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Orthodoxie als Kommunismusersatz

In Russland erhalten mittelalterliche Begriffe wie "koshchunstvo", Gotteslästerung, wieder Einzug in die Alltagssprache. Der Graben zwischen Liberalen und Orthodoxen wird immer größer. Das zeigt nicht zuletzt der Prozess gegen die Band Pussy Riot zeigt.

Von Gesine Dornblüth | 22.12.2012
    Eine typische Szene in der Moskauer Metro im Sommer: Im Waggon sitzen acht Frauen nebeneinander, allen hängt eine Kette mit einem goldenen Kreuz im tiefen Dekolleté. Russische Männer bevorzugen ein Holzkreuz am Lederband. Gasan Gusejnov beobachtet diese zur Schau getragene Frömmigkeit der Russen mit Befremden. Der Philologe und Kulturhistoriker lehrt an russischen und deutschen Hochschulen.

    "Das sind Symbole, das sind Amuletten. Und es ist eine Überzeugung, dass bei uns eben etwas ganz speziell das Unsrige ist. Das muss sein. Und das ist das, was uns von allen anderen unterscheidet. Es ist für meine Begriffe eine Archaisierung der Gesellschaft. Eine Art Bewegung in die Richtung, die noch gar nicht klar ist. Es ist etwas ganz Neues, eine Demodernisierung des gesellschaftlichen Diskurses auch."

    Eine Demodernisierung, die von den Mächtigen, der Obrigkeit, wie man in Russland sagt, gelenkt wird und eventuell gewollt ist, zumindest aber in Kauf genommen wird. Präsident Putin sucht nach einer nationalen Idee, um die Bevölkerung in dem Riesenland zu einen. Gusejnov:

    "Man will eine ideologische Unterfütterung der jetzigen Politik haben, aber man bekommt sie nirgendwo. Und deswegen greifen sie das, was am nächsten liegt. Und das ist diese Religion."

    In der Folge halten mittelalterliche Begriffe wie "koshchunstvo", Gotteslästerung, wieder Einzug in die Sprache. Die Frauen der Performancegruppe Pussy Riot zum Beispiel wurden wegen "Rowdytums aus Motiven des religiösen Hasses" verurteilt. Im Gerichtssaal diskutierten Kläger, Zeugen und Anwälte über Begriffe wie Hölle und Paradies. Sie beriefen sich allen Ernstes auf die Trullanische Synode, eine von dem byzantinischen Kaiser Justinian II. einberufene Kirchenversammlung im Jahr 691. Die Duma hat ein Gesetz auf den Weg gebracht, das Gotteslästerung unter Strafe stellt. Auch die Kommunisten unterstützen dieses Blasphemiegesetz. Den Kulturhistoriker Gasan Gusejnov wundert das nicht. Schon die kommunistische Ideologie der Sowjetunion habe religiöse Züge getragen.

    "Erstens hat man Marxismus als Grundlage genommen, aber dann hat man diesen Marxismus, der ja rationales Gedankengut war, hat man unmerklich innerhalb der ersten drei, vier Jahrzehnte der sowjetischen Periode religionisiert, ideologisiert. Und hat daraus eine mehr oder weniger irrationale Religion gemacht."

    Das mag ein Grund dafür sein, dass der Wechsel vom Kommunismus zur Orthodoxie den Menschen offenbar leicht fällt. Wobei einer jüngsten Umfrage zufolge zwar zwei Drittel der Russen angeben, sie seien orthodox. Fast ebenso viele der Befragten sagten aber, sie hätten noch nie eine Bibel in die Hand genommen.

    Viktor Bondarenko ist Mäzen, Ikonensammler und zugleich einer der größten Kritiker der russisch-orthodoxen Kirche. Er meint, schon unter dem Zaren hätten die meisten Russen nicht aufrichtig geglaubt, sondern seien obrigkeitsgläubig einer Art Herdentrieb gefolgt. Und das sei auch heute so.
    "Das läuft so: Was ist draußen los? Mascha, ich stehe gerade unter der Dusche, sag schnell, was geht draußen vor? –Lenin ist da. Gott existiert nicht, er hat gesagt, wir sollen die Kirchen zerstören. – Na, dann schnell die Parabellum, ich erschieße schnell den Priester, ach, was haben wir gesoffen gestern, noch mit dem Priester gesoffen, los, lass uns die Kirche zerstören... Mascha, was ist draußen los? – Jelzin ist da. Er hat gesagt, Gott existiert – Huch, Gott existiert, schnell, kram das Kreuz von der Oma raus, schnell, schnell, und versteck den Revolver, versteck den KGB-Ausweis, und versteck auch das Parteibuch. - Wenn man das auf drei bis vier Tage konzentriert und daraus einen Trickfilm macht, wird das ein sehr lustiger Film. Ich will ihn seit Langem machen."

    Schon während des Prozesses gegen Pussy Riot wiesen Kommentatoren darauf hin, dass eine Verurteilung der Künstlerinnen die russische Gesellschaft spalten könne – in Anhänger der Kirche und Liberale. Gasan Gusejnow beobachtet das auch an sich selbst.

    "Schwarz-weiß und wir sind die Guten und die sind die Bösen. Diese Ideologie des Feindes ist plötzlich wieder virulent. Und interessanterweise nicht nur von der einen Seite, sondern auch von der anderen Seite: Ich bin Agnostiker, aber ich fühle mich mehr und mehr wie ein richtig vehementer Atheist, obwohl, ich bin keiner. Verstehen Sie, das ist idiotisch, diese Frage überhaupt zu stellen für sich, aber ich bin wirklich ständig mit der Frage konfrontiert: Gehörst du zu diesen Nichtkoscheren sozusagen."

    Der Mäzen Viktor Bondarenko ist regelrecht wütend auf diejenigen, die diese Entwicklung zu verantworten haben, auf die Kirchenleitung und den Kreml. Er spricht von "orthodoxen Taliban".

    "Diese Leute sind keine Christen. Sie sagen nur, sie seien welche. Wenn morgen jemand kommt und sagt, holt eure Nazi-Embleme raus, dann, da bin ich sicher, holen sie auch Hakenkreuze hervor."

    Gasan Gusejnow würde so weit nicht gehen, aber auch er warnt vor den Folgen der derzeitigen Entwicklung:

    "Es gibt erwachsene Menschen, die tatsächlich ideologisch durch und durchgeknallt sind heute. Das ist natürlich, wie man auf neurussisch sagt, das ist ein Challenge für uns alle."

    Serie im Überblick:
    Clash of Cultures - Neue Kulturkonflikte