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Pädophilie im Hirnscan
Angst vor der Tat

Pädophilie und Kindesmissbrauch sind spätestens seit den Skandalen in der Odenwaldschule oder in der katholischen Kirche verstärkt ein Thema für die Forschung. Wissenschaftler unterscheiden dabei zwischen Tat und Neigung, analysieren per Scan Gehirnaktivitäten - und entwickeln Präventionsansätze.

Von Volkart Wildermuth | 06.04.2015
    Eine Puppe liegt in dreckiger Bekleidung an einem Straßengully.
    Misshandlung von Kindern: Wann wird ein Täter zum Täter? (imago / McPHOTO)
    "Ich bin sexualisierter Gewalt durch meinen Vater ausgesetzt gewesen von meinem zehnten Lebensjahr bis ungefähr 14. Lebensjahr."
    Thomas Schlingmann von "Tauwetter", Anlaufstelle für Berliner Männer, die als Junge sexuell missbraucht wurden.
    "Und das hat dazu geführt, dass ich nicht in der Lage war, mich abzugrenzen. Und Nein zu sagen, wenn sich jemand mir sexuell genähert hat."
    "Kinder fühlen sich sehr, sehr irritiert durch sexuelle Übergriffe von größeren, älteren Jugendlichen oder Erwachsenen."
    Paul Honkanen-Schoberth, Bundesgeschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbundes.
    "Fühlen sich tatsächlich regelrecht missbraucht und verletzt, leiden sehr darunter und haben das Gefühl, dass sie schuldig sind noch zu diesem Missbrauch. Und sind tatsächlich in großer, großer seelischer Not."
    "Norbert": "Ja, das war die Tochter meiner Frau aus erster Ehe. Die habe ich halt berührt und gestreichelt, wenn sie geschlafen hat."
    Die nackten Fakten. Jahr für Jahr gibt es in Deutschland um die 14.000 Anzeigen wegen sexuellen Kindesmissbrauchs. Anonyme Umfragen belegen: Die Dunkelziffer ist weit höher. 1992 berichteten fast zehn Prozent der Frauen und mehr als drei Prozent der Männer, als Kind oder Jugendliche sexuell missbraucht worden zu sein. Das entspricht 60.000 sexuellen Übergriffen jedes Jahr. Die Hälfte wird im Familienumkreis begangen, von Onkeln, Stiefvätern, Vätern.
    Die Erkenntnis wurde lange verdrängt, auch von der Wissenschaft. Doch das ändert sich gerade.
    "Ja, in der Tat sind die Forschungsbemühungen sehr intensiv in Deutschland."
    Tillmann Krüger, Klinische Psychologie und Sexualmedizin, Medizinische Hochschule Hannover.
    "Das liegt sicherlich auch daran, dass etwa um 2010 herum eine ganze Reihe von Missbrauchsfällen ja zutage getreten sind und in der Bandbreite erstmals erahnt wurde, welch unglaublicher psychischer Schaden dadurch angestellt wurde."
    Wissenschaftliche Forschung zum Missbrauch von Kindern
    Odenwaldschule, katholische Kirche, Canisius-Kolleg. Der öffentliche Aufschrei über die Skandale hat Gelder nicht nur in Richtung Hilfsorganisationen, sondern auch in die Labors gelenkt. Forschungsverbünde wie NeMUP - Neurobiologische Grundlagen von Pädophilie und sexuellem Missbrauchsverhalten gegen Kinder - oder Mikado - Missbrauch von Kindern, Aetiologie, Dunkelfeld, Opfer. Sie versuchen, die Täter zu verstehen, um die Kinder zu schützen.
    "In den Medien wird häufig der Begriff Pädophilie, also sexuelles Interesse an Kindern, und Kindesmissbrauch synonym gebracht, als wäre das dasselbe. Das ist aber ganz sicher nicht der Fall."
    Rainer Banse, Institut für Psychologie, Sozial- und Rechtspsychologie der Universität Bonn.
