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Othmar Franz Fett: Der undenkbare Dritte

Zunächst geht es in unserer heutigen Politischen Literatur-Sendung um die Herkunft des abendländischen Denkens aus dem alten Griechenland. Dann ist die Generationengeschichte der Kritischen Theorie Thema, außerdem behandeln wir Noam Chomskys Kritik an der Logik des freien Marktes. Abschließendes Thema ist die Ware Mensch, der Skandal des modernen Sklavenhandels.

Hans Martin Lohmann | 19.02.2001
    Die Ursprünge des abendländischen Denkens, der wissenschaftlichen Rationalität des Westens, werden auf das griechische Altertum zurückgeführt. Die Herkunft dieses griechischen Genius in den Schriften der Vorsokratiker blieb dabei meist ohne plausible Erklärung. Durch welche Einflüsse ist dieses Denken entstanden, war das griechische Altertum ein in sich geschlossener Kosmos, ohne Einflüsse von außen? Neuere Forschungen der Altphilologie, der Archäologie und Frühgeschichte bringen in die Frage nach der Entstehungsgeschichte neue Bewegung. Der Sozialphilosoph Othmar Franz Fett hat sich diese Untersuchungen zunutze gemacht und in seiner Studie "Der undenkbare Dritte" die vorsokratischen Anfänge des eurogenen Naturverhältnisses untersucht. Hans-Martin Lohmann hat das Buch für uns gelesen:

    Friedrich Nietzsche, dem mancherorts eher übel beleumdeten Pastorensohn, verdanken wir immer noch die besten Fragen: "Wozu, schlimmer noch, woher - alle Wissenschaft?", fragte er inmitten eines Zeitalters, das sich mit Haut und Haaren der Wissenschaft verschrieben hatte.

    Hundert Jahre nach Nietzsche wagt ohnehin kaum noch jemand, die Frage nach dem Wozu der Wissenschaft, nach Sinn und Ziel all der rasenden Erkenntnis- und Wissensfortschritte ernsthaft zu stellen. Denn die Wissenschaft und der mit ihr verbundene "Fortschritt" verstehen sich gleichsam von selbst. Und weil das ganz augenscheinlich so ist, erübrigt sich auch die Frage nach ihrem Woher. Dennoch handelt es sich dabei kaum um eine rein akademische Frage, wie man vielleicht meinen könnte, sondern um eine von dramatischer gesellschaftlicher Reichweite, sofern man die Bemerkung des renommierten Physikers Klaus Michael Meyer-Abich nicht als puren Unsinn abtun will:

    "Wenn die Umweltzerstörung in den Tiefenschichten unseres Bewußtseins beginnt, brauchen wir eine Aufklärung über die historische Struktur des gegenwärtigen Bewusstseins, eine historische Anamnese sozusagen. Wir müssen sehen, wohin wir uns verrannt haben."

    Vor gut einem halben Jahrhundert haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, an das homerische Epos von Odysseus ebenso anknüpfend wie an Nietzsches Reflexionen über die Herkunft des abendländischen Denkens, den Zusammenhang der Entstehung von Subjekt und Rationalität, Aufklärung, Wissen, Macht und Naturbeherrschung in ihrer Studie zur Dialektik der Aufklärung zu erhellen versucht und damit jener Wiedererinnerung vorgearbeitet, die Meyer-Abich von uns fordert, wenn wir erkennen wollen, "wohin wir uns verrannt haben". Horkheimers und Adornos Interesse an einer Klärung der Frage, unter welchen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen das spezifisch "westliche" Denken entstehen und seinen schließlich globalen Siegeszug antreten konnte, verdankt sich wiederum den Überlegungen des Soziologen Alfred Sohn-Rethel, der schon in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in dezidiert marxistischer Perspektive Hypothesen über die eben nicht zufällige Gleichzeitigkeit des Auftauchens von Geld und Geist in der griechischen Archaik formulierte. Könnte es sein, dass ein zwingender Zusammenhang zwischen systematischem geldvermittelten Warentausch , wie er im griechischen Kulturkreis seit dem 6. vorchristlichen Jahrhundert belegt ist, und systematischem begrifflichen Denken besteht, das uns in Gestalt der Fragmente der Vorsokratiker als Anfang der Philosophie überliefert ist - ein Zusammenhang also zwischen Warenform und Denkform?

    In diesen nur flüchtig skizzierten Rahmen, den man noch durch den Hinweis auf die wirtschafts- und religionsgeschichtlichen Untersuchungen Max Webers und auf die einschlägigen Debattenbeiträge von Altphilologie, Archäologie und Frühgeschichte ergänzen muss, gehört auch die Untersuchung des Sozialphilosophen Othmar Franz Fett über den "undenkbaren Dritten", wenngleich in ihr das "Geld und Geist"-Konstrukt keine tragende Rolle spielt. Allerdings verdankt sie den grundlegenden geschichtsmaterialistischen Arbeiten Sohn-Rethels den Impuls zu ihrer Entstehung, wie sich überhaupt erweist, dass die marxistisch inspirierte Altertumsforschung noch am ehesten in der Lage ist, heuristisch fruchtbare Fragen zu stellen.

