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Otto Schily
"Ich bin kein typischer Achtundsechziger"

Vom RAF-Anwalt über den grünen Realpolitiker zum SPD-Bundesinnenminister: Otto Schily hat eine bewegte politische Karriere hinter sich. Die Verteidigung der Stammheimer Inhaftierten sei "eine schwierige Gratwanderung" gewesen, sagte er im Dlf - und der Staat habe im Deutschen Herbst große Fehler gemacht.

Otto Schily im Gespräch mit Rainer Burchardt | 27.07.2017
    Der frühere Innenminister Otto Schily (SPD) auf dem Weg zur Verleihung des Henry-Kissinger-Preises am 17.06.2015 in Berlin.
    "Ich bin ein Individuum und kein Kollektiv", sagt Otto Schily, Ex-Innenminister und einer der wichtigsten Anwälte der RAF über sich selbst. (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    Sprecher: Ein Kind aus großbürgerlichem Hause mit anthroposophischer Erziehung und einer Musikerin als Mutter - solch ein Mensch hätte nicht unbedingt Verteidiger der ersten Generation der Rote Armee Fraktion werden müssen. Doch dann waren die 60er-Jahre in Westberlin auch für einen jungen Rechtsanwalt so, dass man den auffälligen Gestalten, den radikalen Köpfen gar nicht aus dem Weg gehen konnte - und wollte. Otto Schily wurde ein politischer Jurist. Er übernahm die Nebenklage nach dem Todesschuss auf Benno Ohnesorg 1967. Er verteidigte Gudrun Ensslin nach den Kaufhausbrandstiftungen vom April 1968. Er wurde neben Christian Ströbele und Horst Mahler einer der wichtigsten Anwälte der außerparlamentarischen Opposition und der RAF.
    Es gehörte zu den kulturellen und zeithistorischen Signalen der rot-grünen Regierung ab 1998, einen Otto Schily zum Innenminister zu machen. Es war ein Posten, auf dem er sich erkennbar wohl fühlte und nicht die geringsten Probleme hatte, die amtsgemäße Fahne für Sicherheit und Ordnung hochzuhalten - zum Verdruss eines Gutteils des rot-grünen Lagers. Die Sicherheitsgesetze nach dem 11. September 2001 bekamen nicht umsonst den Beinamen "Otto-Kataloge".
    Doch auf seine Weise ist Otto Schily sich immer treu geblieben, sich selbst und einem Buchstaben des Gesetzes, den er oft genug besser kannte als alle anderen im Raum. Bis heute arbeitet der jetzt 85-Jährige als Anwalt, findet Themen, für die er sich einsetzt, zeigt sich streitlustig. Und auch in seiner Bewertung des staatlichen Verhaltens im deutschen Herbst 1977 bleibt er kompromisslos. Der Staat habe Fehler gemacht, sagt Otto Schily, zu große Fehler.
    "Politisch ist die 68er-Zeit vollständig gescheitert, aber den kulturellen Umbruch, den sie zustande gebracht hat, der hat sich sehr positiv ausgewirkt."
    Der junge Anwalt in Westberlin
    Burchardt: Guten Abend, meine Damen und Herren, herzlich willkommen zu unserer Sendung "Zeitzeugen im Gespräch", heute, und ich muss sagen, erneut mit Otto Schily. Otto Schily war schon mal Gast bei uns. Ich glaube, Herr Schily, das war vor neun Jahren, wo Sie über Ihr Gesamtleben Auskunft erteilt haben. Und mittlerweile ist es so, dass wir Jubiläen haben, und zwar zum Deutschen Herbst. Der begann ja genaugenommen, es waren zehn Jahre Deutscher Herbst genaugenommen, nämlich 1967 mit der Ermordung von Benno Ohnesorg, am 2. Juni im Umfeld des Schah-Besuches damals, und dann eben 1977, als dann letztendlich die RAF, die erste Generation sich verabschiedet hat überwiegend mit Selbstmord. Herr Schily, man kann natürlich tatsächlich diesen Deutschen Herbst nicht ohne diesen Vorlauf sehen. Wie haben Sie den selbst beurteilt aus der damaligen Sicht? Sie waren ja schon erfolgreich und bekannt als Anwalt in Berlin. Wie haben Sie damals diese Ereignisse gerade um Benno Ohnesorg gesehen?
    Schily: 1976 war ich eigentlich noch nicht so besonders erfolgreich, oder jedenfalls nicht besonders bekannt als Anwalt. Ich war ja lange Zeit in einem Anwaltsbüro tätig, das sich im Wesentlichen mit Zivilrecht, Gewerberecht und mit Handelsrecht, Wirtschaftsrecht beschäftigt hat, und bin erst relativ spät auch in einen Bereich des Strafrechts gekommen. Und interessanterweise, mein erster Prozess, der also größere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gefunden hat, war dann der Kurras-Prozess, in dem ich ja nicht als Verteidiger, sondern als Nebenkläger, also gewissermaßen als Ankläger tätig war -
    Burchardt: Für die Familie Ohnesorg.
    Schily: Für ein Mitglied der Familie Ohnesorg, den Vater von Benno Ohnesorg. Natürlich ist das ein Zäsur in der ganzen Entwicklung, weil hier ein Student unter sehr tragischen Umständen zu Tode gekommen ist und seinerzeit eben die Staatsmacht alles versucht hat, um diese schreckliche Tat zu vertuschen. Und das hat natürlich eine unglaubliche Rebellion unter den Studenten verursacht. Wenn man jetzt allerdings - wir sind jetzt im Jahr 2017 - auch noch weiß, dass Kurras, der Todesschütze, bei der Stasi tätig war, also bei der Staatssicherheit der DDR, dann bekommt das Ganze natürlich noch ein absurderes Bild. Man muss nur mal versuchen, sich vorzustellen, damals wäre bekannt gewesen, dass Kurras im Dienste der Stasi war, ob das dann eine ganz andere Wendung genommen hätte. Davon bin ich überzeugt. Wenn das damals bekannt geworden wäre, hätte sich ein ganz anderer Zusammenhang ergeben, und er wäre wahrscheinlich auch nicht freigesprochen worden.
    Burchardt: Ist denn nach Ihrer Meinung Kurras damals im Auftrag der Stasi mit diesem Mord unterwegs gewesen?