    "Wir wissen aus verschiedenen Studien, dass die Mehrheit aller verurteilten Kindesmissbraucher nicht pädophil ist. Sondern das sind Männer, die eigentlich sexuelles Interesse an Frauen haben, aber aus irgendwelchen Gründen trotzdem Kinder missbraucht haben, ein Kind missbraucht haben."
    "Canisius Kolleg, Jesuitengymnasium" ist auf der Tafel vor dem Canisius-Kolleg am 22.01.2015 in Berlin zu lesen.
    Vor fünf Jahren wurde jahrelanger Kindesmissbrauch im Berliner Canisius-Kolleg bekannt. (dpa / picture-alliance / Stephanie Pilick)
    Dabei können Drogen, Persönlichkeitsstörungen oder auch schlicht die Frustration über eine fehlende Partnerin eine Rolle spielen. Viele Übergriffe geschehen im Affekt. Für die Prävention sind diese Männer kaum gezielt ansprechbar. Außerdem ist die Rückfallgefahr bei pädophilen Tätern um ein Vielfaches höher. Wenn Forschung etwas beitragen kann, dann vielleicht hier: bei Männern mit einem klaren sexuellen Interesse an Kindern.
    "Pädophilie ist meiner Vermutung nach eine sexuelle Orientierung, die in der frühen kindlichen oder vielleicht sogar vorgeburtlichen Entwicklung schon angelegt ist und normalerweise stabil über die Lebensphase bleibt."
    Jorge Ponsetti, Institut für Sexualmedizin und forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Kiel.
    "Ich kann nicht morgen aufwachen und sagen, morgen will ich schwul sein oder morgen will ich heterosexuell sein, das kann ich mir nicht aussuchen."
    - "Heinz": Schon im Kindergartenalter habe ich gerne mit Jungs deren Penis berührt und so was, da fing das schon an. Aber das sexuelle Verlangen begann halt in der Pubertät. Es war irritierend. Habe das aber immer zur Seite gedrängt und dachte, dass sich das später noch mal ändern wird."
    Aber es ändert sich nichts bei diesem Mann, den wir Heinz nennen. Offenbar entwickelt sich eine Pädophilie sehr früh. An Theorien zu den Ursachen mangelt es nicht, vorgeburtliche Fehlprägung, Entwicklungsverzögerung, Hirnschädigungen. Im Rahmen der Mikadostudie hat Rainer Banse die Biografien von pädophilen Männern durchforstet:
    "Also, so im Grundschulalter hatten die sehr, sehr häufig schlechte Beziehungen zu Gleichaltrigen beiderlei Geschlechts. Wir vermuten, dass sozusagen ein kausaler Faktor, der in Richtung pädophiler sexueller Neigungen führen kann, dann eben sehr, sehr schlechte Peerbeziehungen sind. Ausgrenzungen, Mobbing und Isolation von normalen Beziehungen mit Spielkameraden."
    Statistische Häufigkeiten bei pädophilen Männern
    Pädophile Männer berichten auch häufig, dass sie selbst als Kind missbraucht wurden. Allerdings gilt: Was statistisch auffällig ist, sagt überhaupt nichts über den Einzelfall aus. Die meisten Kinder verarbeiten traumatische Erfahrungen, ohne später ein sexuelles Interesse an Jungen oder Mädchen zu entwickeln. Die Vorhersagekraft der Biografie bleibt also begrenzt. Die Gesellschaft kann daraus im Grunde nur einmal mehr ableiten, wie wichtig es ist, Kinder vor Mobbing, Vernachlässigung und Missbrauch zu schützen. Wo auch immer die Ursachen der Pädophilie liegen, es handelt sich sicher nicht um Einzelfälle, wie Rainer Banse gerade in einer anonymen Umfrage belegen konnte.
    "Die nackten Fakten. Fünf Prozent unter den 9.000 befragten Männern räumen sexuelle Fantasien im Bezug auf Kinder ein. 1,7 Prozent haben schon einmal Kinderpornografie heruntergeladen und 1,5 Prozent hatten bereits sexuellen Kontakt zu Kindern. Das kann alles Mögliche sein, das kann eine Berührung sein oder dass sie sich vor einem Kind entblößt haben. Solche Dinge oder auch tatsächlich Hands-on-Delikte, wie wir sagen, also dass wirklich sexuelle Handlungen an Kindern vorgenommen wurden."
