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Ost-West-Debatte
"Zusammenhalt wird überschätzt"

Die Menschen in Sachsen müssten sich damit abfinden, dass über sie geredet wird, sagt Philipp Greifenstein, Autor des Blogs "Unter Heiden". Es sei jedoch falsch, sie über demokratische Tugenden zu belehren. Vor allem die Kirchen übernähmen sich, wenn sie alle an einem Tisch versammeln wollten.

Philipp Greifenstein im Gespräch mit Benedikt Schulz | 06.09.2018
    Eine junge Frau formt mit ihren Händen ein Herz über ihrem Kopf auf dem #wirsindmehr-Festival in Chemnitz.
    #wirsindmehr in Chemnitz: Zehntausende kamen zum Konzert gegen Rechts vor der Johanniskirche. (imago / Future Image)
    Benedikt Schulz: Dass Fremdenhass auf Ost beschränkt ist, wird niemand ernsthaft behaupten wollen. Dass es im Osten Deutschlands aber ein ernstes Problem mit Rechtsextremismus gibt, aber wohl auch niemand bestreiten. Dass in Chemnitz Menschen gejagt werden, hat viele verstört. Was ist da los im Osten? Und wie hängt das zusammen mit der So-Gut-Wie-Abwesenheit organisierter Religionsgemeinschaften? Wir wollen darüber reden mit Philipp Greifenstein. Er ist Redakteur beim Webmagazin "Die Eule" – und vor allem verfasst er regelmäßig die Kolumne "Unter Heiden" – über das Leben in seiner Heimat, denn er stammt aus dem Osten, genauer gesagt: aus Dresden in Sachsen, wohnt aber in Eisleben in Sachsen-Anhalt – jetzt: ist er am Telefon – ich grüße Sie!
    Philipp Greifenstein: Guten Morgen.
    Schulz: Fangen wir mal mit ihrer Kolumne an: Sie schreiben also aus einem Land "Unter Heiden". Das beschreibt etwas zugespitzt die Tatsache, dass keine der christlichen Kirchen – aber auch sonst keine Religionsgemeinschaft - wirklich verankert ist in der Gesellschaft. Was ist das für ein Leben "Unter Heiden"?
    Große Freiheit unter Heiden
    Greifenstein: Das fühlt sich für diejenigen, die von hier stammen und kommen, ganz normal an. Das soll auch gar nicht negativ klingen. Das fühlt sich genau so angenehm oder unangenehm an wie in Regionen, die viel stärker durch Religion geprägt sind. Vielleicht mit einem Unterschied: Eine verabredete Rhythmik des Alltags gibt es so stark nicht mehr. Wenn niemand mehr darauf achtet, dass man in den Sonntagsgottesdienst geht, dann stellt sich die Frage: Wo ist das Zentrum? Wo trifft man sich überhaupt? Das ist nicht mehr der Sonntagsgottesdienst, das sind auch keine anderen öffentlichen Veranstaltungen? Was ist das Zentrum einer Stadtgesellschaft, was ist das Zentrum einer Gemeinschaft? Das sind keine öffentlichen Orte. Das ist vielleicht ein Unterschied. Ansonsten interpretiere ich "Unter Heiden" auch so, dass es eine große Freiheit gibt in der Lebensgestaltung.
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Der evangelische Theologe, Journalist und Blogger Philipp Greifenstein. (Philipp Greifenstein)
    Schulz: Fühlen Sie sich als Theologe als Exot?
    Greifenstein: Nein. Das würde ja nur behaupten, dass man als Gebildeter unter den Ungebildeten lebt. Das halte ich für eine Fremdsicht.
    Schulz: Ist das Problem auch, dass diejenigen, die aus Westdeutschland gerade in diesen Tagen nach Ostdeutschland gucken, dass da diese Fremdsicht mit reinspielt?
