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Ossola
Vergessene Partisanenrepublik und Wiege des Nachkriegsitaliens

Im September 1944 befreiten italienische Partisanen das Ossola-Tal und gründeten eine heute fast vergessene Republik. Noch während der faschistischen Herrschaft wurden dort die Grundlagen für das heutige Nachkriegsitalien gelegt. Ein Museum im italienischen Fondotoce erinnert an dieses Kapitel des Zweiten Weltkrieges.

Von Mirko Schwanitz | 20.09.2015
    Der Lago Maggiore im Tessin
    Fondotoce liegt in Norditalien zwischen dem hier gezeigten Lago Maggiore un dem kleineren Lago die Mergozzo. (dpa - picture alliance / Thomas Muncke)
    Wir sind in Fondotoce, Norditalien. Der Ort liegt wie auf einer Landbrücke zwischen dem Lago Maggiore und dem kleineren Lago di Mergozzo. Richtung Norden erheben sich die Bergmassive des Ossola-Tals.
    Schüler lärmen vor der Casa della Resistenza. Das Haus des Widerstands wurde am Ort eines Massakers errichtet. 1944 brachten deutsche Faschisten hier 43 Partisanen um. Als Führer Giorgio Danini die Jugendlichen an eine lange Mauer führt, wird es still.
    "Sie wurden aus der Nazi-Kommandantur in Intra hierher gebracht. Genau an diese Stelle. Dann wurden sie, immer drei nacheinander, erschossen. Damals war hier nichts - nur eine grüne Wiese. Mein Vater war einer der ersten hier. Mit einem Arzt identifizierte er die Opfer. Er kannte jeden der ermordeten Partisanen. Und ihr könnt mir glauben, es war ein schrecklicher Anblick, wie sie da lagen, blutüberströmt."
    Über 80.000 Menschen lebten in der Republik
    Giorgio Danini ist immer wieder erstaunt, dass viele junge Italiener in der Casa della Resistenza das erste Mal davon hören, dass hier im Ossola-Tal die Wiege eines neuen Nachkriegsitalien stand. 1944 war es Partisanen gelungen, das Tal für 44 Tage zu befreien und noch während der faschistischen Herrschaft eine zivile Regierung auf italienischem Boden einzusetzen. Viele der von ihr verabschiedeten Gesetze und Verordnungen wurden später zur Grundlage der noch heute geltenden italienischen Verfassung.
    "Die provisorische Regierung der Republik Ossola hat mit ihrer Verfassung versucht, ein Beispiel dafür zu geben, dass die Italiener nach 20 Jahren faschistischer Diktatur in der Lage sind, sich selbst zu regieren, frei und demokratisch."
    Über 80.000 Menschen lebten in der Republik. Tondokumente wie dieses vom Präsidenten der Republik Ossola, Ettore Tibaldi, erinnern daran und machen die Casa della Resistenza zu einem modernen Ort des Erinnerns.
    "Hier haben wir einen didaktischen Raum für Schüler eingerichtet. Und hier können die Schüler Filme ansehen, auch ein Interview mit dem einzigen Überlebenden des Massakers von Fondotoce. Mir scheint aber, dass wir 70 Jahre nach dem Krieg eine neue Form der Erinnerungskultur brauchen. Deshalb verbinden wir die Geschichte der Partisanenrepublik Ossola eng mit dem Horror des 20. Jahrhunderts, mit Vietnam, Afrika, Bosnien."
    Begegnung zwischen Partisanen und Schülern
    Wie aber Geschichte für eine Generation lebendig machen, die nichts als Wohlstand kennengelernt hat? In der für viele die Bilder der aktuellen Flüchtlingskrise noch immer wie Bilder aus einem Computerspiel fürs neue Smartphone wirken? Gemeinsam mit der Casa della Resistenza bietet Tim Shaw Interessenten an, die Geschichte der Republik Ossola auf alten Partisanenpfaden zu erkunden. Während Giorgio Danini unten eine Begegnung zwischen den Schülern und alten Partisanen moderiert, ist Tim Shaw oben in den Bergen gerade mit einer deutschen Gruppe unterwegs.
    "Jetzt sind wir nach wie vor auf dem Weg, den die Partisanen damals genommen haben zum Fliehen. Und auch die Nazis, um die Partisanen zu verfolgen. Wir kommen jetzt an den obersten Ruinen der Corte Bue an. Und die Nazis sind hier durchgezogen. Sie wollten den Partisanen keine Rückzugsmöglichkeit geben und haben deshalb alles niedergebrannt. Und hier sieht man nach wie vor die Brandspuren. Dieser Brand ist nicht zufällig entstanden - das war die SS."
    Am Nachmittag wird auch Shaws Wandergruppe die Casa della Resistenza besuchen. Hier wird sie erfahren, dass die Alliierten die Partisanenrepublik im Stich ließen, dass sie nach 44 Tagen Existenz einem massiven Angriff der deutschen Wehrmacht nicht standhalten konnte. Und sie wird die Bilder der 35.000 Flüchtlinge sehen, die damals in Zügen und über verschneite Bergpässe versuchten, in die Schweiz zu gelangen. Es sind Bilder wie die, die in diesen Tagen unsere Fernseher fluten.