    Aber die Zahlen zeigen auch: Es gibt viele Männer mit pädophilen Neigungen, die nie ein Kind angefasst haben. Sexualwissenschaftler wollen sie mit Therapien unterstützen. Klingt logisch. Trotzdem gibt es Widerspruch. Thomas Schlingmann, selbst Missbrauchsopfer, hat den Eindruck, dass die Konzentration auf die Sexualität pädophiler Männer am eigentlichen Problem vorbei zielt.
    "Ich würde sagen, dass Täter Gewalttäter sind. Ihr Gewinn besteht darin, andere zu erniedrigen, um sich selbst zu erhöhen. Und das ist im Grunde meines Erachtens der Kern."
    Indem wir potenzielle Täter besser verstehen, schützen wir die Kinder: So lautet das vorsichtige Versprechen der Wissenschaft. Die ersten Schlagzeilen ließen nicht lange auf sich warten.
    - "MRT kann Pädophilie erkennen."
    - "Forschungsprojekt aus Kiel: Gehirnströme verraten Pädophilie."
    - "Studie: Ist Pädophilie erkennbar?"
    - "Pädophilie: Täterprofil im Hirnscan."
    Besonders die letzte Überschrift dürfte Jorge Ponsetti geärgert haben. Denn es ging in seiner Studie nicht um Täter, es ging allein um das sexuelle Interesse an Kindern. Die pädophilen Männer und Kontrollpersonen sahen sich im Hirnscanner Bilder von nackten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen an.
    "In dem Moment, wenn sie Kinderkörper sehen, dann ist das von einer verstärkten Hirnaktivität begleitet, also das ganze Hirn leuchtet dann auf, in dem Moment, wenn man den Reiz sieht, auf den man steht."
    Reizreaktionen im Gehirn
    Es sind die gleichen Aktivierungen, die Heterosexuelle zeigen, wenn sie eine unbekleidete Frau sehen und Homosexuelle beim Anblick eines nackten Mannes. Es sind ähnliche Reaktionen, aber eben auf unterschiedliche Reize. Wo im Gehirn festgelegt wird, ob ein Mann auf Kinder oder auf Erwachsene steht, weiß auch Jorge Ponsetti nicht.
    "Ich kann mir schon vorstellen, dass es ein kleines Hirnareal gibt, wie ein kleines Modul, wo etwas rein gemalt ist, dass das bezeichnet, worauf wir stehen. Aber tatsächlich kennen wir dieses Modul nicht, wenn es denn so etwas gibt."
    Trotzdem kann Jorge Ponsetti über die mathematische Analyse der Reaktion auf die Bilder von nackten Körpern oder auch nur von den Gesichtern von Erwachsenen und Kindern recht verlässlich sagen: Dieser Mann ist pädophil und dieser nicht. Das klingt spektakulär, ist aber im Grund eher ein Nebengleis der Forschung.
    "Diese Vorstellung, wenn man direkt ins Gehirn guckt, dann kann man Menschen sozusagen Information entreißen, die sie nicht preiszugeben bereit sind, das ist eher irrig. Weil von den Probanden wird verlangt, dass sie ganz, ganz eng zusammenarbeiten mit dem Untersuchungsleiter. Und wenn man so viel Zusammenarbeit zeigt, dann kann man die Leute auch fragen."
    Eine MRT-Aufnahme eines Gehirns
    Eine MRT-Aufnahme eines Gehirns: Die Reaktion auf Reize kann gezeigt werden. (ESA)
    Dabei arbeitet auch Rainer Banse in Bonn an Tests, die die sexuelle Orientierung über Reaktionszeiten und unwillkürliche Blickbewegungen erfassen sollen. Er hofft, dass solche Untersuchungen in Zukunft helfen werden, die richtige Therapiestrategie zu wählen.