    "Diese sächsische Empfindlichkeit kann ich nicht nachvollziehen"
    Greifenstein: Das denke ich schon. In den letzten Tagen "seit Chemnitz" ist das zu einem neuen Thema geworden, dass wahrgenommen wird, dass ganz viel über den Osten und wenig mit den Ostdeutschen geredet wird. Das ist aber nicht das zentrale Problem. Die Menschen in Sachsen, Dresden, Chemnitz müssen sich natürlich damit abfinden und können das auch, dass über sie geredet wird. Also diese Empfindlichkeit kann ich nicht nachvollziehen. Das gehört dazu. Es wird ja niemand daran gehindert, seine eigene Sicht einzubringen.
    Schulz: Man spricht immer gerne von den Abgehängten, von Menschen oder gleich ganzen Regionen, die am Wohlstand der Welt nicht mehr teilnehmen, deren Stimme marginalisiert wird. Gibt es diese Abgehängten, denen niemand zuhört, wirklich so häufig in Ostdeutschland?
    Greifenstein: Es gibt Menschen, die dieses Gefühl haben. Die Frage ist, in welchem Kontext man das anschaut. Da, denke ich, haben wir Dinge miteinander vermischt, die nicht miteinander vermischt gehören. Vom Wohlstand der Welt ist Ostdeutschland nicht abgehängt. Es gibt Regionen, die wir so gerne strukturschwach schimpfen. Aber die eigentliche Strukturschwäche ist nicht Armut oder wirtschaftliche Not. Die eigentliche Strukturschwäche ist, dass sich Gesellschaft dort anders formiert, wenn sie sich überhaupt formiert. Mir wird nicht klar, warum man die Leute deswegen bemitleiden sollte. Zu sagen: Jetzt werden sie als Patienten behandelt, das ist jetzt problematisch geworden für viele, die sich an der Debatte schon seit längerer Zeit beteiligen. Das ist aber eigentlich auch keine Neuigkeit, das sagen viele schon seit Jahren: Bitte hört auf, die Ostdeutschen wieder als Objekte eines Gesprächs wahrzunehmen, als Zielgruppe einer Pädagogisierung. Da steckt eine Bevormundung drin, von der nicht wenige Ostdeutsche der Meinung sind, dass darin dieses Missverhältnis von Macht zum Ausdruck kommt, das es zwischen Ost- und Westdeutschen seit der Wiedervereinigung gibt.
    "Dabei überspannt sich Kirche gewaltig"
    Schulz: Sie haben gesagt, die Strukturschwäche liegt darin, dass es wenige Orte gibt, an denen Gemeinschaft entsteht. Wären Kirchen solche Orte?
    Greifenstein: Prinzipiell sind Kirchen Orte, wo Menschen zusammenkommen. Was mich daran stört, ist Folgendes: In den Debatten um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, der immer adressiert wird, die wir in Sachsen seit der Hochzeit von Pegida haben, nimmt die Kirche die Funktion ein, dass sie sagt, sie sei der gesellschaftliche Akteur, der diesen Zusammenhalt herstellen müsste, der die unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Überzeugungen an einem Tisch bringen müsste. Dabei überspannt sich Kirche gewaltig. Wir haben im Osten durchgängig eine Minderheitensituation der beiden Kirchen. Im Mansfelder Land sind zehn Prozent aller hier lebenden Menschen nur noch Mitglied in irgendeiner christlichen Kirche. Wenn in so einer Situation die Kirche sagt: "Wir sind der Ersatzspieler auf dem Spielfeld für das, was eigentlich politisches Nachdenken sein soll", dann wird es komisch. Wer sind die Leute, die sich in Ostdeutschland Gehör verschaffen? Die darauf hinweisen, dass es nicht nur darum geht, den Rechten zuzuhören und den Abgehängten hinterherzulaufen, sondern dass auch darum geht, auf die Gegenseite zu hören, auf die Seite der Demokraten zu achten? Da ist die Kirche nicht an vorderster Front dabei. Das sind spontane Vergemeinschaftungen, wie zum Beispiel um das Konzert in Chemnitz herum. Um das kritische Potenzial, um den Anspruch deutlich zu machen, der da an die Kirchen erwächst, müsste man feststellen, dass man ganz und gar nicht im Zentrum einer Bewegung steht. Deshalb ist es schwierig, immer nur von der Kirche auszugehen.
