Donnerstag, 18. April 2024

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Ostana
Ein Dorf vor dem Aussterben bewahrt

Fünf Einwohner waren in dem norditalienischen Dorf Ostana noch übrig. Es waren mal über tausend. Ein "sterbendes Dorf" - typisch für abgelegene Regionen: keine Arbeit, keine Kultur, keine Zukunft. Bis sich ein findiger Bürgermeister mit Aussteigern verbündete und EU-Hilfsgelder auftrieb.

Von Jan-Christoph Kitzler | 04.03.2015
    Man muss ein ganzes Stück fahren. Von Turin geht es immer nach Westen in Richtung Quelle des Po, immer weiter aufwärts. Der gewaltige Fluss, der einen großen Teil Norditaliens prägt, ist hier eher ein Gebirgsbach. Oben im Po-Tal unter dem mächtigen Gipfel des Monte Viso liegt Ostana. Ein Dorf, etwa 1.300 Meter hoch, das schon im Sterben lag, erzählt Giacomo Lombardo, der Bürgermeister: "Vor 100 Jahren hatte Ostana 1.300 Einwohner, der Erste und der Zweite Weltkrieg hat viele Jungs geholt. Und dann war Fiat so eine Art Dritter Weltkrieg, fast wie die anderen. Jede Woche ist eine Familie abgehauen, nach Frankreich, ins Tal oder zu Fiat. Und so hatten wir in den 80er-, 90er-Jahren nur noch fünf Einwohner."
    Weltkriege und Fiat haben Menschen aus dem Dorf geholt
    1985 schon haben sie den Kampf aufgenommen, schon allein um nicht zu enden wie viele andere Bergdörfer, oder wie Oncino. Gegenüber, auf der anderen Seite des Tals, gab es einst mehr Einwohner als in Ostana. Aber jetzt wohnen dort nur noch ein paar Alte.
    35 Bürger leben ständig in Ostana, zum Beispiel Silvia Rovere. Zehn Jahre hat die junge Frau in Turin gelebt, hatte einen festen Job im öffentlichen Dienst. Doch vor ein paar Jahren ist sie hier gelandet – obwohl es eigentlich einen anderen Plan gab: "Wir haben uns für die Leitung dieses Gasthauses beworben, da waren wir gerade dabei, alle Dokumente zu sammeln, um ein Jahr ins französische Réunion zu gehen. Wir hatten also einfach Lust, etwas zu verändern. Réunion wäre natürlich nur eine Laune für ein Jahr gewesen, dann wären wir zu unserem alten Leben zurückgekehrt. Dies hier war die Gelegenheit, unser Leben so richtig zu verändern. Nicht nur für ein Jahr, sondern länger. Und so haben wir der Insel mit dem klaren Wasser 'Ciao' gesagt und sind hier gelandet, in den Bergen auf 1.300 Metern, im Schnee."
    "Wir", das sind ihr Mann, ein Spanier, und die beiden Töchter. Und sie sind keine Aussteiger im eigentlichen Sinne, sondern eher Einsteiger. Silvia und ihre Familie haben das Bergdorf verändert. Viel, vielleicht alles, liegt an den Menschen hier – die sich engagieren. Aber Giacomo Lombardi, der Bürgermeister, hatte auch schon früh einen Plan. Und er hat eine Mannschaft zusammengetrommelt, um ihn umzusetzen.
    Dorf-Rettung ist Schwerstarbeit
    Idyllisch rauscht der Bach. Aber auch in Ostana ist der bescheidene Erfolg nicht vom Himmel gefallen. Zuerst ging es darum, das Dorf als Ganzes zu erhalten, wieder aufzubauen, Bausünden zu verhindern. Vermutlich wäre es nicht so schwer, jetzt wo das Dorf in Schuss ist, ein Haus nach dem anderen als Ferienhäuser zu verkaufen. Dann kämen wohlhabende Turiner an den Wochenenden ein paar Mal im Jahr und würden ansonsten keine großen Spuren hinterlassen. Aber weil das nicht sein soll, ist der Bürgermeister vor allem Manager der Gemeinschaft. Er kümmert sich darum, was zum Dorf passt, welcher neue Mitbürger ein Gewinn für die Gemeinschaft wäre.
    Dass es klappen kann, dafür steht Silvia Rovere, obwohl ihre Kinder nicht hier geboren wurden. Sie hat hier investiert, sie und ihre Familie fühlen sich als Ostanesi. Silvia ist gekommen, um zu bleiben, auch, weil man hier oben in den Bergen noch etwas bewegen kann. Und das ist viel mehr als ein bloßes Investment: "Es ist nicht das Dorf an sich, das etwas bietet. Man muss Leute finden, die Lust haben, etwas zu verändern: das Konsumverhalten, das Leben. Alle fragen uns, was uns hier fehlt. Wir antworten immer: nichts, wir haben wahrscheinlich mehr als früher. Allerdings gibt es kein Kino, ich lebe ohne Kino, aber wenn ich morgens aufstehe und nach draußen gucke, dann lächel ich."
    Und das entschädigt auch dafür, dass es manchmal sehr anstrengend ist. Denn ein Bergdorf zu retten, das im Sterben lag, ist keine Kleinigkeit, sondern Schwerstarbeit.