    Schily: Nein, das glaube ich nicht. Dass das sozusagen ein Auftragsmord war, das glaube ich nicht. Der Mann war einfach auch ein Waffennarr und hatte einen merkwürdigen Charakter.
    "Die Studentenbewegung hängt zusammen mit der mangelnden Aufarbeitung der Nazizeit"
    Burchardt: Sie sagten ja eben gerade, das Ganze sei im Grunde genommen ja der Beginn einer Revolte gewesen. War das damals schon absehbar, als Sie auch für den Vater von Benno Ohnesorg das Mandat übernommen haben?
    Schily: Ob man das da schon voraussehen konnte - es ist ja der Beginn eigentlich erst der Studentenbewegung, der außerparlamentarischen Opposition. Die hat sich ja nachher noch weiter verbreitert, aber sicher war das auch ein starker Impuls. Das hängt auch noch zusammen mit der Frage der Aufrüstung, auch die Frage Anti-Atomtod-Bewegung fängt da schon so ein bisschen an, allerdings nicht etwa gegen die zivile Nutzung der Kernenergie - das war nachher im Rahmen der Studentenbewegung sogar ein positiver Topos. Leute wie Christian Semmler und andere haben immer gesagt, friedliche Nutzung der Kernenergie ist die Lösung der Energiefrage der Menschheit. Das ist damals so gewesen. Man muss das schon in einem größeren Zusammenhang sehen. Die ganze außerparlamentarische Opposition und die Studentenbewegung, das hängt zusammen mit der mangelnden Aufarbeitung der Nazizeit, dem Einrücken von alten Nazis in hohen Stellungen in der Wirtschaft, in der Politik. Der Fall Globke ist uns ja allen noch in Erinnerung: Immerhin der Kommentator der Rassengesetze wird Staatssekretär bei Adenauer im Kanzleramt. Die Tatsache, dass kein einziger der Richter des Volksgerichtshofs, der ja eine Verbrechergruppe war, verurteilt worden ist, dieses berühmte Reese-Urteil, eine wirkliche Katastrophe der Juristen, oder auch die Behandlung von Menschen, die an der Euthanasie beteiligt waren, das hat alles sehr aufgeladen. Es war eigentlich unvermeidlich, dass eine Abstimmung auf der Straße mit den Füßen gegen all diese Missstände kommt. Also auch die Verabschiedung aus dem ich sag jetzt einfach mal Mief der Adenauer-Ära.
    Hildegard Knef,  deutsche Schauspielerin, Hauptdarstellerin des Films "Die Sünderin". Aufgenommen bei der Londoner Premiere am 19.08.1953. |
    "Im Film 'Die Sünderin' kam mal für eine halbe Minute Frau Knef im Evakostüm vor, und die Jungen sind da alle reingerannt, weil sie sowas nie sehen durften und konnten, also ich auch." (picture-alliance / dpa)
    Man sagt ja eigentlich, der kulturelle Umbruch, der gehört auch dazu. Diese ganzen restaurativen Tendenzen der Adenauer-Zeit waren sozusagen der Kontrapunkt zu dieser Bewegung, die sich aus diesen alten Konventionen gelöst hatte mit dem berühmten Satz: "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment." Nun gut, auch diese Frage der sexuellen Befreiung - man kann sich das ja gar nicht vorstellen, wie das früher war. Ich weiß das selber noch. Da gab es mal einen Film mit Hildegard Knef und Dieter Borsche, der hieß "Die Sünderin", und in diesem Film kam mal für eine halbe Minute Frau Knef im Evaskostüm vor, und die jungen sind da alle reingerannt, weil sie sowas nie sehen durften und konnten, also ich auch. Und wir haben natürlich alle gedacht, das ist was ganz Tolles. Das müssen Sie mal mit heute vergleichen. Vielleicht übertreiben wir es heute ein bisschen, würde ich sagen, aber jedenfalls diese Ablösung von diesen alten, verstaubten Konventionen - ich glaube, wenn man in die 68er-Zeit zurücksieht, politisch ist die 68er-Zeit vollständig gescheitert, auch mit ihrer Sektiererei bis hin eben in die Militanz. Aber den kulturellen Umbruch, den sie zustande gebracht hat, der hat sich sehr positiv ausgewirkt.
    "Nächtelang habe ich die Akten Silbe für Silbe gelesen, sonst hätte ich auch diese Art von Fragen, wie ich sie nachher dann doch sehr präzise gestellt habe, nicht formulieren können."
    Ein Individuum mit goldener Taschenuhr - kein Kollektivist
    Burchardt: Sie galten damals ja, ich sag jetzt mal, in der Berliner Bohème, wenn ich das mal so formulieren darf, als verdächtig, weil Sie verheiratet waren. Sie hatten damals schon eine Tochter, Jenny, benannt übrigens nach dem Namen von Karl Marxens Frau -
    Schily: Jenny von Westphalen.
    Burchardt: Und zweiter Name Rosa -
    Schily: Rosa Luxemburg. Das haben wir bewusst gemacht, ja, Jenny von Westphalen und Rosa Luxemburg.
    Burchardt: Herr Schily, in dem Zusammenhang fällt mir natürlich ein, Sie haben ja irgendwo mal geäußert, Sie wären eigentlich gern Schauspieler geworden. Später haben Sie fulminante öffentliche Auftritte, sei es jetzt im Flick-Ausschuss oder in den Stammheim-Prozessen als Anwalt, hingelegt. Sind Sie da auch ein bisschen bei der Verwirklichung Ihres Jugendtraums Schauspiel geblieben? Denn Uwe Wesel, Ihr guter Freund, damals Vizepräsident der Freien Universität, hat das ja mal so formuliert, hat gesagt, der Otto, der macht auch Show.
    Schily: In der Politik brauchen Sie natürlich auch einen Auftritt. Und natürlich brauchen Sie auch ein Gefühl für Dramaturgie und Sie brauchen auch ein rhetorisches Talent. Das brauchen Sie übrigens auch als Anwalt. Und wenn Sie so wollen, es gibt ja so unterschiedliche Typisierungen beim Anwalt: Das eine ist der Solicitor und der andere ist der Barrister. Das ist dieses englische System: Der Solicitor kann gut die Akten aufarbeiten und der Barrister ist dann vor Gericht mit der rhetorischen - also ich behaupte, dass ich jedenfalls auch ein Barrister-Talent war und bin, und auch in der Politik -
    Burchardt: Aber auch Solicitor.
