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Orthesen
Zweite Haut aus Kunststoff

Prothesen kennt jeder – aber Orthesen? Das sind medizinische Hilfsmittel, die die Gliedmaßen oder den Rumpf von außen stützen oder stabilisieren. Bislang werden Orthesen aus Kunststoff oder Carbon hergestellt. Eine Ausgründung der Universität Kaiserslautern hat nun ein neues Material entwickelt.

Von Jochen Steiner | 20.12.2016
    Reha-Zentrum für Schlaganfall-Patienten, Berlin
    Orthesen kommen zum Beispiel auch bei Schlaganfallpatienten zum Einsatz, um sie beim Laufen zu unterstützen. (picture-alliance / Berliner_Zeitung)
    Manchmal kommt eins zum andern und eine Geschäftsidee ist geboren. So auch bei Markus Brzeski. Der Maschinenbau-Ingenieur hat an der Universität Kaiserslautern über Verbundwerkstoffe promoviert.
    Dann kam seine Familie ins Spiel.
    "Das ist dahingehend entstanden, dass meine Frau so ein Chêneau-Korsett getragen hatte, und insofern wusste ich ganz gut, was das für ein Leiden für ein junges Mädchen bedeutet."
    Geringer Tragekomfort bei Orthesen
    Die Frau von Markus Brzeski musste damals eine spezielle Orthese, ein Chêneau-Korsett, tragen. Mit dessen Hilfe sollte eine Skoliose, eine verdrehte Wirbelsäule, behandelt werden. Orthesen kommen aber zum Beispiel auch bei Schlaganfallpatienten zum Einsatz, um sie beim Laufen zu unterstützen.
    "Sie liegen quasi am Körper sehr nah und innig an und unterstützen den Körper bei seiner Funktionsweise. Das heißt, es ist wie eine zweite Haut, könnte man sagen, die natürlich eine sehr tragende Wirkung hat."
    Doch der Tragekomfort vieler Orthesen ist für die Patienten oftmals eher gering. Sie drücken, scheuern, engen den Körper ein und im Sommer schwitzen die Träger schnell.
    Bislang werden Orthesen aus PE-Kunststoff, also aus Polyethylen, oder Carbon hergestellt. Doch Carbon hat einen Nachteil:
    "Das Material ist, nachdem es gegossen wurde, starr und steif und nicht mehr anpassbar. Dafür hat es aber die hohe Stabilität. Der PE-Kunststoff von normalen, günstigeren Orthesen, der ist nicht so belastbar gewesen. Und da war genau die Schnittmenge, wo wir sagten, wir wollen eine hoch belastbare Orthese entwickeln, die dennoch sehr flexibel ist und nachträglich auch anpassbar ist, das heißt an den Krankheitsfortschritt oder an die Krankheitsverbesserung anpassbar."
    50.000 einzelne Carbonfasern
    Die Idee des Ingenieurs und seiner Kollegen: Den Polyethylen-Kunststoff mit Bändern aus Carbon zu durchziehen. Jedes dieser Bänder besteht aus 50.000 einzelnen Carbonfasern.
    "An den Stellen, wo wir höhere Steifigkeit brauchen, haben wir die Carbonfasern hinzugefügt. Und dadurch, dass in den Bereichen die Stabilität von sich aus höher ist, können wir an anderen Bereichen, wo man diese Steifigkeit nicht braucht, Material weglassen. Und dadurch hat man ungefähr 50 Prozent weniger bedeckte Fläche vom Körper. Und das heißt natürlich, dass man weniger schwitzt, und auch einen höheren Tragekomfort hat, weil an den Stellen kann nichts mehr drücken, reiben oder irgendwie Verletzungen hervorrufen."
    Nach einem 3D-Scan des Patienten wird die Orthese dann individuell gefertigt und angepasst. Dabei eignet sich das neue Material für alle möglichen Arten von Orthesen. Und es ist günstiger als reines Carbon. Markus Brzeski denkt bereits über weitere Verbesserungen nach. Sein Ziel: Noch weniger Materialeinsatz für noch höheren Tragekomfort.