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Packender Sog

"Ich möchte Bücher schreiben, die es dem Leser erlauben, gedanklich aktiv zu werden", sagt die Autorin Leslie Kaplan. Das gelingt ihr mit "Fever". Gerade jugendlichen Lesern sei das Buch empfohlen. Denn Geschichte wird persönlich nachvollziehbar.

Von Christoph Vormweg | 01.08.2006
    Im Mittelpunkt von "Fever" steht ein Mord.
    Im Mittelpunkt von "Fever" steht ein Mord. (Stock.XCHNG / Nate Nolting)
    Reizen Jugendliche ihre Grenzen aus, entwickelt sich oft eine unaufhaltsame Eigendynamik. So auch bei Damien und Pierre, zwei Pariser Gymnasiasten, die kurz vor dem Abitur stehen. Insgeheim wollen sie ihrer schönen, intelligenten, doch unerreichbaren Philosophielehrerin imponieren, als sie einen Mord ohne Motiv planen. Sie wollen sich beweisen, dass sie als Täter unauffindbar sein werden, wenn sie die Tat nach dem Zufallsprinzip begehen. Ausgangspunkt ist eine Vorauswahl alleinstehender Pariser Frauen, die abends etwa um die gleiche Zeit von der Arbeit kommen. Am Tag X soll die das Opfer sein, die zuerst erscheint.

    "Ich glaube, die Tatsache, dass man zu zweit ist, macht es leichter, weil man sich zusammen vorbereiten kann. Es hat solche Geschichten ja schon gegeben. Ich denke da an den Hitchcock-Film 'Cocktail für eine Leiche', wo zwei Halbwüchsige einen dritten töten, einen ihrer Kumpel. Und auch dort gibt es übrigens einen philosophischen Zusammenhang, wenn auch keinen historischen, der ist meine Erfindung, weil ich persönlich davon betroffen war. Und es gibt das ziemlich berühmte Verbrechen, das Truman Capote in seinem Buch 'Kaltblütig' beschreibt, wo sie auch zu zweit sind."

    Leslie Kaplans Roman "Fever" beginnt im Moment nach der Tat, als Damien und Pierre das Haus des Opfers, einer blonden Bankangestellten, verlassen. Was der Titel verheißt, tritt ein: Der Leser wird in einem fiebrigen, adrenalinbefeuerten Sog überreizter Wachheit fortgerissen. Abwechselnd seziert Leslie Kaplan die Reaktionen der beiden Täter: die Gewissensbisse, Zweifel und Albträume des sensiblen Pierre, die Suche des intellektuell hochmütigen Damiens nach Entlastungsargumenten, seine zunehmenden Aggressionsschübe. Gleichzeitig intensiviert sich ihre Wahrnehmung des Familienalltags. Denn sie wollen verstehen, warum sie so gehandelt haben, wer ihr Gewissen geprägt hat, das während der Vorbereitung des absurden Mordes offenbar ausgeschaltet war?

    "Ich glaube, ich wollte zum einen etwas über Jugendliche heute schreiben, zum anderen etwas über das Gewicht der Geschichte, wie sich die Dinge übertragen, wie sich die Vergangenheit völlig unbewusst vererbt. Und dafür braucht man nicht wirklich die Psychoanalyse: Die Generationenfrage, die Frage, was von Generation zu Generation weitergegeben wird, betrifft jeden von uns und sämtliche Humanwissenschaften, wenn man so will."

    Leslie Kaplan, die 1943 in New York geboren wurde und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nach Frankreich kam, hat in ihrem Roman "Fever" Themen verarbeitet, die sie auf Grund ihrer jüdischen Herkunft seit langem beschäftigen: vor allem die Frage, wie Familiengeheimnisse den nichtsahnenden Nachwuchs unterschwellig beeinflussen? Da ist zum Beispiel Damiens geliebter Großvater, der zur Zeit des Vichy-Regimes, das heißt während der deutschen Besatzungsherrschaft von 1940 bis 1944 Karriere gemacht hat. Hatte er, fragt sich Damien nunmehr, mit den Nazis kollaboriert und Schuld auf sich geladen? Kurzum: Belastet von den eigenen Schuldgefühlen, wird in den Augen von Damien und Pierre plötzlich jeder verdächtig.