    Schily: Auch Solicitor. Denn eine gute Aktenarbeit, wenn Sie gerade jetzt auf den Flick-Ausschuss Bezug nehmen, dann gehörte dazu, dass ich sehr genau die Akten gelesen habe. Nächtelang habe ich die Akten Silbe für Silbe gelesen, sonst hätte ich auch diese Art von Fragen, wie ich sie nachher doch sehr präzise gestellt habe, nicht formulieren können.
    Burchardt: 80.000 Blatt steht irgendwo zu lesen. Das war schon gigantisch. Sie haben ja damals hier in Berlin die Anwaltsszene ich will nicht sagen aufgemischt, aber auf jeden Fall hat man sich doch vereinigt. Es bildete sich dann, allerdings ohne Ihre Beteiligung, das sogenannte Sozialistische Anwaltskollektiv, und Sie werden zitiert irgendwo mit dem Satz "Ich bin ein Individuum und kein Kollektiv, und deshalb mache ich da auch nicht mit." Aber Ströbele zum Beispiel war einer der Initiatoren dort.
    Schily: Das waren ja sehr gute Anwälte, Ströbele war ein sehr guter Anwalt, aber auch Klaus Eschen und Ulrich Preuß gehörte auch dazu, der Professor Ulrich Preuß, hervorragender Anwalt und später auch ein großer Rechtswissenschaftler, und eben Horst Mahler. Horst Mahler, auch ein sehr bekannter Anwalt und begabter Anwalt.
    Der Angeklagte Horst Mahler und sein Verteidiger Otto Schily am 7. Verhandlungstag im Gerichtssaal in Berlin-Moabit am 23.10.1972. 
    Im Prozess gegen Horst Mahler 1972 war Otto Schily einer der Verteidiger. (dpa/Chris Hoffmann)
    Burchardt: Den Sie später verteidigt haben.
    Schily: Den ich auch dann verteidigt habe. Aber Mahler war damals eine bekannte Größe. Ich war, wie gesagt, eigentlich ein Nobody - ja doch, das ist so, ich war damals unter Eingeweihten - ich bin bekannt geworden durch den Kurras-Prozess und dann die ersten kleinen Studentenprozesse, wo ich dann verteidigt habe.
    Burchardt: Aber Sie sind doch auch aufgefallen. Sie trugen ständig Anzug, Sie hatten eine Taschenuhr mit Kette. Das heißt, Sie haben sich auch - ich will jetzt mal ein bisschen angreifbar wahrscheinlich, spitz formulieren - Sie waren auch ein bisschen dandyhaft damals, kann man das so sagen?
    Schily: Das hat man so gesagt, aber ich habe natürlich meinen eigenen Stil, ich habe mich nicht so diesem Pulloverstil da angepasst. Und die goldene Uhr, die hatte ich geerbt von meinem Vater, und die liebte ich sehr. Das war eine Uhr, die mein Vater bekommen hat für seine langjährige Tätigkeit. Die war mir sehr ans Herz gewachsen. Gut, das war ein anderer Stil. Ich habe dann auch immer Weste getragen und so, Dreiteiler. Das hat sich ja weitgehend bis heute erhalten.
    Burchardt: In der Berliner Szene gibt es ja auch eine Formulierung von irgendjemand, und das sprach sich dann auch herum, Schily heißt "schicker Linker". Waren Sie das?
    Schily: Ob ich so besonders schick war, weiß ich nicht. Aber ich hatte guten Kontakt, und so ist ja auch der erste Kontakt zustande gekommen. Über Horst Mahler bin ich eigentlich bekannt geworden über einen Erbrechtsstreit. Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern. Da kam er da rein mit einem großen Gefolge von Medien und dachte, wo ist denn dieser kleine Anwalt, den ich da jetzt mal beiseite schubsen kann. Und ich saß da also bescheiden und etwas blässlich auf der anderen Seite, und dann erwies sich aber dieser kleine Anwalt als sehr widerspenstig und gewann den Prozess. Das ist immer gut, wenn der andere merkt, der kann auch was. Und dann haben wir uns ja kennengelernt auch im republikanischen Club. Das war ja so eine Einrichtung, wo so die Linken zusammenkamen aus dem ganzen linken Spektrum, aber auch mit dem Vorsatz, wir wollen auch mal einen guten Wein trinken und beim Essen, und mal so ein Dialogforum haben, wenn man so will, auch einen Salon. Das war eigentlich die Idee, ganz gut. Das hatte nichts mit den späteren Republikanern, diesen rechts orientierten Republikanern zu tun.
    Burchardt: Ist klar, ja. Da waren ja sehr viele linke Vertreter. Sie fühlten sich damals auch wirklich als in der Wolle gefärbter Linker? Denn Sie waren dann später ja bei den Grünen.
    Schily: Ich bin ja kein typischer Achtundsechziger. 1968 war ich schon 35 Jahre alt, hatte schon eine Familie gegründet, wie Sie ja bereits erwähnt haben. Ich war eigentlich doch, wenn man so will, eine Randfigur. Aber ich habe natürlich mit vielen dort auch Bekanntschaften und sogar Freundschaften geschlossen, habe auf diese Weise Rudi Dutschke kennengelernt und andere, Bernd Rabehl - das muss man sich so vorstellen, dieses kulturelle Biotop Westberlin, das hatte ja seinen eigenen Charakter, und das hatte schon auch unglaubliche Spannungen und unglaubliche Anregungen in sich.
    "Der politische Dialog hätte viel früher aufgenommen werden sollen, und den Stammheimer Prozess hätte man auch politisch führen können."
    Von der Schwäche des Staates
    Burchardt: Das hört sich eigentlich ja als ruhige Milieuwelt an. Auf der anderen Seite waren die jungen Leute auf der Straße, und die Anwälte haben sicherlich dann auch gesehen, hier sind wir auch gefordert, und wurden ja auch angefordert, Sie zum Beispiel auch, von Gudrun Ensslin. Wie haben Sie denn Gudrun Ensslin damals eigentlich kennengelernt?
