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Leipziger Buchmesse 2018
Lesen im Rudel - warum sind Literaturkreise en vogue?

Menschen die sich treffen, um gemeinsam über Bücher zu sprechen: allein im deutschsprachigen Raum soll es 30.000 bis 60.000 solcher Zirkel geben. Wo kommt dieses durchaus eingesessene Phänomen her, warum blüht es derzeit auf und weshalb interessieren sich auch immer mehr Verlage für diese Gruppen?

Claudia Dürr und Kerstin Hämke im Gespräch mit Jan Drees | 15.03.2018
    Claudia Dürr (mitte) und Kerstin Hämke (rechts) im Gespräch mit Jan Drees
    Claudia Dürr (mitte) und Kerstin Hämke (rechts) im Gespräch mit Jan Drees (Deutschlandradio / Jelina Berzkalns)
    Gemeinsam das Gleiche lesen – das findet in immer mehr Literaturkreisen statt. Menschen treffen sich, um über Bücher zu sprechen. Die Literaturwissenschaft hat Lesekreise gerade ebenso entdeckt wie Buchhandlungen und Verlage, die teilweise eigene Lesekreisbeauftragte haben.
    Wo liegt der Unterschied zwischen privaten und institutionell angebundenen Kreisen, wer liest mit welchen ästhetischen Kriterien und wie gestaltet man seinen eigenen Lesekreis? Das wird in der Buchmessen-Sendung am Donnerstag besprochen, zusammen mit der Germanistin Claudia Dürr, die aktuell zum Thema geforscht hat und mit Kerstin Hämke, Initiatorin von Mein-Literaturkreis.de, der größten deutschsprachigen Internetseite zum Thema.
    Lese- oder Literaturkreis, das klingt zunächst selbsterklären und dennoch: Was genau ist ein Literaturkreis und woher kommt dieses Phänomen?
    "Letztendlich handelt es sich dann um einen Lesekreis, wenn sich einige Menschen verabreden, über ein Buch zu diskutieren, dass diese Menschen auch gelesen haben", so definiert Kerstin Hämke Lesekreise. Die Treffen fänden in der Regel in regelmäßigen Abständen statt und sollten eine bestimmte Länge haben, damit die Teilnehmer genügend Zeit für die Diskussion des Buches haben.
    "Literaturkreise sind kein ganz neues Phänomen. Es gibt durchaus Gruppen, die sich seit zehn, fünfzehn oder sogar zwanzig Jahren treffen", so Kerstin Hämke. Für diese Gruppen sei es interessant zu sehen, wie sie die Treffen auch nach solch einer langen Zeit lebendig halten. Portale wie Mein-Literaturkreis.de geben Rat bei dieser Frage, helfen den Lesekreis in digitale Zeiten zu übertragen und geben zudem auch Buchempfehlungen für die Gruppen.
    Lesende Multiplikatoren
    Über Bücher wird viel gesprochen und viel kommuniziert. Buchhändler sprechen über Bücher, geben Empfehlungen, in literaturwissenschaftlichen Seminaren wird über Bücher gesprochen. Auf die Frage, wie sich diese Kommunikationen abgrenzen und wo sie anschlussfähig sind an die Literaturkreise, beschreibt Claudia Dürr:
    "Es gibt so viele unterschiedliche Lesekreise wie es auch Leser gibt. Man kann sehr, sehr viele Menschen finden, die im Literaturbetrieb tätig sind und in ihrer Freizeit - ich möchte nicht sagen erstaunlicherweise, vielleicht erfreulicherweise - in einem Lesekreis sind." In ihrer Forschung interessiert sie sich explizit für Gruppen, die privat lesen und keine professionellen Leser sind. Diese seien aber nicht isoliert vom literarischen Feld zu sehen. Dürr beobachtete, dass diese privaten Leser durchaus Anschluss an Diskussionen im Literaturbetrieb haben. Sie "rezipieren Rezensionen und lassen sich beispielsweise auch von Buchpreisen beeinflussen."
    Auch Verlage interessieren sich immer mehr für Lesegruppen. Es gibt Möglichkeiten für Lesekreise, auf den Internetseiten mancher Verlage Material und Passagen für ihre Gruppen zu beziehen, "weil sie damit nicht nur die zehn oder fünfzehn Personen erreichen, die in so einem Kreis sind. Sondern, weil diese Personen auch Multiplikatoren sind. Sie sind informiert, sie empfehlen Bücher weiter. Wenn der Verlag einen Lesekreis erreicht, erreicht er mehr als die einzelne Gruppe", sagte Claudia Dürr.
    Claudia Dürr, studierte Germanistik, Publizistik und Kulturmanagement in Wien; seit 2006 Lehraufträge im Bereich Neuere Deutsche Literatur u.a. an den Universitäten Wien, Graz, Klagenfurt; aktuell arbeitet sie am Wiener Institut für Germanistik an einer Hybridedition der Prosa Werner Koflers; ein Fokus ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit liegt auf Praktiken des gegenwärtigen Literaturbetriebs, im Besonderen: Autorenpoetiken, Wertungs- und Wissenstheorien, Schreibprozessforschung, 2015-2017 Mitarbeiterin (Wiener Kooperationspartnerin) im Forschungsprojekt Bedeutungen literarischer Texte aushandeln zur Literaturrezeption in Lesekreisen an der Universität Klagenfurt – eine Publikation zur Studie erscheint im Herbst 2018 als Sammelband unter dem Titel Social Reading. Literaturrezeption in Lesegemeinschaften Hrsg. von Doris Moser bei Vandenhoeck & Ruprecht.
    Kerstin Hämke aus Bad Honnef-Rhöndorf/Rhein, geboren 1963, studierte in Mannheim Betriebswirtschaftslehre mit den Schwerpunkten Marketing, Organisation und Wirtschaftspsychologie. Anschließend war sie 20 Jahre in verschiedenen Führungspositionen in internationalen Konzernen tätig. Ihren ersten Lesekreis startete sie bereits vor 17 Jahren. Im Internet betreibt sie mit mein-literaturkreis.de die größte Ratgeber- und Empfehlungsplattform für Lesekreise im deutschsprachigen Raum. Im Herbst 2018 erscheint bei Kiepenheuer & Witsch Köln ein Band von Hämke über Lesekreise.