    Wenn ich die Kolumne "Unter Heiden" nenne, dann auch deshalb, weil das bedeutet: Ganz mit den Menschen zu leben, die hier wohnen. Und nicht "Unter Christen". Das ist eine Aussage, wie Christentum und wie Kirche überhaupt sein kann. Also: Sich nicht selbst in die Minderheitenposition mental drücken zu lassen, sondern bewusst zu sagen: Wir sind Teil einer Gesellschaft. Da ist meine Wahrnehmung, dass es nicht bei allen ostdeutschen Landeskirchen gleichermaßen ausgeprägt ist, also Zeitgenossenschaft und Teilhabe an den wirklich wichtigen Fragen unserer Gesellschaft.
    Suche nach Orientierung
    Schulz: Wenn nur wenige Menschen in Ostdeutschland Kirchenmitglieder sind, dann heißt das nicht, dass sie nicht religiös oder spirituell sein müssen. Würden Sie zumindest so weit gehen zu sagen, dass Sinn für Spiritualität – zum Beispiel vermittelt im Ethik-Unterricht oder bei anderen Anlässen, wo Jugendliche zusammenkommen, das politische Klima verändern könnte, weil es andere Orientierung bietet?
    Greifenstein: Wenn man mit dem Schlagwort Spiritualität vielen Menschen begegnet, in Ost und in Westdeutschland, dann besteht da eine gewisse Scheu vor dem, was landläufig darunter verstanden wird. Ich will stattdessen den Begriff Orientierung bieten. Zum Beispiel dadurch, dass wir in Halle an der Saale im vergangenen Jahr ganz spannende Zahlen hatten. Es gibt eine Minderheit der Jugendlichen, die die Konfirmation machen und solche, die die Jugendweihe machen, weil das aus DDR-Zeiten in den Familien noch so tradiert wird. Aber die größte Einzelgruppe, 40 Prozent der Jugendlichen im betreffenden Alter, hat an einer nicht konfessionellen Lebenswendefeier teilgenommen, die von der Kirche unternommen und gestaltet wird. Also: Ja, da gibt es für Kirche Möglichkeiten, an der Lebensgestaltung von Menschen wieder teilzunehmen, wenn die Angebote entsprechend werden. Aber: Hier stellt sich mir wieder die Frage: Muss Kirche überhaupt der Ort sein, an dem alle zusammen kommen?
    Schulz: Wenn Sie sagen: Es fehlen die Zentrum und es klar ist, dass die Kirchen nicht das Zentrum sein müssen: Wo ist der Ort, an dem Gemeinschaft entsteht in Ostdeutschland?
    "Der Drang nach Einverständnis ist übertrieben"
    Greifenstein: Ich würde widersprechen: Warum muss es den Ort überhaupt geben? Ich halte den Drang "Wir machen das alle zusammen", "Wir brauchen solche zentralen Geschmacksorte, wo wir uns treffen, wo wir einverstanden sind" – ich halte diesen Drang nach ganz viel Einverständnis und Zusammenhalt für übertrieben. Der spiegelt die gewollte Lebenswirklichkeit der Menschen, die hier leben, nicht wieder. Man kann diese Menschen auch mal ernst nehmen und sagen: Okay, wenn es kein Bedürfnis nach so einem großen Marktplatz gibt, dann braucht es den vielleicht auch nicht. Ich würde sogar kritisch fragen, ob es denn in Westdeutschland solche Orte, wo alle an einem Tisch sitzen. Es gibt in Ostdeutschland sicherlich noch weniger. Obwohl die Kirche in der Minderheitssituation ist, ist sie schon noch der Akteur mit der größten Bindekraft. Aber Gesellschaft kann auch anders funktioniert, als dass man immer sagt: Wir brauchen unbedingt die große Verständigung miteinander.
    Schulz: Aber es muss doch Orte geben, an denen Menschen zusammenkommen.