    "Dafür ist es, glaube ich, sehr wichtig, dass wir genau verstehen: Also haben die überhaupt ein genuines sexuelles Interesse an Kindern oder benutzen die Kinder als Ersatzobjekte und respektieren einfach Regeln und Gesetze nicht. Und in beiden Fällen muss ich einfach andere therapeutische Strategien anwenden, um diesen Tätern zu helfen."
    Das ist eine denkbare Anwendung solcher Tests. Theoretisch könnte man sie aber auch einsetzen, um das gesellschaftliche Problem Kindesmissbrauch per Hirnscan anzugehen, vielleicht bei der Prognose der Rückfallgefahr.
    "Da möchte ich mich zum aktuellen Zeitpunkt noch zurückhaltend positionierend, weil wir uns da erst mal auch noch nicht zu weit aus dem Fenster lehnen können."
    Tillmann Krüger.
    "Das ha ja schon eine unglaubliche Tragweite dann und das kann auch schnell zum Missbrauch von neurobiologischen Verfahren führen, die dann vielleicht auch zu früh schon eingesetzt wurden."
    Etwa um irgendwann Erzieher erst nach einem neurobiologischen Persilschein einzustellen oder Männer nur aufgrund ihrer sexuellen Orientierung wegzusperren. Technisch noch unmöglich, moralisch aber wohl für viele denkbar.
    Die nackten Fakten: In einer Straßenumfrage präsentierten Forscher mehr als 800 Personen den Fall eines pädophilen Mannes, der noch nie einen Übergriff begangen hat. Mehr als ein Drittel der Passanten meinte, ein solcher Mann gehöre eingesperrt. 14 Prozent fanden sogar, dass er besser tot wäre. Nur jeder Zehnte würde einen Pädophilen in der Nachbarschaft akzeptieren.
    Unterscheidung zwischen Tätern und Nichttätern
    Die Pädophilie ist nur ein Fokus des NeMUP-Projektes. Genauso spannend ist die zweite Forschungsfrage: Was unterscheidet Täter von Nichttätern, unabhängig von der sexuellen Orientierung?
    Krüger: "Der Untersuchungsansatz ist, glaube ich, weltweit einmalig."
    An fünf Standorten wollen Tillmann Krüger und seine Kollegen 300 Männer mit einem standardisierten Programm untersuchen. Es umfasst psychologische Gespräche, Hirnscans, Hormonmessungen, DNA-Tests und vieles mehr.
    "Schön, dass sie hier sind und an dem Versuch teilnehmen. Im Folgenden werden Sie verschiedene Bilder am Laptop präsentiert bekommen. Sie haben hier den Joystick. In diesem Teil des Experimentes ist es Ihre Aufgabe, Bilder von Männern zu sich herzuziehen und Bilder von Mädchen von sich wegzuschieben. Bitte reagieren sie so schnell wie möglich."
    In Hannover organisiert der Psychologe Jonas Kneer unter anderem Reaktionszeittests an Gefängnisinsassen.
    "Manche sind daran sehr interessiert, erhoffen sich davon auch Vorteile für die Reintegration, zukünftige Therapien. Andere möchten nicht als Versuchskaninchen an Experimenten teilnehmen und schließen deshalb eine Teilnahme grundsätzlich aus."
    Verurteilte Täter müssen sicher bewacht vom Gefängnis zu den Instituten gefahren werden. Während sie dann im Hirnscanner liegen, stehen drei Polizisten vor der Tür. Forschung unter erschwerten Bedingungen, die interessante Ergebnisse liefert. Martin Walter vom Clincal Affective Neuroimaging Laboratory Magdeburg konnte nachweisen, dass bei pädophilen Männern manche Hirnstrukturen im Durchschnitt etwas kleiner sind.
    "Das bedeutet für den Mandelkern, dass dort insbesondere das emotionale aber auch das sexuelle Verarbeiten von äußeren Reizen gestört ist - oder zumindest verändert ist. Und im Bereich des Stirnhirns können wir davon ausgehen, dass zum Beispiel Handlungskontrolle verändert stattfindet, wenn die zugrundliegende Struktur dünner ist als bei gesunden Vergleichsprobanden."