    Schily: Gudrun Ensslin habe ich irgendwie am Rande auch mal kennengelernt. Die gab ja diese Voltaire-Schriften heraus. Sie war ja damals erstmal befreundet mit Vesper, der ja so ein Problem hatte mit seinem Vater, der ein Nazi war, also Will Vesper, ein Schriftsteller, der so braun … - und da natürlich versucht hat, das aufzuarbeiten. Und Gudrun Ensslin war sehr in der linken Szene auch bekannt und hat also da sehr auch gegen Atomkrieg - Bernd-Russell-Tribunal - sie war ja auch - ich war das nicht - sie war ja auch in der Wählerinitiative für Willy Brandt.
    Burchardt: Aber nachher haben Sie sie ja verteidigt.
    Schily: Die erste Verteidigung kam - das war der Kaufhausbrandstifterprozess in Frankfurt. Da habe ich sie verteidigt zusammen mit Professor Heinitz. Ernst Heinitz war ein Staatsrechtsprofessor an der Freien Universität, und dieses Mandat haben wir dann beide übernommen. Sie wissen, was dann rausgekommen ist. Sie wurden dann verurteilt.
    Burchardt: Sie war irgendwann später dann auch von Ihnen eigentlich enttäuscht. Das kann man ja so - gerade, was die Stammheim-Performance dann anging. Und sie hat sich ja eigentlich auch verweigert zum Schluss, von Ihnen verteidigt zu werden.
    Schily: Nein, das hat sie nicht.
    Burchardt: Gudrun Ensslin steht ja stellvertretend auch für eine Generation aus der späteren Terrorszene, der sogenannten "guten Bürgerkinder". Was ist das damals eigentlich gewesen, dass gerade die sogenannten guten Bürgerkinder, die sicher auch ihre vielleicht naziverdächtigen Eltern in Frage gestellt haben, dass die dann auch in die Gewalt gegangen sind?
    Schily: Das ist die Tragödie, die man rückwirkend doch noch mal genau analysieren sollte. Gudrun Ensslin kam aus einem Pastorenhaushalt, einem eher pietistischen Pastorenhaushalt, also auch mit hochmoralischen Grundsätzen. Und sie war sehr musisch.
    Burchardt: Spielte Klavier.
    Schily: Das ist mir jetzt gar nicht mehr so in Erinnerung, jedenfalls - weiß ich auch gar nicht, ich habe das jedenfalls nicht miterlebt, dass sie - aber eine hochintelligente Frau. Dann Ulrike Meinhof war eine hochintelligente Frau und war ja eine große Erscheinung in der ganzen Hamburger Medienwelt.
    Burchardt: "Konkret"-Autorin.
    Schily: "Konkret"-Autorin und hoch intellektuell, Autorin in verschiedensten Bereichen und eigentlich überall auch gern gesehen als Diskutantin. Dann Holger Meins, ein reiner Pazifist, ein überzeugter Pazifist, der also aus der Filmszene kam. Das sind alles Lebenswege, die auch eine große Tragik in sich haben, dass sie auf diesen Weg geraten sind. Aber da muss ja irgendetwas passiert sein, dass sie diese Gesellschaft, so wie sie war, ja nun frontal angreifen.
    Polizisten beim Einsatz von Schlagstöcken. 
    Nach dem Tod von Ulrike Meinhof 1976 lieferten sich Polizei und Demonstranten eine brutale Straßenschlacht in Frankfurt. (dpa/Manfred Rehm)
    Burchardt: Wollten Sie den Polizeistaat? Ich meine, wenn man die RAF-Diskussion von damals nochmal sich vergegenwärtigt, da hieß es dann ja immer, die RAF, die will uns in einen Polizeistaat bringen, damit dann die Bürger bereit sind zur Revolution, um diesen Staat dann zu kippen.
    Schily: Ich glaube nicht, dass da so eine Strategie dahinterstand, sondern ich glaube eher, dass sie so eine völlige Feindhaltung eingenommen [haben, d. Red.], wobei das dann ja auch sehr schwierig wird. Ich meine, wenn man dann die Wortwahl zum Teil liest, die ist schon grauenvoll. Wenn man eben andere Menschen, auch Polizeibeamte, nicht mehr als Menschen sieht, sondern andere Ausdrücke wählt, dann wird es sehr gefährlich.
    Burchardt: Schweine …
    Schily: Da entgleitet also das Menschenbild und dann führt es eben in diese Art von Entwicklung.
    Burchardt: War das eine terroristische Gruppendynamik, die sich da entwickelt hat?
    Schily: Das wird man vielleicht historisch mal richtig aufarbeiten. Aber den Fehler, den der Staat gemacht hat, dass der Staat sich dagegen wehrt, dass Gewalt ausgeübt wird, ist ja vollkommen klar und vollkommen plausibel, und der damalige BKA-Präsident, Dr. Horst Herold, hat das auch genial gemacht, übrigens, mit dem ich mich später als Innenminister sehr gut verstanden habe.
    Burchardt: Aber es hieß ja damals, Baader-Meinhof, der willkommene Feind - um dann staatliche Gegenmaßnahmen zu exekutieren.
    Schily: Der willkommene Feind, das, glaube ich, wäre jetzt eine völlig falsche Einordnung. Nein, aber das war ja nun schon eine schwierige Lage für die Polizei, die darauf eigentlich so nicht eingestellt war, auf so eine Situation. Und der Horst Herold hat wirklich eine sehr geniale polizeiliche Methode entwickelt, auch mit der Rasterfahndung. Interessanterweise habe ich übrigens seinerzeit -
    Burchardt: Ist wieder aktuell.
    Schily: Ja, ist immer noch aktuell, und diese Rasterfahndung, leider in einem Fall, durch den blöden Zufall dann gescheitert, sonst wäre Schleyer noch am Leben. Ich habe in einem damaligen Artikel geschrieben, was so mancher nicht mehr - dass ich sage, die Rasterfahndung, auch als Verteidigung, Rasterfahndung ist eine vernünftige polizeiliche Methode. Aber das nur am Rande. Aber das ist das eine, dass man polizeilich eine solche Gruppe bekämpfen muss. Auf der anderen Seite hat der Staat aber nicht verstanden, auch auf das Ganze zu dem damaligen Zeitpunkt im Stammheim-Prozess, politisch zu antworten.
