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Oscar Wilde im Kreuzverhör

Merlin Holland verbringt seit vielen Jahren einen beträchtlichen Teil seiner Zeit damit, Briefe von wildfremden Menschen zu beantworten. Von Beruf war er Antiquar, er importierte Terracotta aus Italien und schrieb Weinkolumnen für eine englische Zeitschrift, doch die vielen Briefe haben mit seinen verwandtschaftlichen Verhältnissen zu tun: Merlin Holland ist der Enkel von Oscar Wilde. Was für eine Aufgabe das darstellt, merkte er erst nach und nach, denn zuhause wurde über den berühmten und zugleich verfemten Großvater nie gesprochen. Homosexualität war in Großbritannien bis vor 36 Jahren strafbar, und die Familie hat an den Auswirkungen jener Eskapaden, die am 3. und 4. April 1895 vor dem Londoner Central Criminal Court verhandelt wurden, generationenlang gelitten.

Burkhard Müller-Ullrich | 30.09.2003
    Umso seltsamer erscheint es, daß das Protokoll dieses für das Leben des Dichters sowie für die Dichtung überhaupt so katastrophal folgenreichen Prozesses bis heute noch nicht in vollem Umfang veröffentlicht wurde. Zwar haben sich zahlreiche Wilde-Biografen darauf gestützt und es gibt auch mehrere Bücher über das Gerichtsverfahren selbst, aber der ganze Wortlaut jener Kreuzverhöre, in denen ein zunächst blasierter, seiner Schlagfertigkeit allzu sicherer Ankläger namens Oscar Fingal O’fflahertie Wills Wilde nach allen Regeln der forensischen Rhetorik kaputtgefragt wurde, seine Gelassenheit allmählich verlor und sich gewissermaßen selber auf die Anklagebank redete, dieser Wortlaut ist nach mehr als hundert Jahren ein literaturgeschichtliches Novum, das Merlin Holland anläßlich einer Gedenkausstellung in der British Library fand.

    In der Tat war es zunächst Wilde gewesen, der Anzeige erstattet hatte, und zwar gegen Lord Queensberry, den Vater seines Geliebten Alfred Douglas, genannt "Bosie". Er ließ sich zu dieser Verleumdungsklage hinreißen, nachdem Queensberry ihm eine provozierende Visitenkarte zugespielt hatte, auf der stand: "Für Oscar Wilde, den posierenden Somdomiten (sic!)." Daß Queensbery nicht einmal "Sodomiten" richtig schrieb, war übrigens typisch für einen adligen Proleten, der sich öffentlich mit seinen Kindern prügelte und dessen historische Leistung nebst der Tatsache, daß er einen der brillantesten Dichter seiner Zeit zugrunde richtete, vor allem in der Schaffung der Queensberry-Regeln für den Boxkampf bestand. Wilde hatte ihn wegen unverhohlener Gewaltandrohungen schon einmal seines Hauses verwiesen, er hatte Queensberry, der den Eklat suchte, polizeilich am Zutritt zu einer Theaterpremiere hindern lassen, doch diese schriftliche Herausforderung auf einer Visitenkarte machte das Maß den Hinnehmbaren voll.

    Am Freitag, dem 1. März 1895 reichte Wilde Klage gegen den Wüterich ein, am nächsten Morgen wurde Queensberry verhaftet, ins Polizeigericht gebracht und gegen eine Kaution von 1000 Pfund Sterling freigelassen. Es gab eine Voruntersuchung, und einen Monat später wurde das eigentliche Verfahren in Old Bailey, dem Londoner Kriminalgericht, eröffnet. In diesem Verfahren hatte Queensberry zu beweisen, daß seine Invektive ("posing sodomite") auf wahren Tatsachen beruhte.

    Diese Beweise hatten unterdessen ein paar Privatdetektive gesammelt. Es war ihnen gelungen, ein halbes Dutzend Strichjungen, Kuppler und andere zwielichtige Gestalten ausfindig zu machen, mit denen sich Wilde eingelassen hatte; sie hatten sogar einen Hotelboy aufgetrieben, der unterdessen nach Calais gegangen war. All deren Zeugenaussagen hatte Queensberrys Anwalt in der Hinterhand, als er am Vormittag des 3. April 1895, es war ein Mittwoch, mit Wildes Kreuzverhör begann. Dieses Kreuzverhör, dessen Mitschrift sich im Buch von Seite 131 bis Seite 307 spannt und damit rund die Hälfte des gesamten Texts ausmacht, ist ein Dokument von eigentümlichem Reiz: widerlich und brillant zugleich, beängstigend und mitleiderregend, voller Lügen und Wahrheiten.

    Edward Carson, der Mann, der es führte, war der eigentliche Star des Prozesses. Gegen ihn sei ein Zeuge "wie eine Latte gegen Eisen", schrieb ein Prozeßbeobachter des Daily Chronicle. Wilde hatte davon offensichtlich keine Ahnung. Er kannte Carson, der mittlerweile dem Parlament angehörte, sogar aus der gemeinsamen Studienzeit am Oxforder Trinity College. Das war wohl auch der Grund gewesen, weshalb Carson das Mandat zunächst nicht übernehmen wollte. Oder traf eher Wildes Vermutung zu, der gesagt haben soll (das Aperçu ist allerdings nicht verbürgt), Carson werde seine Aufgabe "zweifellos mit der ganzen aufgestauten Bitterkeit eines alten Freundes erfüllen"?