    Wohlgemerkt im Durchschnitt, es gibt breite Überlappungsbereiche zwischen den den Versuchsgruppen und den Vergleichsgruppen. Auch diese Verfahren ermöglichen also keinen seriösen Test. Die Veränderungen im Stirnhirn sind aber in anderer Hinsicht interessant.
    - "Norbert": "Ich möchte eigentlich keine Kinderpornografie sehen. Ich denke, dass ich mithilfe meiner Frau und unserem gesperrten Anschluss das leichter bewältigen kann, als wenn ich freien Zugang zum Internet hätte. Ich weiß, dass ich es nicht will, aber ich weiß, dass die Zeit auch mal kommt, wo ich schwach werde."
    "Die ersten Daten deuten darauf hin, dass die pädophilen Männer ohne Übergriffe regelrechte Meister der Selbstbeherrschung sind."
    Jorge Ponsetti aus Kiel. In Hannover hat Tillmann Krüger mit der Auswertung der Daten im Nemup-Projekt begonnen.
    "Wir haben jetzt doch einige Hinweise dafür, dass wir sehen können, bei welchen Personen es zur Tat kommt. Also da scheint es Unterschiede zu geben, auch in der neuronalen Verarbeitung, in der neuronalen Ausstattung. Das heißt, wir sehen erste Hinweise für Unterschiede zwischen den Gruppen, die zum Täter werden und denen, die ausreichend Kontrolle haben und nicht zum Täter werden."
    Gehirnanalyse bei übergriffigen Männern
    Bei pädophilen Männern, die tatsächlich Übergriffe begangen haben, arbeiten das Stirnhirn und der Mandelkern anders, auch deren gegenseitige Vernetzung zeigt Auffälligkeiten. Vielleicht empfinden sie deshalb für sie sexuelle Reize stärker, vielleicht ist ihre Impulskontrolle schwächer ausgeprägt. Das sind erste Hinweise, die Martin Walter aber nicht überbewerten will. Im Labor wird die direkte Reaktion auf ein Bild untersucht, schnelle Prozesse, die sicher die Basis bilden für die Handlungskontrolle. Ein spontaner Impuls führt aber nicht automatisch zu einem Missbrauch:
    "Die Handlungskontrolle, die letztenendes aussagt, ob ich auf einen Stimulus eine bestimmte Handlung ausübe, ist ja etwas komplexer. Das heißt, da sind Pläne angelegt, dann werden komplexe soziale Interaktionen gesteuert, die auch teilweise geplant sind. Und das sind Dinge, die man sicher auch in anderen Zeitfenstern beeinflussen kann."
    Trotzdem: Die Studien liefern erstmals Hinweise, worin sich pädophile Männer unterschieden, die entweder ein sozial verantwortliches Leben führen, oder aber Übergriffe begehen.
    Ponsetti: "Das deutet darauf hin, dass Therapieprogramme zur Behandlung pädophiler Kindesmissbraucher auf die Störung der Impulskontrollfähigkeit fokussieren."
    - "Heinz": "Diese Therapie nehme ich in Anspruch, weil ich die Befürchtung habe, vielleicht doch einmal einen sexuellen Übergriff auf ein Kind zu begehen. Und ich möchte meinen Willen stärken, um das zu verhindern. Und da unterstützt sie mich ziemlich gut."
    Klaus Beier, Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Berliner Charité, hatte sich als Therapeut und Forscher lange mit verurteilten Männern beschäftigt. Aber die überwiegende Mehrheit der Täter wird ja gerade nicht angezeigt. Und dann gibt es noch die, die mit ihrer sexuellen Neigung ringen.
    "Das Präventionsprojekt Dunkelfeld ist immer noch einmalig weltweit. Wir bieten ja selbstmotivierten, eigenverantwortlich sich an uns wendenden Männern mit pädophiler Neigung Hilfe an, um eine sichere Verhaltenskontrolle zu erlernen und eben keine Kinder zu missbrauchen. Das ist ja primäre Prävention, weil es erst gar nicht zu Opfern kommt."
    "Durch die Therapie hab ich gelernt: Niemand ist schuld an seiner sexuellen Neigung. Aber jeder verantwortlich für sein Verhalten. Ich will kein Täter werden."
