Donnerstag, 18. April 2024

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Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens

Die Zeitschrift "Osteuropa" kehrt mit dem neuen Jahrgang 2003 nach Berlin zurück, wo sie 1925 begonnen hat. 1939 musste sie ihr Erscheinen einstellen. 1951 wurde sie von dem bekannten Publizisten und Russlandkenner Klaus Mehnert wiederbegründet, und weil der an der Technischen Universität Aachen lehrte, fand sie dort, weitab von dem behandelten politischen und geographischen Raum, ihr Domizil. Allzu lange, über ein Jahrzehnt hat es gedauert, bis die nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Macht naheliegende Übersiedlung verwirklicht werden konnte. In der Schaperstraße, in den Räumen der "Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde", der Herausgeberin, wurde Platz für die Redaktion gefunden. Nach wie vor erscheint "Osteuropa" bei der DVA, der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart.

Manfred Jäger | 01.01.1980
    Charakteristisch für die Zeitschrift war immer, dass sie sich nie auf einen engen Begriff von Politik eingrenzte. Kultur und vor allem Literatur haben einen hohen Stellenwert im Themenspektrum. Das lag gewiss auch daran, dass während der Sowjetzeit zum Beispiel aus der Belletristrik Einblicke in den Alltag wie auch Erkenntnisse über ideologische Divergenzen gewonnen werden konnten, die aus anderen Quellen nicht verfügbar waren.

    Die Zeitschrift hält aber auch unter den veränderten Bedingungen an dem weitgespannten Erkenntnisinteresse fest. Das nächste große Projekt wird eine Sonderausgabe aus Anlass der Frankfurter Buchmesse sein, die sich im Herbst dem Schwerpunkt "Russland" zuwendet. In Zusammenarbeit mit einer großen Moskauer Zeitschrift wird das Heft zeitgleich in Russland auf russisch erscheinen. Das erste Heft des neuen Jahrgangs enthält mehrere lesenswerte Aufsätze zur kulturellen Entwicklung in Tschechien, Rußland und der Ukraine. Ivo Bock von der Universität Bremen beschäftigt sich mit dem sogenannten "sudetendeutschen Thema" in der tschechischen Belletristik.

    In den fünfziger Jahren huldigten die heute als "Kolonisationsromane" bezeichneten Werke den Stereotypen ,die die Gewalt gegen Deutsche klassenkämpferisch rechtfertigten. Die Deportation wird als gewaltlos und geordnet, als Vorstufe einer sozialistischen Besiedlung des Grenzlandes dargestellt. Erst in den sechziger Jahren dürfen - in Tauwetterperioden- Romane erscheinen, die Exzesse bei der Vertreibung nicht aussparen: 1969 Gottes Regenbogen des katholischen Autors Jaroslav Durych (14 Jahre nach der Entstehung) und in Neuauflagen der 1958 erstmals publizierte, aber auch schon zehn Jahre früher geschriebene Roman Feiglinge von Josef Skvorecky. Nach der Erstveröffentlichung dieser ,wie es hieß, "Ohrfeige für Lebende und Tote" verloren der Autor, die Verlagsleitung und wohlwollende Kritiker ihre Stellungen. Skvorecky begründete die Härte des Vorgehens nämlich damit, dass die Täter ihre Zusammenarbeit mit den Deutschen während der nationalsozialistischen Protektoratszeit vergessen machen wollten.

    Solche Kritik am Opportunismus der eigenen Landsleute, deren Eifer, deren Rachegelüste risikolos ausgelebt werden können bestimmt auch die Bücher von Ota Filip,Josef Knap und Viadimir Körner. Nach der Niederschlagung des "Prager Frühlings" verschwindet das Thema aus der erlaubten Literatur und wandert in den "Samisdat", den illegalen Bereich. Erst in den späten achtziger Jahren und erst recht in den neunzigern wird das selbstkritische Potential wieder deutlich, wie schon die Titel zeigen: Das Brandmal etwa von Zdenek Schmid, Das wild gewordene Land von Jiri Stransky oder Sternstunde der Mörder von Pavel Kohout. Die tschechische Literatur,so der Schluss des Aufsatzes von Ivo Bock, nehme eine Haltung zu dem schwierigen Problem vorweg, die in der Gesellschaft erst in der Zukunft konsensfähig werde. ;

    Der emeritierte Slawistikprofessor Karlheinz Kasper von der Universität Leipzig liefert einen informativen Rückblick auf die russische Literatur des vergangenen Jahres. Er befasst sich nicht nur mit Kultautoren wie Viadimir Sorokin und Alexander Prochanow und ihren Kosmologien und Phantasmagorien, sondern vor allem mit jungen, hierorts Unbekannten wie Arkadij Babtschenko und Andrej Gelasimow, die den Krieg in Tschetschenien behandeln. Katja Tkatschenko schrieb mit "Reparaturen am Menschen" eine Kritik an mythisch aufgeladener technokratischer Manipulation. Die 22jährige Irina Deneschkina fiel mit der Erzählung "Song for lovers" auf, durch postsowjetischen Slang aus der Jugendsubkultur. Sehr produktiv ist auch der 20jährige Sergej Schargunow, der die Kritiker mit der Erzählung "Hurra!" durch das Lob des Starken, Gesunden, Primitiven schockierte. Kaspers Literaturreport zeichnet sich auch dadurch aus, dass er die innerrussische Rezeption ebenfalls dokumentiert.