    Jedenfalls war schon der allererste Satz, den er an Wilde richtete, ein Giftpfeil ohnegleichen. Wilde hatte zu Beginn der Verhandlung angegeben, daß er 39 Jahre alt sei. Carson bemerkte spitz: "Ich glaube, Sie sind über vierzig, nicht wahr?" Wilde mußte klein beigeben. Die Falschaussage über sein eigenes Alter bildete einen wenig verheißungsvollen Auftakt. Aber noch hatte er Oberwasser. Carson traktierte ihn mit Zitaten aus seinen Werken und bemühte sich, ihn auf obszöne, blasphemische und sonstwie sittenwidrige Bedeutungen (all das steckte damals im Begriff "sodomitisch") festzunageln. Das ließ Wilde ziemlich kalt: "Für einen Literaten ist es unmöglich, einen Text anders zu beurteilen als nach seinen literarischen Mängeln", dozierte er und brachte durch souveränen Wechsel der Diskursebenen die Lacher auf seine Seite. Wenn Carson scharf nachfragte: "Glauben Sie, daß das wahr ist?", antwortete Wilde mit aufreizender Gelassenheit: "Ich glaube selten, daß etwas, das ich schreibe, wahr ist."

    Doch indem er für das Publikum die Wilde-Show abzog, merkte Wilde gar nicht, wie sich die Schlinge um seinen Künstlerhals immer fester zog. Carson ließ ihn eine Weile gewähren, dann schaltete er um auf eine brutale Deutlichkeit: "Haben Sie je seine Hosen geöffnet?" – "Haben Sie Hand an seine Person gelegt?" – "Haben Sie je Ihre eigene Person zwischen seine Beine gelegt?" – "Was für Gemeinsamkeiten gab es zwischen Ihnen und diesem jungen Mann aus dieser Klasse?" So ging es dahin, und Wilde stritt alles ab – wie er auch gegenüber seinem eigenen Anwalt stets geleugnet hatte, daß an den gegen ihn erhobenen Vorwürfen irgend etwas Wahres sei.

    Am Ende blieb nur der peinliche Antrag die Klage gegen Queensberry zurückziehen zu dürfen, doch da war es zu spät. Was alle Freunde nah und fern – von George Bernard Shaw bis zu André Gide – sowie sämtliche Rechtsberater von vornherein befürchtet hatten, nahm jetzt seinen Lauf: nur wenige Stunden, nachdem Queensberry freigesprochen worden war, wurde Wilde verhaftet – und erkannte vermutlich zum ersten Mal, daß er, wie er später in "De profundis" schrieb, in eine extra für ihn aufgestellte juristische Falle gelaufen war.

    Es folgten noch zwei Strafprozesse, in denen er der Angeklagte war. Sie sind in diesem Band nicht enthalten. In ihnen gab es jedoch nicht mehr die Dramatik jenes Umschwungs, der sich während des Queensberry-Prozesses ereignete, als Wilde, von Carson zunehmend bedrängt, seine mondäne Gelassenheit verlor und sich vor den Geschworenen allein schon durch seinen gereizten Ton kompromittierte. Leider vermittelt der Text den Ton nur teilweise, gern hätte man auch eine Vorstellung vom Tempo dieser Schlagabtäusche. Gern wüßte man mehr über die Minen, Gesten, Reaktionen der übrigen Anwesenden – zum Beispiel von Wildes Anwalt Edward Clarke, ebenfalls Member of Parliament, dem oft angelastet wurde, daß er eine falsche Strategie verfolgt habe. Wahr ist, daß er kein solcher Kämpfer wie Carson und überdies von den Lügen seines prominenten Mandanten so tief enttäuscht war, daß er Wilde in seiner 1918 erschienenen Autobiographie nicht einmal erwähnte.

    Wahr ist auch, daß der Versuch, Queensberry ins Gefängnis zu bringen, von vornherein aussichtslos gewesen war, da kein englisches Geschworenengericht einen Vater, der seinen Sohn vor der sittenwidrigen Beziehung zu einem doppelt so alten Mann zu bewahren suchte, jemals verurteilt hätte. Das aber heißt auch, daß Wilde durchaus kein so großes Unrecht geschah, wie man es zu glauben sich angewöhnt hat: nicht nur weil er gegen geltende Gesetze verstoßen hatte, sondern auch weil er jegliche Vorsicht vermissen ließ, die wenigstens von Verantwortungsgefühl für seinen jungen Liebhaber gezeugt hätte: In den vier Wochen, da die Gegenseite emsig nach Zeugen fahndete und die große Abrechnung vorbereitete, reiste Wilde mit Douglas nach Monte Carlo und verpraßte dort am Spieltisch Geldbeträge, die ihm dann für seine Verteidigung fehlten.

    Und noch am zweiten Tag des Queensberry-Prozesses erschien er nach der Mittagspause mit Verspätung vor Gericht, weil die Uhr in dem Hotel, in dem er lunchte, angeblich verkehrt gegangen sei. Es war sein letztes Lunch in Freiheit und von daher ein Beweis für den Stil, den wir von einem Oscar Wilde erwarten.

    Merlin Holland: Oscar Wilde im Kreuzverhör, Verlag Karl Blessing, 464 Seiten, 22 Euro