    Greifenstein: Genau. Da gibt es vielleicht Unterschiede zu Westdeutschland. Da es doch relativ viele Orte gibt und einige Regionen, wo das soziale Leben insofern anders ist, als dass es zum Beispiel keine Vereine gibt, die Mehrheiten organisieren. Das berühmte Schützenfest gibt es in Thüringen und lokal noch in anderen Landkreisen, aber es ist nicht mehr flächendeckend. Ich bin einer von denen, die sagen: Das muss auch nicht sein. Ich habe das Gefühl, dass wenn man immer darauf schaut, was hier nicht ist, dass man dann ganz häufig sagt: "nicht mehr". Dann hat man automatisch wieder die Perspektive der Unterscheidung zu Westdeutschland.
    Schutzräume in den Städten
    Schulz: Fragen wir andersherum: Was ist?
    Greifenstein: Hier leben auf dem Land zunehmend viele alte Menschen, deren Gefühl des Abgehängtseins vielleicht gar nicht mit der wirtschaftlichen, sondern mit der sozialen Situation, dass man sich ganz praktisch im Stich gelassen fühlt, wenn junge MEnschen weggehen. Dann haben wir einige große Städte, Leipzig, Dresden, mit Abstrichen auch Chemnitz, wo wir eine starke Trennung haben zwischen unterschiedlichen Lebenswelten, im positiven wie im negativen Sinne Parallelgesellschaften. Ich denke, das muss man als Fakt auch zur Kenntnis nehmen und nicht gleich mit dem Satz kommen: Das darf so nicht sein. Um das ganz hart zu formulieren: Diese Parallelgesellschaften in den Städten, dort wo es Reste von Kulturbürgertum gibt und dort, wo es eine jüngere Szene gibt von jungen Familien und jungen Kulturschaffenden, das sind auch Schutzräume, in die nicht zuletzt junge viele Leute aus den ländlichen Gebieten kommen, die zum Studium und zur Ausbildung in die Städte gehen und die da ganz bewusst hingehen. In dem Moment wo wir sagen: Ihr müsst euch auf die von uns so betitelten Ausgeschlossenen und Abgehängten zubewegen, greifen wir den Schutzort an. Den Ort, wo sie sich gern bewegen und wo sie sich auch im Gegensatz zu dem, wie sie Ostdeutschland erleben, eine Gegenwelt bauen.
    Schulz: Was macht man mit den Regionen, mit den Dörfern, in denen gemeinschaftsstiftenden Orte nicht mehr existieren? Das ist ja eine fatale Diagnose.
    Greifenstein: Das ist genau der Punkt. Ist das fatal? Es gibt Orte, wo Leute zusammen sind, das sind nur keine öffentlichen Orte. Das sind Familien, das sind Freundeskreise, die gibt es. Wir haben ja hier kein zerstörtes Sozialleben in dem Sinne, dass Menschen überhaupt nicht miteinander reden würden. Die Unterschiedlichkeit in der Organisation von Gemeinschaft macht sich im Umgang mit Politik bemerkbar. Das sind nicht interessengeleitete Vereine und, um auf die Kirchen zu sprechen zu kommen, auch nicht eine Kirche, in der sich Menschen vor allen Dingen um die gemeinsame Idee, um den gemeinsamen Inhalt, um das Evangelium versammeln. Sondern: Wenn Gemeinschaft wie hier ganz häufig so funktioniert, dass sie über gemeinsam erlebtes Leben funktioniert, Schulfreunde zum Beispiel, dann ist die Bereitschaft, in diesen Gruppen überhaupt Politisches zu thematisieren, geringer und die Bereitschaft, auch gefährliche Meinungen zu kritisieren. Das ist dann eben nicht das Gemeindemitglied, dem man damit kommt mit: "Aber das steht in der Bibel ganz anders. Deshalb haben wir in der Gemeinde begründet etwas gegen rechtsextremismus." Sondern das ist die Person, mit der man gemeinsam zur Schule gegangen ist und der tritt man im Zweifelsfall nicht zu nahe.
    Philipp Greifenstein ist Redakteur des Online-Magazins für Kirche Politik und Kultur "Die Eule" . Er hat evangelische Theologie studiert und lebt in Eisleben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.