    Burchardt: War das Stärke aus Schwäche?
    Schily: Es war jedenfalls eine Schwäche, zu sagen, das ist jetzt ein ganz normaler Prozess. Der war eben falsch. Man hat dann immer gesagt: Aber machen Sie da nicht aus diesen Verbrechen jetzt irgendeine Bagatelle? Ich habe immer gesagt: Wenn etwas politisch ist, ist es nicht von vornherein moralisch hochstehend. Es gibt politische Verbrechen und es gibt auch eine verbrecherische Politik. Ich habe das mal in einem Aufsatz für die Katholische Akademie in Freiburg so geschrieben. Zunächst aber, man darf die politische Qualität nicht herauszufiltrieren versuchen. Der Staat hat es eigentlich erst später gemacht und war dann auch erfolgreich. Gerhard Baum später als Innenminister hat etwas sehr Vernünftiges gemacht. Der hat nämlich eine Kommission eingesetzt und hat diese politischen Zusammenhängen zwischen Politik und Gewaltanwendung da aufgearbeitet. Und das war sicher eine sehr kluge Maßnahme, um dann auch die Menschen da zur Besinnung zu bringen. Am Schluss hat sich ja auch die Rote Armee Fraktion dann aufgelöst.
    "Es gab ja doch eine gewisse Hysterisierung"
    Burchardt: Sie haben ja eben gesagt, man darf das alles nicht bagatellisieren. Es gibt aus der damaligen Zeit von Heinrich Böll ein Zitat, wo er - für mich so empfindbar jedenfalls, wie ich finde - sich ein bisschen lustig gemacht hat, weil er sagt "sechs Beknackte" oder "sechs Leute" gegen 60 Millionen. Was soll denn dabei gefährlich sein? War das eine Bagatellisierung?
    Schily: Was Böll angesprochen hat, war was anderes. Es gab ja doch eine gewisse Hysterisierung, und es gab Maßnahmen, die überzogen waren. Und wo Menschen dann auch da in das Visier des Staates kamen, was dann eben auch eher das Gegenteil davon bewirkt hat, was man bewirken wollte.
    Burchardt: Das war die Sympathisantendiskussion.
    Schily: Ja, dass man also da Menschen in Verdacht gebracht hat, oder wie man dann auch jemanden behandelt hat, das ist mir in bitterer Erinnerung. Ich weiß, dass der Fall Katharina Hammerschmidt - darf man auch nicht vergessen -, die sich gestellt hat und die man dann elendiglich hat sterben lassen, weil sie war an Krebs erkrankt, und man hat sie nicht eine Behandlung - das sind schon Maßnahmen gewesen, die schon scheußlich und abscheulich sind. Aber das ist die eine Seite. Der politische Dialog hätte viel früher aufgenommen werden müssen und den Stammheim-Prozess hätte man auch politisch führen können. Das war unser Bestreben damals.
    "Für mich war das auch eine Überwindung, erstmal überhaupt da auf einer Demonstration mitzulaufen."
    Befreiung vom deutschen Untertanengeist
    Burchardt: Es ist ja so, dass wir dann die Verurteilungen hatten auch insbesondere nach dem Kaufhausbrand in Frankfurt. Baader war im Knast, andere auch, und Baader wurde dann in Tateinheit mit Ulrike Meinhof dann aus einem Institut befreit, mit Gewalt, muss man dazusagen. Ich glaube, der Institutswächter ist da angeschossen worden. Ob er gestorben ist, weiß ich gar nicht, aber das war schon sehr gewalttätig damals. Das war dann ja wohl endgültig der Impuls für die RAF, nun tätig zu werden und sich zu organisieren.
    Schily: Ja, da ist dann nun Ulrike Meinhof dann auch beteiligt gewesen, die sich nur auf die andere Seite begeben hat, das war sozusagen die Kampfansage: Wir sind hier und da ist der Staat und wir bekämpfen das. Wir sind sozusagen jetzt die Guerilla und so weiter -
    "Eine schwierige Gratwanderung für den Anwalt, da als Verteidiger tätig zu sein"
    Burchardt: Wo haben Sie sich da gefühlt? Zwischen den Fronten?
    Schily: Nein, nicht zwischen den Fronten, nein, nein. Ich bin schon auf dem Rechtsstaat geblieben. Aber Sie haben recht. Es ist ja nicht ganz einfach für einen Verteidiger, in einer solchen Situation zu verteidigen. Denn Sie haben auf der einen Seite einen Staat, der also meiner Meinung nach im Stammheimer Prozess auch überzogen hat und falsche Verfahren da eingehalten hat, bis hin zu Einflussnahmen, bis hin zum Abhören der Verteidigergespräche. Ich kann mich erinnern, dass Hanno Kühnert - ich weiß nicht, ob Sie sich an den noch erinnern?
    Burchardt: Ja, Kollege, klar.
    Schily: Ein Kollege, der damals geschrieben hat, am Ende des Stammheimer Verfahrens: Der rechtsstaatliche Wert dieses Prozesses - der war ein Liberalkonservativer - der rechtsstaatliche Wert dieses Prozesses ist auf null gesunken. Ich meine, das schreibe nicht ich, sondern das hat Hanno Kühnert geschrieben. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite haben Sie Mandanten, die eigentlich auch sagen, das ist jetzt der Staat, mit dem wollen wir gar nichts zu tun haben.
    Burchardt: Es wurde ja alles in Frage gestellt.
    Schily: Es wurde alles in Frage gestellt, die haben sich auch da nicht erklärt. Und das ist natürlich eine schwierige Gratwanderung für den Anwalt, da als Verteidiger tätig zu sein.
    Burchardt: Haben sich die Leute, die Sie dann verteidigt haben, auch über - ich sage jetzt mal, in toto, nicht nur über Sie, sondern insgesamt - über die Art und Weise der rechtsstaatlichen Mittel und Möglichkeiten, die es auch damals immer noch gab, lustig gemacht? Ich erinnere dieses Zitat, Fritz Teufel, der sich erheben sollte, weil das Gericht - und er dann sagte: "Na gut, wenn's der Wahrheitsfindung dient." Das sind natürlich auch Dinge, die dann in der breiten Bevölkerung letztendlich auch wieder als Gag gut ankommen. Das muss man dazusagen.