    Was bis heute gerne als "griechisches Wunder" oder als "Eigenart der Griechen" bezeichnet wird - nämlich die scheinbar voraussetzungslose, gewissermaßen unerklärliche Heraufkunft eines philosophischen Genius in den Schriften der Vorsokratik -, zeigt sich in sozialhistorischer Sicht als Resultat einer geschichtlichen Bewegung, die in postmykenischer Zeit den östlichen Mittelmeerraum erfaßte und speziell die griechische Welt transformierte. Zu dieser Bewegung zählt in erster Linie das Aufkommen eines nennenswerten Fernhandels zwischen Levante und Griechenland, aber auch die Entstehung der Schriftkultur und, was vielleicht am überraschendsten klingen mag, der Einfluss afroasiatischer Strömungen auf den griechischen Kosmos. Aufgrund der aktuellen Forschungslage hält es der Autor für nicht unwahrscheinlich, dass die scheinbar autonom entstandene griechische Kultur zutiefst von phönizischen und, über diese vermittelt, von judäisch-monotheistischen Einflüssen geprägt ist. Die jüngsten Grabungsergebnisse Manfred Korfmanns in Troja, die auf einen hethitischen Hintergrund deuten, bestätigen diese Auffassung, die das vertraute Bild eines "griechischen" Troja und damit eines rein innergriechischen Dramas, das Homer mit der Ilias überliefert hat, erheblich eintrübt.

    Faszinierend an diesem in jeder Hinsicht gewichtigen Buch ist, dass es dem Autor gelingt, eine neue Lektüre der Vorsokratiker mit den angedeuteten kulturellen und sozialökonomischen Umbrüchen im postmykenischen Zeitalter auf eine plausible Weise zu verknüpfen. Die Anfänge des philosophischen Denkens der Griechen deutet er als eine grundlegende Verlagerung kognitiver Anstrengungen vom Dingschema zum Schema der Relation, was zugleich heißt, dass die Schwelle vom konkreten zum abstrakten operationalen Denken überschritten wird. Dieser vorsokratische Relationalismus, der sich vom Substanzdenken löst, wird unter dem Namen des "dritten Menschen" noch in der Ideenlehre Platons diskutiert.

    Faszinierend, wie gesagt, ist das Buch von Fett deshalb, weil es die kognitive Revolution, die mit der Vorsokratik und ihrem modern anmutenden Relationalismus einsetzt, nicht länger mit einem "griechischen Wunder" in Verbindung bringt, sondern mit von der Forschung inzwischen nachweisbaren sozioökonomischen Veränderungen. Oder in den Worten des Autors:

    "Das Weltbild abstrakter Operationalität entspringt einer rekonstruierbaren Sphäre der gewinnorientierten Verkehrsökonomie in der ersten Hälfte des postmykenischen Jahrtausends."

    Was nun seinerseits höchst abstrakt klingt, ist doch nichts anderes als die Bestätigung des alten Satzes von Marx, wonach das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein der Menschen bestimmt. Das neue relationale Denken der Vorsokratik, die Entzauberung und Entgötterung der Dinge, von der traditionellen Philosophiegeschichte als Übergang "vom Mythos zum Logos" beschrieben, ist in sozialhistorischer Perspektive die notwendige Antwort oder der Reflex auf tiefgreifende Veränderungen durch eine neue Fernverkehrsökonomie, die den Typus des Tauschvermittlers hervorbringt. Zusammen mit kulturellen Einflüssen aus dem vorderorientalischen Raum, etwa der phönizischen Schrift und des jüdischen Monotheismus, der den älteren Kosmotheismus zurückdrängt, erzwingt diese Ökonomie ein neues Denken und ein neues Verhältnis des Denkens zur Natur. Im historischen und Kulturvergleich ist dieser Vorgang ziemlich einzigartig.

    Schon Max Weber hat die Möglichkeit eines okzidentalen Sonderweges ernsthaft erwogen. Die Zweifel an der "Vernünftigkeit" dieses Weges hat zuerst Nietzsche artikuliert. Der Gewinn der Studie von Othmar Fett liegt darin, dass sie nicht nur eine nachvollziehbare Erklärung des "griechischen Wunders" bietet, sondern auch daran erinnert, dass wir nicht einfach sind, was wir sind, dass wir vielmehr geworden sind, was wir sind. Das heißt: Es hätte auch anders kommen können. Und es könnte, immer noch, anders werden. Jüngst schrieb der Ägyptologe Jan Assmann:

    "Vieles, was wir zur Grundausstattung des Menschen rechnen würden, erweist sich in dieser Perspektive als revolutionäre Neuerung."

    Wahrscheinlich wäre schon viel gewonnen, wenn wir begreifen würden, dass unsere Weise, die Welt anzuschauen und sie uns wissenschaftlich "untertan zu machen", nur eine unter vielen möglichen Weisen ist - vielleicht, wer weiß, sogar die am wenigsten vernünftige. Noch einmal Jan Assmann:

    "Wir sollen den Weg nicht zurückgehen, aber wir sollen uns dieses Weges bewusst werden, damit wir die Kulturen, Religionen und Gesellschaften besser verstehen können, die diesen Weg nicht gegangen sind und entsprechend andere Weichen gestellt haben. Einsicht in die Geschichtlichkeit der eigenen Wahrheit scheint mir eine Vorbedingung für Toleranz."

    Hans Martin Lohmann besprach "Der undenkbare Dritte. Vorsokratische Anfänge des eurogenen Naturverhältnisses" von Othmar Franz Fett. Das 480 Seiten starke Buch ist in der edition diskord in Tübingen erschienen und kostet 48 Mark.