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Ottessa Moshfegh: "Mein Jahr der Ruhe und Entspannung"
Die Schlafwandlerin des Jahres

In ihrem neuen Roman gelingt der US-Amerikanerin Ottessa Moshfegh ein beeindruckender Balanceakt: Während ihre weltflüchtige Heldin einen Großteil des Jahres 2001 verschläft, gerät der Autorin das New York der Jahrtausendwende wie nebenbei zum Bild der Epochenwende.

Von Michael Watzka | 14.11.2018
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    Ottessa Moshfeghs Ich-Erzählerin auf der Suche nach Ruhe und Entspannung (Cover: Liebeskind Verlag / Hintergrund: Jelina Berzkalns)
    Einsame Inseln, abgelegene Täler oder Berghütten fernab jeder Zivilisation. Nimmt der Alltagsstress überhand, beflügeln solche Oasen mitunter schon mal die Fantasie vom sozialen Ausstieg. Die Schriftstellerin Ottessa Moshfegh geht in ihrem neuen Roman einen Schritt weiter und verlagert den Fluchtpunkt vom Ende der Welt in den Kopf der Hauptfigur selbst. Ihre junge Protagonistin, eine Mittzwanzigerin im pulsierenden New York der Jahrtausendwende, versetzt sie dazu mittels Schlafmittel und Psychopharmaka in einen anhaltenden Schlummerzustand. Ihr Projekt - ein auf ein Jahr ausgedehnter "Winterschlaf", der sie zunehmend vom Leben der Großstadt isoliert – gerät jedoch schnell zum ganz existentiellen Selbstversuch, in dessen Zentrum mehr und mehr die Frage nach der sozialen Erwartungshaltung rückt.
    "Ich duschte höchstens einmal pro Woche. Ich hörte auf, mir die Augenbrauen zu zupfen, die Oberlippenhärchen zu bleichen, die Bikinizone zu wachsen, die Haare zu bürsten. Keine Feuchtigkeitscreme, kein Peeling. Kein Rasieren. Ich verließ die Wohnung nur noch selten. […] Meinen 'Winterschlaf' begann ich Mitte Juni 2000. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt. Durch eine kaputte Lamelle sah ich zu, wie der Sommer starb und der Herbst kalt und grau wurde. Meine Muskeln verkümmerten. Meine Bettwäsche verfärbte sich gelb, auch wenn ich meistens vor dem Fernseher auf dem weiß-blau gestreiften Sofa […] einschlief, das in der Mitte durchhing und voller Kaffee- und Schweißflecken war."
    Kaufrausch und wilde Partys
    Eingemottet in ihr Zwei-Zimmer-Kokon an der wohlhabenden Upper East Side kündigt die Erzählerin zunächst ihren Job in einer Kunstgalerie und beginnt dann "Vollzeit zu schlafen". Ein Erbe, das ihr die vor kurzem verstorbenen Eltern hinterlassen haben, hält sie dabei zwar finanziell über Wasser, erweist sich aus emotionaler Sicht aber schnell als ebenso große Hypothek. Auch ihr vom Schlaf gesättigtes Unterbewusstsein will sich bald nicht mehr einfach so fügen - und rebelliert. Im bewusstlosen Zustand fängt die Erzählerin an schlafzuwandeln, gerät in Kaufrausch oder feiert wilde Partys.
    Was für die junge Frau am Ende zum Kräftemessen mit dem blanken Lebenswillen wird, entwickelt sich anfangs aus dem tiefen Bedürfnis nach Ruhe: Ruhe einerseits vor der alles und jeden zersetzenden Stimme im Kopf, die die für ihre Umwelt stets etwas zu intelligente, dabei nicht selten überhebliche Erzählerin mit der Existenz hadern lässt. Ruhe andererseits auch vor einer ganzen Reihe persönlicher Verletzungen, wie die mehr als ungesunde on-and-off Beziehung mit dem zehn Jahre älteren Ex-Freund, einem Banker an der Wallstreet.
    Zwar scheinen derlei seelische Wunden immer wieder unter der nur scheinbar abgeklärten Erzähloberfläche durch, im Roman aber werden sie weder seziert noch übermäßig psychologisiert. Denn am Ende steht da ja auch noch der ganz grundsätzliche Ekel vor dem System selbst: vor einer auf Äußerlichkeiten fixierten US-Gesellschaft, in der zwischen all den fixen Entwürfen vom Glück à la Hollywood kein Platz zu sein scheint für etwas substantiellere Fragen.
    "Die Idee des Tiefschlafs, des Sich-Etwas-Nicht-Bewusst-Seins – das sind Motive, die so ziemlich überall auf der Welt relevant sind. […] Sobald Leute irgendwo gesteuert oder kontrolliert werden, gibt es diese Tendenz, sich einfach abzumelden. […] Wir alle schalten auf die ein oder andere Weise ab, um nicht mit den schmerzhaften Wahrheiten unserer misslichen Lage konfrontiert zu werden. Das trifft natürlich in jeder nur erdenklichen Hinsicht auf Amerika zu - ich habe mich dazu entschieden, es auf einer ganz persönlichen Ebene zu verhandeln."