    Projekt Dunkelfeld bietet Therapie an
    Fernsehspots, Plakate, Internetseiten. Das Projekt Dunkelfeld ging 2005 breit an die Öffentlichkeit und bot pädophilen Männern eine Therapie an. Unterstützt auch von einer ganze Reihe von Opferorganisationen, wie Hänsel und Gretel oder dem Deutschen Kinderschutzbund.
    "Das ist sehr, sehr wichtig, dieses Projekt "Kein Täter werden", für die Erwachsenen und jetzt auch das Projekt für die Jugendlichen."
    Paula Honkanen-Schoberth.
    "Damit ist ja auch diese Hoffnung verbunden, dass sie ihre Impulse kontrollieren lernen. Und nicht einfach so ihre Fantasien ausleben und Kinder dann missbrauchen."
    Dafür gibt es offenkundig großen Bedarf. Über 4.000 Männer haben sich bei den inzwischen bundesweit zehn Anlaufstellen gemeldet und Rat gesucht. Tendenz rasant steigend. Nicht alle sind pädophil, nicht alle wollten eine Therapie, nicht alle können die wöchentlichen Termine organisieren. Aber inzwischen haben mehrere Hundert eine Therapie aufgenommen und über Hundert sie auch schon abgeschlossen. Es gibt eine ganze Reihe andere Angebote für pädophile Männer. Aber nur der Ansatz des Dunkelfeld-Projektes wird auch wissenschaftlich ausgewertet. Das Therapieprogramm läuft ein Jahr mit wöchentlichen Gruppen und Einzelsitzungen.
    "Einmal verhaltenstherapeutische mit ganz klaren Verhaltensanalysen. Also welche Situationen sind das, in denen ich dazu neige, mich an den Rechner zu setzen, und nach entsprechenden Bildmaterialien zu schauen oder gespeicherte Materialien mir anzuschauen."
    Plakate einer Informationsaktion zum Pädophilie-Präventionsprojekt in Mecklenburg-Vorpommern
    Plakate einer Informationsaktion zum Pädophilie-Präventionsprojekt in Mecklenburg-Vorpommern (dpa / picture alliance / Jens Büttner )
    So Klaus Beier von der Berliner Charité.
    "Wir versuchen, für sie ein Netzwerk zu schaffen, an persönlichen Beziehungen innerfamiliär beispielsweise, die als stützend wirken können."
    "Heinz" hat seinem Umfeld von seiner Pädophilie erzählt, auch um nicht in problematische Situationen zu geraten.
    "Ich wollte ihnen klar machen, warum es für mich manchmal anstrengend war zu babysitten innerhalb der Familie oder aber zum Beispiel im Sommer in Freibäder oder so etwas zu gehen. Meine Eltern wissen Bescheid, ein Teil meiner Großeltern, meine engsten Freunde und verschiedene Leute aus meinem Skatverein wissen Bescheid."
    Andere Teilnehmer mussten lernen, bewusst dafür zu sorgen, dass sie etwa im Sportverein oder in der Schule nie alleine mit Kindern sind. Nicht alle Teilnehmer bei "Kein Täter werden" sehen das direkt ein, so die Erfahrung von Jorge Ponsetti.
    "Also es gibt immer wieder Fälle, wo man merkt, dass man innerlich emotional aufgewühlt wird. Das sind zum Beispiel solche Fälle, in denen die Täter versuchen, die Schuld für die Tat dem Opfer zuzuschieben, oder in dem sie die Folgen der Tat bagatellisieren oder die Taten rechtfertigen. In der Arbeit mit den Männern, die sich hier im Dunkelfeld-Projekt vorstellen, war ich beeindruckt darüber, was es für Männer andererseits gibt, die eine sehr deutliche Einsicht in ihr Problem haben und mit wie viel Energie und Willenskraft sie versuchen, dieses Problem anzugehen."
