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Paco de Lucia
Der große Erneuerer des Flamenco

Mit seinem Gitarrenspiel krempelte Paco de Lucia in den 60er-Jahren den noch strengen, steifen Flamenco Spaniens komplett um. Seine kreativen Umspielungen der Gesangsmelodie, sein bis zur frenetischen Raserei aufflammendes Tempo und dazu seine optische Lässigkeit machten ihn zu einer Legende. In Mexiko ist er nun gestorben.

Von Kersten Knipp | 26.02.2014
    Der spanische Gitarrist Paco de Lucia bei einem Konzert in der kubanischen Hauptstadt Havanna.
    Der spanische Gitarrist Paco de Lucia bei einem Konzert in der kubanischen Hauptstadt Havanna. (picture alliance / dpa / Alejandro Ernesto)
    Schon die Art, in der er die Gitarre hielt, war neu. Er setzte sie nicht mehr ordentlich auf das rechte Bein, streckte den Oberkörper nicht durch, um sich in steifer Stellung am Griffbrett abzuarbeiten. Eine solche – klassische – Pose lag ihm nicht, lieber brachte er, neben nie dagewesener Virtuosität, die Lässigkeit in den Flamenco. Das rechte Bein über das linke geschlagen, in dieses Becken den Körper der Gitarre versenkend, dann, in dieser entspannten, fast beiläufigen Haltung sein Instrument bearbeitend: das war die eine, die optische Revolution, die Paco de Lucia im Flamenco entzündete. Dazu die bis auf die Schulter – wenngleich nie über sie hinaus – wachsenden Haare, die bunten Hemden, die lässig im Mundwinkel klebende Zigarette: Das war neu, das kannte man nicht in den steifen 60er-Jahren, als Spanien noch unter Franco ächzte, alles im Land, sogar der Flamenco, noch einen strengen Katholizismus atmete.
    Mit Paco de Lucia änderte sich das. Zusammen mit dem Sänger Camarón de la Isla, dem 1992 an den Folgen seiner Heroinsucht verstorbenen Sänger, mischte er den Flamenco wie kein anderer Musiker vor oder nach ihm auf. Immer noch merkte man dem Flamenco bis dahin seine Herkunft aus der spanischen Populärmusik an, dem Erbe bis in 18. Jahrhundert zurückreichender Volksweisen. Die hatten sich atmosphärisch zwar verdüstert, waren rauer, kratziger geworden. Aber verleugnen konnten sie ihre Ursprünge nicht.
    Und nun: Paco de Lucia. Ein unerhörter Druck, fast so, als begleite er den Sänger nicht, sondern treibe ihn vor sich her, dränge ihn mit harten Spiel zum Äußersten. Camarón schrie seine Texte geradezu hinaus, kratzte an ihnen, erhob die Heiserkeit zur Kunst. Und hinter ihm Paco de Lucia: nervös ihn umspielend, verhaltend zunächst, sich dann aber steigernd zur frenetischen Raserei. Grundlage war eine Technik, die sich der 1947 geborene Francisco Sánchez Gomez, wie de Lucia mit bürgerlichem Namen hieß, durch endloses Üben in jungen Jahren im heimischen Algeciras angeeignet hatte – auch im Beisein der beiden Brüder, Ramón de Algeciras und Pepe de Lucia, auch sie später große Flamenco-Künstler.
    Seine Hymne auf das Meer wurde zum vielleicht berühmtesten Stück des Flamenco
    Mit seinem Spiel schaffte es de Lucia schnell nach ganz oben. 1975 gab er ein später auf Platte veröffentlichtes Konzert im Madrider Teatro Real, auch dieses ein Meilenstein in der Flamencogeschichte. Der Künstler entwickelte die musikalischen Themen weiter, lockerte sie auf, gab ihnen neue Wendungen. Vor allem aber verband er den Flamenco mit anderen Musikstilen, allen voran südamerikanischen, genauer: karibischen. Sein Stück "Entre dos Aguas" wurde zum bis heute vielleicht bekanntesten Stück des Flamenco. Die spitzen Takte des Cajón, eines karibischen Rhythmusinstruments, das inzwischen zum nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil des Flamenco geworden ist; dazu der Bass, und über ihm schließlich die entspannte Gitarre: Das war die andere, die freundliche Seite von de Lucias großer musikalischer Spannbreite.
    In den frühen 80er-Jahren dann noch eine Neuerung: die Zusammenarbeit mit den Gitarristen Al di Meola und John Mc Laughlin. Das 1981 entstandene Live-Album "Friday Night in San Francisco" wurde zum Bestseller, in seiner Frische und Kühnheit bis heute unerreicht. Flamenco, Blues, klassische Moderne und Free-Jazz: alles mischte sich in diesen Stücken, die darüber hinaus zu einer Hymne an die Geschwindigkeit wurden: so schnell wie diese drei hatte noch niemand akustische Gitarre gespielt.
    In den 90er-Jahren und auch im neuen Jahrtausend trat de Lucia vor allem mit seinem Sextett auf. Immer noch war er der größte Star des Flamenco. Gleichzeitig drängten immer mehr junge Gitarristen auf den Markt, allesamt mit atemberaubender Technik, die ein immer höheres Niveau erreichte. Der Meister nahm es gelassen, freute sich über die Kreativität, die der Flamenco entfaltete. Zuletzt zog er sich etwas zurück, widmete sich mehr und mehr seinem Privatleben, genoss die Sonne von Mallorca, Kuba und Mexiko, wo er den größten Teil seiner Zeit verbrachte. Im mexikanischen Cancún ist er nun gestorben, am Rande des Atlantiks, jenes Meeres, dem er mit "Entre dos Aguas" eines seiner schönsten Stücke gewidmet hatte.