    Windige Psychiater und Whoopie Goldberg
    Während George W. Bush also den Amtseid ablegt und in Hollywood ausgerechnet die Drehbuchautoren streiken, greift die Hauptfigur zu immer härteren Mitteln. Verschrieben werden ihr die von der nicht minder verkorksten Dr. Tuttle, einer windigen Psychiaterin, der alleine schon der Literatur-Oskar als beste Nebenfigur gebührt. Neben ihr und den Verkäufern von der Bodega nebenan wird ihr wichtigster Komplize der Videorekorder, der sie verlässlich mit einer Endlosschleife an Whoopi-Goldberg-Filmen versorgt. Ab und an schaut zudem noch die ewig plappernde Reva vorbei mit ihren angelesenen Lebensweisheiten - als einzige und vermeintlich beste Freundin der Erzählerin ist sie die dritte im Bunde dieses leicht verschrobenen Kammerstücks.
    "Ihr ewiges hätte, wäre, könnte, die endlosen Schilderungen romantischer Wunschträume lullten mich ein wie Schlaflieder. Reva war eine Art Magnet, der die Angst aus mir heraussaugte. In ihrer Gegenwart war ich gelassen wie ein buddhistischer Mönch. Furcht, Begierde, weltliche Dinge im Allgemeinen, nichts konnte mir mehr etwas anhaben. […] Keine Gedanken mehr. […] Ich war eine weiße Schneelandschaft, ich fühlte nichts."
    Genau da aber, wo die ohnehin spärliche Handlung in Nicht-Handlung umschlägt, beginnt aus literarischer Sicht ein bemerkenswertes Experiment, das sowohl die Hauptfigur als auch die Erzählung selbst an die Ränder der Existenz führt. Eine beachtliche Herausforderung, die die Autorin durch geschickt eingesetzte Rückblenden löst, mit denen sie die immer seltener werdenden Dämmerzustände narrativ einfasst. In den Fokus rückt dabei vor allem der körperliche Verfall einer Erzählerin, die, wie sie selbst nicht müde wird zu betonen, rein äußerlich eigentlich allen gängigen Schönheitsidealen entspricht. Gerade aber in der unverblümten Darstellung des weiblichen Körpers und all seiner Funktionen unterläuft Moshfegh sämtliche aus Hollywood importierten Ideale und enttarnt sie als eigentliche Wurzeln des gesellschaftlichen Unglücks - eine Technik, die der 37-jährigen Autorin immer wieder auch Kritik eingebracht hat.
    "Es hat mich genervt immer wieder die bloße Existenz eines fiktiven Charakters verteidigen zu müssen. Als ob ich der Welt gegenüber irgendeine Verantwortung hätte, Dinge zu tun, mit denen die Leute einverstanden sind - die können mich doch mal …"
    Ein Milieu-gerichteter Hyper-Realismus
    Anstatt sie auszusparen, stellt Moshfegh die Banalität alltäglicher Verrichtungen lieber als das aus, was sie ist - ein Grundthema der Autorin, die mittlerweile zu einer wichtigen Stimmen der amerikanischen Gegenwartsliteratur avanciert ist. Bereits in "Eileen", einem düsteren Neu-England-Noir, das 2016 für den Man-Booker-Preis nominiert war, erzählte sie so von einem mehr als ungesunden Vater-Tochter-Verhältnis im Bannkreis einer doppelten Alkoholabhängigkeit - eine packende Coming-of-Age-Story.
    Ihr zuletzt erschienener Kurzgeschichtenband dagegen stiftet schon im Titel das Leitmotiv für diesen Milieu-gerichteten Hyper-Realismus: Den Figuren in "Homesick for Another World" geht es allesamt um genau jenes Heimweh nach einer anderen, besseren Welt, das auch die Hauptfigur ihres jüngsten Romans in den absurden Versuch treibt, sich ein neues Leben einfach zu erschlafen. Hinter der ausgestellten Abgestumpftheit steckt bei Moshfeghs Personal nämlich stets der tief empfundene Wunsch, endlich auch abstumpfen zu können, um die eigenen Unzulänglichkeiten einmal weniger scharf empfinden zu müssen. Während im Hintergrund des jüngsten Romans am Ende die immer zahlreicheren Vorboten des historischen Sturms aufziehen, verlässt schließlich auch die Erzählerin ihr ganz persönliches Kokon als eine andere.
    "Sie befindet sich am Ende fast in dieser Art anderen Zustand … Es ist schwer zu beschreiben: Ein Ort mit mehr Luft vielleicht. Ein Ort, an dem es keine schwerwiegenden oder negativen Konsequenzen gibt zu ihren eigenen Gedanken. Für mich scheint es eher wie das Leben nach dem Tod. Nicht ganz wirklich."
    Während die Figuren in der Kurzgeschichtensammlung noch am Heimweh nach einer anderen, weniger prekären Welt litten, zeichnet sich in Moshfeghs jüngstem Roman etwas anderes ab: In der herbeigesehnten Gefühlskälte, die als Resignation den gesellschaftlichen Widerstand allein aufs Vermeiden reduziert, spiegelt sich auch die Absurdität eines Lebens im permanenten Ausnahmezustand - ein Leben, dem man nur noch durch Weltflucht entkommen zu können glaubt. Als erzählerisches Experiment mit eher ungewissem Ausgang ergibt das nicht nur ein spannendes Kunststück, sondern, mit Blick auf die Gegenwart, ein obendrein hochrelevantes.
    Ottessa Moshfegh: "Mein Jahr der Ruhe und Entspannung"
    aus dem Englischen von Anke Caroline Burger
    Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München, 320 Seiten, 22 Euro