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Otherland. Meer des silbernen Lichts

Seit 1996 geht ein Raunen durch den Kosmos der Fans von Fantasy-Literatur. Mit seinem Romanprojekt Otherland habe der amerikanische Autor Tad Williams die Nachfolge Tolkiens angetreten und eine zeitgemäße Variante auf den Herrn der Ringe geschrieben. Das konnte man nach der Lektüre der ersten beiden Bände der nunmehr abgeschlossenen, sage und schreibe 3648 Seiten umfassenden Tetralogie mit einem gewissen Fug und Recht behaupten. Williams entfaltet darin ein dramatisches Szenario.

Tobias Gohlis | 10.08.2002
    Es spielt in der Mitte des 21. Jahrhunderts in einer Gesellschaft, die sich nicht wesentlich von unserer Gegenwart unterscheidet. Virtual Reality, wie sie in den achtziger Jahren von Autoren wie William Gibson als Cyberspace oder Neal Stephenson als Metaversum entworfen wurde, gehört zum Alltag. Je nach Ausstattung mit Hard- und Software, Geld für Netzzeit und Hackerkompetenz kann sich jeder ein mehr oder minder imposantes Märchen-Ich schaffen und als digitaler "Sim" im Datenraum die tollsten Abenteuer erleben. Neurokanülen und Datenkonsolen haben die Funktion von Zauberspiegeln und fliegenden Teppichen übernommen. Doch der Spaß hat seine Grenzen: Immer mehr Kinder erkranken nach intensivem Surfen am Tangadore-Syndrom. Sie fallen ins Koma, ihr Geist scheint weit weg, ihr Körper stirbt an Auszehrung. Die afrikanische Dozentin für Virtualitätstechnik Renie Sulaweyo weigert sich, das Schicksal ihres ebenfalls erkrankten Bruders zu akzeptieren. Als erfahrene Surferin macht sie sich auf die Suche nach dem Infektionsherd im Net, dort also, wo die Jugendlichen angesteckt wurden. Begleitet von ihrem Schüler !Xabbu, einem Buschmann, dessen Vertrautheit mit den animistischen Traditionen seiner Ethnie so manches Hindernis überwinden wird, das mit rationalen Mitteln nicht zu knacken ist, stößt Renie in die geheimen Hackerzentren des Net vor.

    Geleitet von Bildern goldener Städte und engelsgleicher Frauengestalten müssen sich neun Helden in guter alter Fantasy-Tradition - auch Tolkien schickte seinerzeit neun Gute nach Mordor - von Abenteuer zu Abenteuer vorankämpfen, um das Geheimnis des Bösen zu erschließen.

    Das liegt tief im Net verborgen. Die Gralsbruderschaft, ein Club schwerreicher Militärs und Kapitalisten, baut seit Jahren an einem Supernetzwerk namens Otherland. So wahnwitzig wie ihr Ziel - Unsterblichkeit - sind ihre Mittel. Mit Otherland bauen diese Happy Few an einem perversen Rentnerparadies: gestützt auf gigantische Rechnerkapazität wollen sie in einer Welt perfekter digitaler Simulation als quasi-physische E-Kopien ihrer selbst ewig leben. In dem Wunsch nach Sieg über Zeit und Tod gehen die Gralsbrüder über den Titanen Kronos der griechischen Mythologie hinaus: Ihr datengeneriertes Otherland-Utopia nährt sich von der Lebensenergie der unschuldig surfenden Kinder aller anderen Menschen. Nur wenige Phantasiebegabte werden durch die elektronischen Barrieren des Otherland-Netzes gelassen.

    Neben Renie und ihrem Buschmann sind es eine blinde Netzforscherin, ein an Vergreisung sterbender Junge, ein Mädchen, das kein Mädchen sein, ein Jugendlicher, der seinen Kumpel retten will. Bei ihrer Suche nach dem Kern des Bösen treiben sie auf einem Daten-Fluss durch die privaten Kunst-Welten Otherlands, die höchst realistisch nach den Fantasien ihrer Besitzer gestaltet sind.

    Verschwenderisch bedient sich Tad Williams parodierend, simulierend, kopierend der überlieferten Szenarien von Märchen, Comic, Film, Mythos. Eine Comicwelt riesiger lebender Küchenmöbel, ein wie in Cinecittà ausstaffiertes Altägypten, der trojanische Krieg und die Odyssee, London am Ende von H. G. Wells' Krieg der Welten oder ein Farmerplanet, besiedelt von tausenden Frauenklonen namens Emmy, sind nur einige der Stationen, in denen Renie und ihre Mitstreiter jeweils neu Mut, Erfindungsgeist und Durchhaltevermögen beweisen müssen. Die Grenzen zwischen Virtualität und Realität sind verwischt. Gestorben wird in Otherland fast wie im wahren Leben, und die Helden können sich nie sicher sein, ob die angreifende Riesenwespe sie töten oder nur ihren Sim annihilieren wird. Verschärft wird die Gefahr, als ein Defekt des Systems verhindert, dass sie offline gehen können; zudem werden ihre in Nährgelee liegenden physischen Körper von den Schlägertruppen der Gralsbrüder bedroht.

    Dies alles las sich, dank überbordender Fabulierlust und weit verzweigter Handlungsstränge so lange recht spannend, als die Helden noch von Rätsel zu Rätsellösung voranrücken konnten. Doch nach rund 2000 Seiten geht der Super-Cyber-Fantasy die Luft aus. Das dämonische Betriebssystem von Otherland, eine Künstliche Intelligenz mit kindlichen Charakterzügen, wird, da es sich von seinen Fesseln nicht befreien kann, krank. Noch bevor deshalb Otherland durch die Transformation seiner Besitzer seinen Zweck erfüllen kann, beginnt es zu zerfallen, und mit ihm die Spannung des Romans. Dieser Selbstzerstörungsmechanismus ist dem Einbruch eines gattungsfremden Moralismus in die Fantasy geschuldet. Statt der Unschuld seiner Helden zu vertrauen bis zum Sieg, lässt Williams das Böse an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen - frei nach dem Motto "Kinderschändung zahlt sich nicht aus". Und so wanken die Helden in den beiden letzten Bänden, nur noch aufs Überleben bedacht, durch die Tristesse zerfallender, immer grauer werdender Landschaften, der selbst der langmütigste Leser nicht mehr folgen mag. Nach vielen, vielen Seiten der Aufklärung über alle mühselig verrätselten Zusammenhänge und Hintergründe endet letztlich alles gut: die Armen werden reich, die Gralsbrüder dürfen sterben und die Geschichte geht wieder weiter. Erst mal ohne uns.