    Die Therapie ist oft ein Balanceakt, denn immer wieder registrieren die Therapeuten auch Warnzeichen für bevorstehende Übergriffe. Tillmann Krüger:
    "Solche Situationen werden unglaublich ernst genommen und es gibt eine Eskalations- oder Stufenschema, wie damit vorzugehen ist. Das kann eine Therapieintensivierung sein, das kann eine Einbeziehung des sozialen Umfelds sein, wovon wir uns dann auch eine erhöhte Kontrolle versprechen. Das kann die zusätzliche Gabe eines Medikamentes beinhalten, weil wir ganz klar sehen, dass man damit die sexuelle Dranghaftigkeit ganz erheblich reduzieren kann."
    Grenzen des Projekts
    Wenn die Therapeuten trotzdem den Eindruck haben, dass sich ein Kindesmissbrauch anbahnt und ihre Gegenmaßnahmen nicht greifen, dann können sie auch die ärztliche Schweigepflicht brechen und die Behörden informieren. Obwohl die Männer freiwillig zu "Kein Täter werden" kommen, erzählen sie den Therapeuten nicht alles. Das bestätigte sich bei der ersten Auswertung des Projekts. Klaus Beier hatte dabei 53 Männer vor und nach dem Jahr Therapie befragt. Viele psychologische Risikofaktoren für Übergriffe verminderten sich. Die Männer klagten seltener über Einsamkeit, sie flüchteten sich weniger in falsche Rechtfertigungen, sie zeigten mehr Mitgefühl mit Kindern.
    "Das sind Faktoren, die sie mit Verfahren messen können, mit standardisierten Verfahren. Und dann zu einem späteren Zeitpunkt noch mal die Ausprägung dieses Faktors sich anschauen. Und hier haben sich nun Unterschiede gezeigt, die auf das Programm zurückgehen. Das heißt, wir können hier Einfluss nehmen."
    Die Männer wurden auch gefragt, wie sich ihr Verhalten verändert hat. 25 von ihnen, also etwa die Hälfte, hatten vor der Therapie schon sexuelle Übergriffe auf Kinder begangen. Ohne dass die Therapeuten davon erfuhren, haben fünf nach eigenen Aussagen auch während der Therapie weitergemacht. Hatten ohne, dass Ärzte oder Polizei Verdacht schöpften, nackte Jungen und Mädchen beobachtet, Kindern Pornografie gezeigt und in einem Fall auch deren Genitalien berührt.
    "Wir hatten also im Laufe der Therapie auch Betroffene, die Übergriffe begangen haben. Das war im Vergleich zur Wartegruppe waren das weniger, weniger intensive. Aber hinsichtlich der Nutzung von Missbrauchsabbildungen beispielsweise war die Belastung weiterhin sehr hoch."
    Für Thomas Schlingmann von Tauwetter bringen diese Befunde den ganzen Ansatz des Dunkelfeld-Projektes in Misskredit.
    "Wenn wir feststellen, dass in einer Gruppe von 53 Männern fünf während der Therapie fortwährend sexualisierte Gewalt ausgeübt haben, ohne dass man die Kinder schützen kann. Da finde ich, das ist äußerst fragwürdig."
    Zumal für ihn unklar ist, ob die Therapeuten nicht doch von einigen dieser Taten gewusst haben, etwa von der fortlaufenden Nutzung von Kinderpornografie bei mehr als der Hälfte der Männer in der Therapie. Immerhin ein Straftatbestand.
    "Bei dem derzeitigen Modell fallen die Kinder hinten runter, die verschwinden hinter der Schweigepflicht. Also die Schweigepflicht ist wichtiger als der Kinderschutz."
    Die Frage bleibt aber: Was wäre die Alternative? Ob andere Therapieangebote besser abschneiden ist schlicht nicht erforscht. Und eines ist klar: Die weit überwiegende Zahl der sexuellen Übergriffe auf Kinder wird nie bekannt, außer dem Opfer und dem Täter weiß niemand davon. Diese Täter können nur Projekte wie Dunkelfeld erreichen, davon ist auch Martin Walter überzeugt. Immerhin haben ja 20 der 25 bekennenden Täter laut eigener Aussage dank der Therapie nicht weitergemacht.