    Schily: Der Teufel hat das, finde ich, ganz gut gemacht und er wird heute noch zitiert. Teufel war nun ein typischer Repräsentant dieser 68er-Bewegung, auf dieser Seite - und das darf man ja gar nicht ganz vergessen, das ist auch eine Entwicklungslinie, Kunzelmann sozusagen aus München noch, diese, wie hieß die …?
    Burchardt: Die Kommunarden?
    Schily: Nein, die Kommunarden - aber es hatte auch noch - Subversive Aktion hieß das. Also die nun die Verhältnisse so ein bisschen zum Tanzen bringen wollten und eben aber auch sich eher als Spaßguerilla verstand.
    Burchardt: Waren das die kaspermäßigen Trittbrettfahrer damals von der Entwicklung?
    Schily: Nein. So am Anfang fängt das ja alles an. Sie müssen ja verstehen, die Deutschen sind ja eigentlich erstmal erzogen im Untertanengeist. Und jetzt kommt diese subversive - Schwabinger Krawalle, nicht gut, aber immerhin, es gibt schon so ein Gefühl, so überhaupt, dass erstmal die Menschen auf die Straße gehen. Demonstrieren ist für einen Deutschen gar nicht so ganz einfach. Für mich war das auch eine Überwindung, erstmal überhaupt da auf einer Demonstration mitzulaufen. Also, das hängt da auch mit zusammen. Und gut, der Teufel hat damals gesagt - der wurde ja von dem Richter aufgefordert, aufzustehen, und dann hat der gesagt, na, wenn das der Wahrheitsfindung dient, dann stehe ich auf. Das finden natürlich auch Juristen komisch.
    Burchardt: Das war tödlich.
    Schily: Ja, wunderbar. Oder wenn gesagt wurde, sagen Sie jetzt mal, wie heißen Sie, da sagt er, ja ich stell mich gerne vor, aber stellen Sie sich doch erstmal vor als Richter. Wissen Sie, dass heute Richter das zum Teil zu Beginn des Prozesses machen und sagen, ich heiße soundso, ich bin hier der Vorsitzende?
    Burchardt: Ist ja eigentlich auch in Ordnung.
    Schily: Ja, ist ja auch in Ordnung. Da ist auch von der Stilform - einiges hat sich da verändert.
    Verleger Axel Springer am 4. März 1970 im Zeugenstuhl
    Axel Springer, hier als Zeuge im Prozess gegen Rechtsanwalt Mahler 1970, "war in seinen Auffassungen zum Teil näher bei der Studentenbewegung, als man glaubte", so Otto Schily. (dpa/Chris Hoffmann)
    Burchardt: Herr Schily, wir müssen trotzdem natürlich die ernsthaften Auswirkungen weiter erörtern. Wie haben Sie denn damals und auch im Rückblick heute die Rolle der Springer-Presse empfunden? Denn Springer war ja sozusagen auch gerade in Berlin Feindbild Nummer eins, und die "Bild"-Zeitung hat natürlich auch alles dafür getan, um das zu bestätigen.
    Schily: Wir haben ja dann auch mal eine Prozessnorm, die eigentlich nie genutzt worden ist, aber ich habe einmal eine Bestimmung im Strafprozess genutzt, die es dem Verteidiger erlaubt, einen Zeugen zu laden. Und mit dieser Bestimmung ist es mir gelungen, Herrn Springer als Zeugen zu laden. Das war eine interessante Szene, wie wir dann Axel Springer befragen zu dem Verhältnis seiner Medien. Und die Medien, das war sicher zum Teil nicht erfreulich, was da so geschrieben wurde, um es sehr milde auszudrücken. Das hat natürlich auch den Zorn der Studenten und derer, die da in der außerparlamentarischen Opposition tätig waren, hervorgerufen und hat natürlich auch so die Stimmung zum Teil auf der anderen Seite aufgeladen, feindselige Stimmung gegen den. Da kommt diese ganze Frage des Dutschke-Attentats dazu, dieser irregeleitete Bachmann.
    Burchardt: Der Attentäter.
    Schily: Ja, der Attentäter, der also auf Rudi Dutschke geschossen hat. Ja, das ist keine gute Zeit. Auf der anderen Seite haben wir kürzlich mal eine Gedenkveranstaltung für Axel Springer gehabt, und da hat einer mit Recht gesagt: Axel Springer war in seinen Auffassungen zum Teil näher bei der Studentenbewegung, als man glaubte.
    Burchardt: Der war liberaler als seine Produkte.
    Schily: Und es ist eigentlich schade, dass wir mit ihm - er hat ja dann sehr freundliche Worte über mich gefunden nach dieser Zeugenbefragung, die ja durchaus scharf war. Aber ich habe immer gesagt, wir machen jetzt den nicht zum Hassobjekt, den Axel Springer. Der wird kühl befragt, ganz kühl und sachlich. Eigentlich ist es schade, dass wir damals mit ihm nicht ins Gespräch gekommen sind.
    Burchardt: Der saß ja da wie ein armes Würstchen eigentlich.
    Schily: Das sagen Sie jetzt so, das würde ich nicht so sagen. Aber für ihn war es keine angenehme Situation. Das kann man ja auch verstehen. Aber er hat sich dann danach eben, wie gesagt, sehr honorig geäußert.
    Burchardt: Und er hat auch gesagt, ich bin überhaupt nicht erfreut über das, was in diesen Blättern steht aus meinem Haus.
    Schily: Er hat das sogar bedauert zum Teil, und wie gesagt, er hat dann irgendwas noch zu mir gesagt, es wäre schade, dass ich nicht auf seiner Seite sei. Gut, das habe ich natürlich damals nur mit großer Distanz gesehen.
    Burchardt: "Bild"-Chefredakteur Otto Schily, das wäre doch mal was.
    Schily: Das weiß ich nicht, ob das die Rolle wäre, die mir so gut gepasst hätte. Aber eigentlich bedaure ich es schon, dass da kein Gespräch zustande gekommen ist, denn in vielen Fragen hat sich ja seine Position bewahrheitet. Und was mich mit ihm sicher ganz eindeutig verbindet, ist immer sein klares Bekenntnis zu Israel. Das muss man ja mal sagen. Das ist schon eine seiner Grundsätze, die er durchgehalten hat. Axel Springer war in diesen Fragen sehr konsequent. Und auch in der Frage der Wiedervereinigung. Wir haben alle damals nicht mehr dran geglaubt. Er hat, wenn man so will, stur daran geglaubt, und er hatte recht.
