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Ostwestfälisch-böhmisch-kleinpolnische Allianz

Eine literarische Exkursion, organisiert vom Literaturbüro Ostwestfalen-Lippe, führte nicht nur neugierige Besucher, sondern auch bekannte Autoren, Schauspieler und Musiker aus Deutschland und Tschechien nach Böhmen. Für die meisten der Zuhörer war dieser Landstrich kurz hinter dem Erzgebirge bis dahin ein sprichwörtliches böhmisches Dorf. Nun wird er zur Entdeckung.

Von Cornelia Jentzsch | 15.03.2007
    " Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich's grenzen.
    Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder.
    Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land. "

    Diese Zeilen aus Ingeborg Bachmanns bekanntem Gedicht "Böhmen liegt am Meer" las Angela Winkler im Franziskanerkloster Kadan, das in eben jenem Böhmen liegt.

    Unweit von Kadan, auf Schloss Vintírov, lebte der eigentliche Grund für Rainer Maria Rilkes "Duineser Elegien", Marie von Turn und Taxis. Auf ihrer Zweitresidenz im italienischen Duino begann der Dichter an seinem berühmten Gedichtzyklus zu schreiben. Der Urenkel, Karl Ferdinand von Thurn und Taxis, erklärt den Zuhörern im Park des inzwischen zerfallenen Schlosses:

    " Meine Urgroßmutter war eine ungewöhnlich gebildete und sprachengewandte Frau, sie hat insgesamt sechs Sprachen fließend gesprochen und konnte auch vom Italienischen ins Englische die Göttliche Komödie von Dante übersetzen. Und über diese Fähigkeit ist sie eine der mehreren Musen geworden, die Rilke gehabt hat. "

    Fast durch Zufall, durch eine private Einladung nach Nordböhmen, entdeckte vor vier Jahren die Leiterin des Literaturbüros, Brigitte Labs-Ehlert, die Schönheit dieser Landschaft um den Kurort Karlovy Vary/Karlsbad und begehbare Spuren alter Verbindungen zu Ostwestfalen. Die Idee zu einer literarischen Entdeckungsreise entstand.

    Das 20. Jahrhundert löschte mit seinen beiden Kriegen in Europa gewachsene urbane Strukturen aus. Die Bevölkerungen ganze Dörfer und Stadtteile wurden umgesiedelt oder ermordet, weite Landstriche zerstört. Und dennoch existieren noch immer die untergründig pulsierenden Adern einer alten, gesamteuropäischen Kulturgeschichte. Auf diesen Exkursionen werden sie freigelegt. Labs-Ehlert:

    " Und was ich jetzt bei unserer Sache wichtig finde, dass wir diese Gegend kennen lernen unter einem ganz literarischen und künstlerischen Gesichtspunkt. Damit natürlich auch ein bisschen frei sind von diesen vielen politischen Schwierigkeiten. Ich glaube, wenn man das über die Literatur betrachtet, ist es viel einfacher. Das ist einfach etwas Verbindendes, und es war auch ein Mitteleuropäer, der gesagt hat, ein Gedicht ist ein Händedruck. "

    Die erste Reise vor zwei Jahren führte fast einhundert deutsche Literaturinteressenten nach Nordböhmen, im darauf folgenden Jahr war in Polen das ehemalige Galizien das Ziel.
    Die vom Literaturbüro in Universitäten, Kirchen, Schlössern, Klöstern, historischen Wohnhäusern oder sogar Parks organisierten Lesungen und Konzerte sind jeweils über den ganzen Tag verteilt, zwischendurch werden die unterschiedlichen Orte näher vorgestellt. Renommierte einheimische und deutsche Künstler stehen nebeneinander auf den oft improvisierten Bühnen und selbstverständlich sind die meisten dieser Veranstaltungen auch örtlichen Besuchern zugänglich. Kijowska:

    "Krakau sei eine Stadt, ... die aufgrund ihrer labyrinthischen Anlage die Ordnung widerspiegele, die in der Welt herrsche. Gleichzeitig aber auch eine, die wie jedes Labyrinth ein eigenes Geheimnis habe. Und genau diese Dualität mache es zu einer Stadt der Poesie."

    So stellt die polnische Publizistin Marta Kijowska die heimliche Metropole ihres Landes vor. Die Besucher begegnen aber auch einem anderen Krakau. Wie ein stummer Zeuge mahnen die leeren Gebäude der "Emaillegeschirrfabrik Oskar Schindler", bekannt aus dem Film "Schindlers Liste", an die Deportation und Vernichtung der Krakauer Juden.

    Vor 500 Jahren lebte der Nürnberger Veit Stoss - oder Wit Stwosz, wie er in Polen heißt - in dieser Stadt, um einen meisterlichen Holzaltar für die Marienkirche zu schnitzen. Die Kulturhistoriker streiten sich noch immer, ob der Altar nun ein polnisches oder ein deutsches Kunstwerk ist. Brigitte Labs-Ehlert hat darauf eine klare Antwort: Jenseits verschiedener Sprachen und Nationalitäten gäbe es tiefere gemeinsame kulturell-ästhetische Wurzeln. Und das sei entscheidend.

    Im Moment sitzt das Literaturbüro an etwas umfangreicheren Vorbereitungen für 2008, denn dann steht Lettland auf dem Plan. Natürlich schafft es ein solch kleines Drei-Mann-Büro nicht, diese Exkursionen allein zu organisieren oder gar zu finanzieren. Unterstützt werden diese Vorhaben deshalb durch Stiftungen, Sponsoren und vor allem EU-Mittel. Letztlich geht es um die Suche einer untrennbaren gesamteuropäischen Geschichte. Labs-Ehlert:
    " Die tschechischen Gesprächspartner haben mir immer gesagt, es hat hier in dieser Gegend drei große Katastrophen gegeben... Die erste Katastrophe war, dass Deutsche und Tschechen zusammen die jüdische Bevölkerung vertrieben haben. Die zweite Katastrophe war, dass die Deutschen die Tschechen unterdrückt haben, vertrieben haben, vernichtet haben. Die dritte Katastrophe war, dass dann die Tschechen die Deutschen vertrieben haben...

    Ich muss noch sagen, es hat eine vierte Katastrophe gegeben, dass dann in dieser Gegend Menschen angesiedelt worden sind, die nicht einfach freiwillig hergekommen sind. So dass sich eigentlich keiner so richtig für das Land hier, für die Landschaft, für das kulturelle Erbe verantwortlich fühle. Jetzt gibt es eben Initiativen - und da ist die Region Vladar nur eine -, ehrenamtliche Vereinigungen oder auch Stiftungen, die versuchen, diese Vielgestaltigkeit der Kultur und auch die Mehrsprachigkeit wieder zu beleben. "

    Durch die Zusammenarbeit mit diesen Organisationen, wie sie das ostwestfälische Literaturbüro inzwischen begonnen hat, werden neue alte Verbindungen geknüpft. Etwas besseres kann einem heutigen Europa nicht passieren.