    "Ich denke, dass bei der Schwere der zu erwartenden Vergehen bereits Einzelfälle von Patienten, die sich durch eine Zuwendung oder durch eine Therapie sicherer fühlen und nicht übergriffig werden, eine ganz wichtige Größe darstellen. Da wir wahrscheinlich bei der Vermeidung eines jeden Einzelfalles bereits von einem Erfolg sprechen können."
    - "Norbert": "Ich weiß auch ganz genau, dass sie eben mich mag. Sie mag nicht das, was ich getan habe, aber sie mag mich. Und die Unterstützung durch andere, durch Freunde und durch meine Frau ist für mich sehr wichtig. Und hat eben auch dazu geführt, dass ich die Taten auf jeden Fall natürlich ablehnen kann. Ja, das hat mir halt sehr geholfen."
    Vielfältige Strategien gegen Kindesmissbrauch
    Ein Problem wie der Missbrauch von Kindern kann nicht über einen einzigen Ansatz bewältigt werden. Nötig ist eine Vielfalt der Strategien: die konsequente Verfolgung der Täter durch die Justiz, die Aufklärung und Stärkung von Kindern, Institutionen, die ein offenes Ohr haben für den Verdacht eines Kindesmissbrauchs, Therapien für die Opfer und ja, auch Therapien für pädophile Männer, die nicht Täter werden wollen. Julia von Weiler von "Innocents in Danger" hat allerdings den Eindruck, dass das Dunkelfeld-Projekt und die neurowissenschaftlichen Ansätze zu viel Gewicht erhalten:
    "Also der Täter oder die Täterin ist immer das interessante Wesen. Und darüber finden sie viele, viele Berichte und Dokumentationen. Und über das Leben von Betroffenen und wie sie es meistern, finden sie verhältnismäßig wenig. Und dieses Missverhältnis finde ich ganz schwierig."
    "Ich kann die Sorge nachvollziehen, dass insbesondere eine Entschuldigung durch einen medizinischen Umstand von Betroffenen oder Angehörigen von Betroffenen als problematisch angesehen werden müsste. Und bin dann auch im Kontakt und im Gespräch mit den Betroffenen dahingehend bemüht, klarzustellen, dass wir eben gerade das nicht vorhaben."
    Martin Walter ist überzeugt: Neue Erkenntnisse werden letztlich auch den Kindern helfen. Das gilt aber nur auf lange, wahrscheinlich auf sehr lange Sicht. Da ist es gut, dass die anderen Strategien gegen Kindesmissbrauch langsam Wirkung zeigen.
    Die nackten Fakten. 2011 hat es in Deutschland noch einmal eine Umfrage zur Häufigkeit von sexuellem Missbrauch gegeben. Im Vergleich zu 1992 sind die Zahlen deutlich gesunken. Bei den Männern berichten noch 1,4 Prozent von einer Missbrauchserfahrung im Kindes- und Jugendalter. Zehn Jahre zuvor waren es noch doppelt so viele. Bei den Frauen sind die Zahlen nur um ein knappes Drittel gesunken, auf 6,7 Prozent, allerdings mit weiter fallender Tendenz.
    Entscheidender Faktor: Die Veränderung im öffentlichen Klima. Die Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch verstecken sich nicht mehr so häufig, sie zeigen die Täter an. Deren Risiko, ins Gefängnis zu müssen, steigt entsprechend. Und das scheint eine Stärkung der Impulskontrolle zu bewirken, ganz ohne spezifische Therapie. Hier macht sich die jahrelange Aufklärung bezahlt, die von Organisationen wie Tauwetter vorangetrieben wurde, damit heute möglichst wenig Kinder ein Schicksal erleiden wie vor vielen Jahren Thomas Schlingmann.
    "Ich würde sagen, ich führe heute ein Leben, mit dem ich zufrieden bin. Und das ist das, was zählt. Aber es ist eben gleichzeitig auch eine Narbe. Die Wunde kann heilen, aber es bleibt eine Narbe. Und unter Umständen ist diese Narbe nach wie vor wetterfühlig und springt auf bestimmte Situationen an."