, sich auf die vielfältigen Dimensionen psychoanalytischen Denkens zu besinnen.

    Ágnes Berger u.a., Hg.: Psychoanalyse hinter dem eisernen Vorhang. Frankfurt, Verlag Brandes & Apsel, 2010. Preis: Euro 17,90