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Ostfriesische Palme

Jetzt ist Grünkohlzeit. Allerdings greifen immer mehr Verbraucher bei dem Wintergemüse, oft liebevoll ostfriesische Palme genannt, auf die Variante aus der Dose oder auf eingefrorenen Kohl zurück.Die Folge: Viele ursprüngliche Sorten werden dadurch nicht mehr angebaut, sterben aus. Ein Landwirt aus Ostfriesland will das nicht länger hinnehmen.

Von Joachim Reinshagen | 27.12.2005
    Hinter dem Hof von Reinhard Ehrentraut sieht es fast so aus wie in einem Palmengarten. Fast mannshoch wächst hier der Grünkohl. Sieben verschiedene Sorten hat der Bio-Landwirt aus dem ostfriesischen Schatteburg bei Leer in diesem Jahr angebaut:

    "Hier sieht man jetzt zum Beispiel eine Sorte, die sehr feinkraus ist und eigentlich ein sehr kräftiges Grün hat. Hier weiter ist eine Sorte, die ist eher ein bisschen glattblättriger, ist aber in der Wuchshöhe meistens noch ein Stück höher, also die werden hier bis 1,70 Meter hoch. Und vom Geschmack her ist der eher ein kräftiger Kohl, der eher kohlig schmeckt."

    Aber nicht nur Geschmack und Aussehen des Grünkohls sind ihm wichtig. Der 37-jährige Landwirt will vor allem auch die ehemals reichhaltige ostfriesische Garten-Kultur fortführen:

    "Früher war das Tradition, dass - ob jetzt Bauern oder Gärtner - alle, die einen Selbstversorger-Garten gemacht haben, auch ihr eigenes Saatgut gemacht haben. Und unter anderem auch vom Grünkohl. Und diese Kultur ist gerade am Aussterben, die geht verloren. Und ich habe jetzt sozusagen die letzten alten Sorten wiedergefunden, weil sich da einfach keiner drum kümmert."

    Die Sorten benennt Reinhard Ehrentraut nach den Orten, in denen er den Grünkohl entdeckt hat. Und so heißen sie: Holter Palme, Speckendorfer Palme oder Wittmunder Palme. Häufig wird der Landwirt von Garten-Besitzern angerufen. Manchmal fährt er auch mit dem Auto über die Dörfer und schaut den Leuten über den Gartenzaun - immer auf der Suche nach alten Sorten, die er noch nicht in seiner Sammlung hat. Auch Heidi Spelter aus Rechtsupweg bei Aurich baut ihren Grünkohl selber an. Die vierfache Mutter ist Selbstversorgerin und probiert in ihrem Garten immer mal verschiedene Sorten aus:

    "Letztes Jahr, da hatte ich eine andere Sorte, da hatte ich mir Pflanzen von einer anderen Frau geholt. Und dieses Jahr, die sind jetzt alle sehr dünn im Stiehl und sehr krumm gewachsen und nicht so hoch geworden wie die anderen. Aber sonst genauso kraus und sehr mild eigentlich der Kohl, also überhaupt nicht bitter, wenn man den jetzt kocht, sondern sehr zart. Also das ganz Feine hier, das nehme ich dann für Suppeneinlagen. Also das ist ein ganz schöner Kohl eigentlich."

    Mit ihrem Grünkohl versorgt Heidi Spelter die ganze Familie sowie Nachbarn und Freunde. Sie legt großen Wert auf gesunde Ernährung und macht sich deshalb gerne die Mühe im Garten:

    "Wenn ich den jetzt so selber anbaue, dann sehe ich halt auch, dass genügend Raupen ab und an drauf sind. Und dann muss ich die halt alle absuchen. Ich traue dann eben so dem Tiefgekühlten nicht unbedingt, dass das ganz ohne Chemie geht. Und da wächst er nun."

    Zurück zu Biobauer Ehrentraut. Neben dem Grünkohl sammelt der Landwirt auch noch zahlreiche andere alte Gemüsesorten wie Buschbohnen oder Zuckererbsen. Und das Interesse nimmt zu, sagt er. Ob in der Gastronomie oder auf den Wochenmärkten, immer mehr Gemüse-Liebhaber fragen nach alten ostfriesischen Sorten:

    "Also es gibt so viele Facetten im Bereich Gemüse, das kann man sich heutzutage fast gar nicht mehr vorstellen in der ganzen Fast-Food- und Tiefkühlzeit. Da geht es immer nur um wirtschaftliche Aspekte und hier geht es wirklich darum, dass wir die Sorten auch vielen Menschen wieder zugänglich machen, die verschiedene Geschmacksrichtungen haben."

    Zusammen mit einigen anderen Bio-Bauern hat Reinhard Ehrentraut vor 15 Jahren die Initiative "Dreschflegel" gegründet. Über diesen Verein vermarktet er bundesweit das Saatgut seiner seltenen Gemüsesorten. Die sind zwar vom Bundessortenamt nicht zur gewerblichen Nutzung zugelassen, dürfen aber über den Verein als nicht-kommerzielle Erhaltungssorte an Hobbygärtner weitergegeben werden. Und so stöbert der Grünkohl-Sammler in seiner Region möglichst viele alte Sorten wieder auf - aus Überzeugung und aus Leidenschaft:

    "Das ist schon etwas entdecken, was verloren gegangen ist. Das ist so wie ein Schatz, den man hebt, so kommt mir das vor. Weil auch immer deutlich wird, wenn ich mal zwei Jahre später komme und die Menschen können das nicht mehr machen und die Kinder machen das nicht mehr, dann ist das einfach verschwunden."