"Egon Schiele - Sämtliche Gemälde 1909-1918"

Warum Schieles Kunst noch immer revolutionär ist

Tobias G. Natter (Hg.): "Egon Schiele - Sämtliche Gemälde 1909-1918"
Tobias G. Natter (Hg.): "Egon Schiele - Sämtliche Gemälde 1909-1918" © Imago / Taschen Verlag
Von Eva Hepper · 02.08.2017
Aktbilder begründeten den Ruf des Malers Egon Schiele als "Enfant terrible". Heute sorgt sein Werk zwar nicht mehr für Skandale. Wie bahnbrechend die Kunst des Österreichischers ein Jahr vor seinem 100. Todestag aber immer noch ist, zeigt ein gewichtiger Bildband von monumentalen Ausmaßen.
Mehr als drei Viertel der Leinwand hat er weiß gelassen und damit einen gewaltigen leeren Raum in die Mitte des Gemäldes platziert. Rechts davon reckt sich eine breite, schwarze Linie in die Höhe, die sich teilt, unter Farbklecksen durchtaucht und am oberen Bildrand endet.
1909, mit 19 Jahren, malte Egon Schiele "Herbstbaum mit Fuchsien". Die expressive Linienführung verweist schon auf seine späteren Aktbilder. Sie werden den Maler berühmt und berüchtigt machen und seinen Ruf als "Enfant terrible" begründen; vor allem die in ihrer Nacktheit schonungslos offen dargestellten Mädchen, die fragmentierten Körper und verzerrten Selbstbildnisse. Doch bereits der kantige Strich des Herbstbaums irritierte die Sehgewohnheiten von Schieles Zeitgenossen.

Der Maler in neues Licht gerückt

Heute ruft das Werk des neben Gustav Klimt und Oskar Kokoschka wichtigsten österreichischen Malers der Wiener Moderne keine Skandale mehr hervor. Wie revolutionär seine Kunst jedoch noch immer ist, zeigt Tobias G. Natter in einem gewichtigen Bildband von monumentalen Ausmaßen. Darin legt der ausgewiesene Klimt- und Schiele-Experte das Werkverzeichnis aller Gemälde von 1909 an vor; ergänzt durch exzellente Aufsätze zu Schieles Leben und Arbeit von sechs profilierten Kolleginnen und Kollegen.
Christian Bauer etwa, der bereits Grundlegendes zu Schieles Anfängen vorgelegt hat, schreibt über den "frühen Schiele", die Kuratorinnen Helena Pereña und Jill Lloyd widmen sich der Zeit des Durchbruchs 1910/11 und den Kriegsjahren und Ursula Storch porträtiert sein literarisches Werk. So entsteht ein umfängliches, wissenschaftlich aktuelles Gesamtbild Egon Schieles, das sowohl die Schlüsselmomente seiner Biografie und seines Schaffens präsentiert, als auch Neues ins Licht rückt; etwa psychologische Bildinterpretationen, die Beschreibung der "Vermarktungslinie" als leidender Künstler oder die Bedeutung des Röntgens als Inspirationsquelle der Malerei.

Optischer und haptischer Genuss

Absolut herausragend sind Qualität und Präsentation der Abbildungen. Fast 150 Zeichnungen und über 220 Gemälde, erstmals überhaupt durchweg in Farbe, und viele neu fotografiert, versammelt das 600-seitige Buch im XXL-Format; die einen auf Hochglanzpapier gedruckt, die anderen auf büttenähnlichem Papier. Ein optischer und haptischer Genuss!
Der Höhepunkt des Prachtbandes, das Werkverzeichnis, findet sich am Ende. Tobias G. Natter zeigt Mut, sich ein Jahr vor Schieles 100stem Todestag 2018 daran zu wagen, sorgen doch Abschreibungen und Zuschreibungen zuverlässig für Streit. Schließlich geht es um viel Geld, denn Schieles Werke werden mittlerweile für Millionenbeträge gehandelt. Der ehemalige Direktor des Wiener Leopold Museums lässt tatsächlich ein Werk fallen und nimmt sechs neue auf. Doch verweist er diplomatisch auf andere Forschungsansätze und verschweigt nicht, "wie lückenhaft unsere Kenntnis zu Schieles malerischem Frühwerk noch immer ist".
Neben den hochkarätigen Essays und den sensationell gedruckten Abbildungen ist es nicht zuletzt diese Haltung Natters, die den opulenten Bildband auszeichnet.

Tobias G. Natter (Hg.): Egon Schiele. Sämtliche Gemälde 1909-1918
Übersetzung: Kurt Rehkopf
Taschen Verlag 2017
612 Seiten, 150 Euro

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