    "Was diese Art von Mord und diese Art von Fragen angeht, so glaube ich, dass sie die Milieus transzendieren. Natürlich gibt es solche Gewalt, wie man oft sieht, in den Vorstädten, in den benachteiligten Schichten. Das hängt dann oft mit ökonomischen Bedingungen zusammen - und es gibt in meinem Buch ja auch diesen Jungen aus der Vorstadt, der seinen Lehrer fast aus dem Fenster geworfen hätte. Aber ich glaube, dass so etwas auch in wohlhabenden, begünstigten Kreisen vorkommen kann, dass sich die Frage der Vergangenheit, die Frage des Verbrechens auch dort stellen kann."

    Gleichzeitig wächst der Druck vor den anstehenden Abiturprüfungen. Von ihrer bewunderten Philosophielehrerin bekommen Damien und Pierre, beides überdurchschnittliche Schüler, neue Denkanstöße. So entwickelt sich der Roman "Fever" ganz nebenbei zu einer Hommage an die Politologin Hannah Arendt. Die Auseinandersetzung mit ihren Thesen weckt das Interesse der beiden Jungen für den Prozess gegen Maurice Papon, der als Schreibtischtäter für die Deportation tausender französischer Juden verantwortlich war. Mit Damien und Pierre sinkt auch der Leser immer tiefer hinab in die Abgründe der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Leslie Kaplan zeigt dabei, wie gut sie ihr Prosa-Handwerk nach mehr als einem Dutzend Romanen versteht, wie geschickt sie Handlung, Reflexion und Geschichtswissen zu einem packenden Sog zu verdichten vermag. Vor allen Dingen aber bevormundet sie den Leser nicht:

    "Das gehört zu meinem schriftstellerischen Standpunkt, zu meiner schriftstellerischen Ethik. Ich möchte Bücher schreiben, die es dem Leser erlauben, gedanklich aktiv zu werden, die ihm also Raum lassen, selbst nachzudenken. Ich will ihn nicht abführen, nicht zwingen, dies oder das zu denken. Das Auslassen des Urteils ist, glaube ich, sehr wichtig. Man gibt dem Leser die Komponenten der Geschichte – und danach ist es an ihm, sich selbst eine Vorstellung davon zu machen. Für mich ist das wirklich wesentlich."

    Spannend ist Leslie Kaplans Roman bis zum Schluss. Denn wo zwei Mörder sind, bleibt die Frage, ob sie von der Polizei überführt werden, ob sie sich selbst stellen oder ob sie die lebenslangen Ketten ihres Geheimnisses weiter ertragen. Gerade Lesern an der Schwelle zum Erwachsenwerden sei "Fever" empfohlen. Denn anders als in unseren Geschichtsbüchern wird Geschichte persönlich nachvollziehbar, wird der Reiz des Recherchierens auf eigene Faust, aus eigenem Bedürfnis anschaulich vorgeführt. Und das in einer knappen, präzisen, immer fesselnden Prosa.

    Bleibt als einziges Manko ein Beigeschmack von Kopfgeburt, von allzu offensichtlicher Konstruiertheit. Immer ist in "Fever" die Versuchsanordnung präsent, das intelligente Denkspiel über die "Banalität des Bösen". Hier hat sich eine erfahrene Schriftstellerin hingesetzt, die Idee eines Mordes psychologisch vielschichtig durchgespielt und den Erzählsog mit Wissenspäckchen und Zitaten gespickt. In Leslie Kaplans erstem Roman "Der Exzess" war das noch umgekehrt. Da hatte die Mitstreiterin der Studentenunruhen von 1968 noch eigene Erfahrungen aus dem langjährigen Alltag in einer Fabrik verarbeitet.