    "Auch heute gilt, dass wir alle notwendigen polizeilichen Maßnahmen gegen den Terrorismus ergreifen müssen, auf der anderen Seite aber auch diese Frage geistig-politisch angehen müssen."
    Die Toten in Stammheim
    Burchardt: Wir müssen jetzt noch mal auf die Gewaltdiskussion kommen. Bei den Anti-Springer-Aktionen ging es ja immer noch um Gewalt gegen Sachen, aber später um Gewalt gegen Personen, bis hin zum Mord. Die Namen wie Ponto, Buback, Herrhausen und letztendlich die Entführung und Hinrichtung von Schleyer, als im Grunde genommen das Entscheidende - von Braunmühl auch, also das ist ja eine Blutstrecke, die damals genau diese RAF-Leute, die erste Generation, hinterlassen hat. Wenn Sie nachträglich das beurteilen: Hat sich der Staat da mitschuldig gemacht oder ist durch diese vielleicht auch bisweilen unangemessene Reaktion des Staates die Situation eskaliert?
    Schily: Das kann man nun überhaupt nicht sagen, dass der Staat nun an den Mordtaten mit Schuld hat. Das halte ich für völlig falsch. Aber er hat am Anfang die falsche Einstellung auch zu dem ganzen Verfahren in Stammheim gefunden. Und das hat vielleicht auch dazu beigetragen, dass sich die Sache nicht entschärft hat. Wie gesagt, der spätere Ansatz von Gerhard Baum, dem Innen-, der war ja der Nachfolger - ich weiß nicht, ob noch jemand dazwischen war - Maihofer, eigentlich auch ein anständiger Mann, aber der hat das nicht richtig im Griff gehabt. Da hat man versucht, die Sache politisch auch anzugehen. Wie gesagt, das heißt ja nicht, dass man polizeilich nicht die notwendigen Maßnahmen ergreift. Aber man muss die Sache auch politisch angehen. Wenn ich da mal einen kleinen Sprung machen darf. Der Terrorismus der heutigen Zeit ist ja nicht vergleichbar mit dem damaligen, aber auch heute gilt, dass wir alle notwendigen polizeilichen Maßnahmen gegen Terrorismus ergreifen müssen, auf der anderen Seite aber auch diese Frage geistig-politisch angehen müssen.
    Das Haus am Renngraben 8 in Erftstadt-Liblar, in dem Hanns Martin Schleyer nach seiner Entführung von den Terroristen gefangengehalten worden sein soll
    Das Haus in Erftstadt-Liblar, in dem Hanns Martin Schleyer nach seiner Entführung von den Terroristen gefangengehalten wurde, war schon entdeckt worden - doch wegen polizeilichen Versagens konnte er nicht gerettet werden. (dpa/Martin Athenstädt)
    Burchardt: Schleyer war im Grunde genommen ja sagen wir mal der Sieg in Anführungsstrichen der Staatsräson. Helmut Schmidt hat ein Leben lang unter dieser Entscheidung gelitten. Er wurde auch, glaube ich, in der Familie jahrelang missachtet, weil er eben eine Möglichkeit ausgeschlossen hat, Schleyer zu befreien, nämlich dadurch, dass er diese durch Ben Wisch- damals, Wischnewski, geleitete GSG9-Befreiung der Lufthansa Maschine "Landshut" initiiert hat.
    Schily: Sie müssen wissen, was dem vorausgegangen ist. Man hatte das ja schon mal gemacht, das war aber eine andere Situation ist dem vorausgegangen, das war die Entführung von Lorenz in Berlin, und dann hat man einen Handel gemacht und …
    Burchardt: War das ein Fehler?
    Schily: Das will ich jetzt nicht - das wäre jetzt von meiner Seite wirklich leichtfertig, wenn ich jetzt das nachträglich beurteilen wollte, ob das richtig oder falsch war. Ich werde auch nicht ein Urteil fällen über Helmut Schmidt. Aber ich glaube, das ist für einen Menschen eine fürchterliche Entscheidung, die man treffen muss. Und Helmut Schmidt hat es politisch entschieden, weil er sagt, wenn ich hier nur einen Millimeter auf [die] zugehe, dann bin ich erpressbar. Und dafür gab es sehr gute Gründe. Dass dabei ein Mensch umkam, ist schrecklich und zu beklagen. Wobei, wie gesagt: Die Tragödie ist, dass die Wohnung, in der Schleyer gefangen gehalten wurde, eigentlich schon entdeckt war durch die Rasterfahndung ...
    Burchardt: In Erftstadt.
    Schily: ... und er leider durch ein polizeiliches Versehen nicht dann gerettet worden ist. Das ist natürlich die Tragödie, die das nochmal tragischer macht, die ganze Angelegenheit. Dann kommt Mogadischu. Das war auch für uns Anwälte natürlich eine grausige Situation. Dann habe ich ja damals noch den Versuch gemacht, Herrn Wischnewski zu erreichen telefonisch.
    Burchardt: Mit welchem Ziel?
    Schily: Ich hatte die wahrscheinlich völlige Illusion, wahrscheinlich eine Naivität hoch drei - ich dachte, wenn ich jetzt mit den Mandanten reden kann, dann werden die sich erklären, dass sie eine solche Geiselnahme ablehnen und einen Austausch nicht - das wäre wahrscheinlich - aber war meine damalige Vorstellung.
    Burchardt: Aber die Entführer waren auch Araber. Das waren ja keine Deutschen.
    Schily: Ja, aber trotzdem …
    Burchardt: Die forderten die Freilassung von den RAF-Leuten.
    Schily: Ja, gut, aber es hätte ja, das war also meine Vorstellung, dass die sagen, dass also hier unschuldige Menschen entführt werden, mit dem Tode bedroht werden, das wollen wir nicht. Und die Verbindung zu Wischnewski kam dann nicht mehr zustande und die GSG9 hat dann eine bravouröse Aktion vollzogen, die man ja nur rühmen kann, weil auf diese Weise viele Menschen gerettet worden sind.
    "Ich kann ja nicht davon ausgehen, dass der eine Pistole in der Zelle hat"
    Burchardt: Und das endete dann auch mit den Selbstmorden zumindest von Baader und Ensslin. Vorher hatte sich Ulrike Meinhof, das ist die offizielle Lesart, selbst umgebracht. Aber Sie zweifeln - oder sagen zumindest, diese Meinhof-Selbstmord-These ist nicht hundertprozentig belegt, mal vorsichtig formuliert.
    Schily: Wir haben damals gesagt, man sollte das untersuchen, und wir haben das später auch bei den Selbstmorden in Stammheim gesagt. Da müssen Sie sich aber auch vorstellen, [fehlende Worte, Anm. d. Red.], nicht erreicht die Nacht. Ich hatte ja keinen Kontakt mehr zu den Mandanten. Ich verteidigte hier mit einem Kollegen in Moabit in einem Wirtschaftsstrafprozess. Und jetzt erreicht mich morgens die Nachricht, Baader sei erschossen worden. Jetzt entschuldigen Sie, wenn ich höre "erschossen", dann kann ich nicht davon ausgehen, dass der sich umgebracht hat. Ich kann ja nicht davon ausgehen, dass der eine Pistole in der Zelle hat.
    Burchardt: Können Sie sagen, von woher diese Nachricht kam, aus welcher Ecke?
    Schily: Das kam gleich hier, für die offizielle - Baader hat mit der Schusswaffe. Da muss ich natürlich von vornherein sagen, das muss man ja prüfen. Deshalb habe ich dann gesagt, müsste alles geprüft werden. Heute sage ich zu 99 Prozent, dass die sich umgebracht haben, wobei allerdings da viele Fragen offenbleiben, die Stefan Aust ja immer wieder zur Sprache gebracht hat, ob diese Selbstmordaktion nicht schon bekannt war vorher. Ob die Zellen nicht abgehört wurden und dass man dann vielleicht gesagt hat - der Verdacht steht noch im Raum -, wir sind froh, wenn wir sie los sind.
    Burchardt: Aber die RAF-Leute haben ihren Selbstmord tatsächlich auch offiziell schon immer mal angedroht. Das nicht in Zusammenhang mit der Entführung, aber Sie haben es schon gesagt, wenn wir nicht erfolgreich sind, dann ist die letzte Lösung, sich tatsächlich umzubringen. Das passierte damals.
    Schily: Eine solche Drohung, wüsste ich nichts von. Nein. Eine solche Drohung kenne ich nicht.
    Burchardt: Lassen wir es mal so stehen. Ich habe damals ein Radiointerview mit Klaus Bölling, dem damaligen Regierungssprecher gemacht, am selben Tag, und der sagte, es will mir nicht in den Kopf, wie es möglich ist, dass diese Gefangenen in den Besitz von Waffen kommen konnten.
    Schily: Da hat er ja recht.
    Burchardt: Aber - haben Sie eine Erklärung?
    Schily: Ich habe keine Erklärung. Später hat man dann irgendwelche Aktenordner von einigen Anwälten, die da auch tätig waren, vorgezeigt, in denen also Pistolenteile gewesen sein sollen, aber wie gesagt …
    Burchardt: In dem Zusammenhang, Herr Schily: Ihnen ist ja auch mal unterstellt worden, bei der sogenannten Kassiber-Affäre, dass Sie einer der Urheber seien, dass Nachrichten von Gudrun Ensslin an Frau Meinhof von Knast zu Knast gekommen sind.
    Schily: Habe ich aber nicht.
    Burchardt: Haben Sie dafür eine Erklärung eigentlich?
    Schily: Nein, weiß ich bis heute nicht.
    Burchardt: Sind da möglicherweise irgendwelche Vollzugsbeamte beteiligt gewesen? Das wurde ja damals auch geargwöhnt.
    Schily: Ich habe bis heute dafür keine Erklärung.
    "Heute haben wir die gesetzlichen Verschärfungen vorgenommen, die zur Bekämpfung des Terrorismus notwendig sind"
    Burchardt: Wir sollten zum Schluss des Gesprächs, Herr Schily, wenn Sie mögen, noch ganz kurz - Sie haben eben schon den Blick auf die aktuelle Terrorismusszene geworfen. Wie sehen Sie eigentlich im Augenblick die staatlichen Maßnahmen - Sie waren ja nun auch lange genug Bundesinnenminister und sie waren auch kein Weichling, das muss man auch dazusagen, von staatlicher Seite. Sie waren korrekt, aber auch hart genug.
    Schily: Aber ein Innenminister muss auch Härte zeigen können.
    Burchardt: Ja, ist klar. Ich will das auch gar nicht jetzt in Frage stellen, nur: Reagiert der Staat jetzt wieder mit dieser ständigen Verschärfung von sogenannten Sicherheitsgesetzen auch wieder über wie damals?
    Schily: Wie gesagt: Ich finde, einiges ist damals richtig gewesen in der polizeilichen Bekämpfung, manches falsch. Das müsste man jetzt genau differenzieren. Heute haben wir, glaube ich, die gesetzlichen Verschärfungen vorgenommen, die zur Bekämpfung des Terrorismus notwendig sind, einfach zur Früherkennung von terroristischen Planungen. Und wir haben ja klugerweise in viele dieser Gesetze eine Bestimmung aufgenommen, dass wir sie nach einer bestimmten Zeit wieder überprüfen. Und dann hatte man die Gelegenheit zu überprüfen und die Überprüfung hat - jedenfalls soweit ich jetzt das nochmal überblicke, ich weiß ja nicht jeden einzelnen Paragrafen -, aber jedenfalls doch in der Mehrzahl der Fälle gesagt, das hat sich bewährt. Also insofern kann ich eigentlich nicht sehen, dass da Dinge überzogen worden sind.
    Burchardt: Herr Schily, ich danke Ihnen sehr. Wir haben den Deutschen Herbst, der nicht nur drei Monate, sondern tatsächlich zehn Jahre gedauert hat, ausführlich und aus kompetentem Mund von Ihnen gehört. Dafür danke ich Ihnen sehr!
    Schily: Gerne!
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