Dienstag, 16. April 2024

Archiv

Journalist
"Jordanien könnte zu einem Pulverfass werden"

Jordanien leidet unter dem Flüchtlingsdruck. Der Journalist Martin Gerner hat ein paar Tage in der Hauptstadt Amman mit Syrern verbracht. Die Masse der syrischen Flüchtlinge lebe in Jordanien nicht in Lagern. Viele kämen bei Angehörigen, Freunden oder anderen Unterkünften unter. Für Syrer gebe es in dem Land eine Menge Restriktionen.

Martin Gerner im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 02.04.2016
    Syrische Mädchen im Flüchtlingslager Al-Zataari in Jordanien.
    Syrische Mädchen im Flüchtlingslager Al-Zataari in Jordanien. (imago/Xinhua)
    Jürgen Zurheide: Ich hab Besuch bekommen, bei mir im Studio ist der Kollege Martin Gerner. Er ist heute Morgen bei uns, weil er einige Tage in Jordanien unterwegs war, und zunächst einmal begrüße ich Sie ganz herzlich und stelle die Frage: Sie sind in Jordanien gewesen, ein Land, was im Moment natürlich ganz besonders unter dem Flüchtlingsdruck leidet. Wenn wir in Deutschland von Flüchtlingen reden angesichts der Zahlen, die in Jordanien normal sind, eine Bevölkerung von etwas mehr als neun Millionen mit weit über 1,3 Millionen Menschen, die allein aus Syrien eine neue Heimat suchen oder jedenfalls geflüchtet sind – wie haben Sie zunächst die Lage erlebt? Sie haben in einer Familie gelebt, was ist Ihnen aufgefallen?
    "Die Masse der syrischen Flüchtlinge lebt in Jordanien nicht in Lagern"
    Martin Gerner: Ich habe ein paar Tage in Amman, in der Hauptstadt, mit Syrern verbracht aus Homs, und die scheinen mir in vielerlei Hinsicht repräsentativ zu sein. Wir müssen dazusagen, dass die Masse der syrischen Flüchtlinge in Jordanien nicht in Lagern leben. Warum sage ich das? Weil in unseren Medien häufig das Lager Zaatari – der Name ist nicht ganz unbekannt – eine Rolle spielt. Dieses Lager ist nach wie vor sehr voll, es ist allerdings eher Tendenz abnehmend. Die Zahlen, die zirkulieren, sind, täglich kommen nicht mehr ein- bis zweitausend über die jordanische Grenze im Süden, sondern eher ein- bis zweihundert, so die letzten Zahlen auch in den jordanischen Tageszeitungen, und trotzdem ist das natürlich täglich in den Medien, Zeitungen, Radio ein Thema.
    Viele kommen unter bei Angehörigen, Freunden, viele aber auch in Unterkünften, die in Amman gepfefferte Preise, muss man mittlerweile sagen, haben. Und zugleich, wenn man weiß, dass die Syrer nicht arbeiten dürfen legal, dass nur Schwarzarbeit für die Masse gilt, ist es bei Preisen für Zimmer, die eine schlechte, miefige Atmosphäre haben und trotzdem 200 bis 250 Euro kosten, ein Kampf des Überlebens, auch als Kampf für Menschen zweiter Klasse. Syrer dürfen zum Beispiel keinen Führerschein machen. Also es gibt eine ganze Menge Restriktionen, und auch die Behandlung – ich hab mehrere Polizeikontrollen erlebt – von Syrern, mit denen ich unterwegs war, das ist alles eine Situation, die die Syrer natürlich nicht befriedigen und wo sie langfristig auch überlegen, wollen wir überhaupt in diesem Land bleiben.
    Extrem hohes Potenzial von Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit
    Zurheide: Was heißt das für die Stimmung im Land? Es deutet sich ja an, dass da eine fast explosive Mischung ist, das geht gut immer nur eine gewisse Zeit, so was wissen wir.
    Gerner: Also Jordanien ist ja in gewisser Weise ein Extrem-/ Musterland bei der Integration zwangsmäßig von Flüchtlingen aus Krisengebieten.
    Zurheide: Palästinenser.
    Gerner: Palästinenser, die über die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, die weitgehend integriert sind, aber nicht alle bezeichnen sich als voll integriert. Wir haben mehrere Hunderttausend Iraker einer ersten Welle aus dem Krieg gegen die Amerikaner, wir haben eine zweite Welle Iraker andauern, wir haben jetzt die syrischen Flüchtlinge. Da hinzukommt ein extrem hohes Potenzial von Arbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit, 30 Prozent offiziell, Dunkelziffer plus x, und das kann nur funktionieren, wenn soziale und wirtschaftliche Reformen gelingen.
    Seit 20 Jahren laufen unter dem aktuellen König Privatisierungsanstrengungen, die sind aber, soweit ich sehen konnte, längst nicht so weit gediehen wie auf dem Papier. Hinzu kommen jetzt etwa diese Woche Preiserhöhungen beim Benzin, zehn Prozent. In einem Land oder in einer Stadt wie Amman, wo man ohne Auto gar nicht kann, sind das Möglichkeiten, die Zündstoff bieten. Hinzu kommt, dass es ein salafistisches Potenzial in Jordanien gibt, nicht militante Salafisten, aber auch militante Salafisten. Wie stark die sind, wie sehr unter Kontrolle sind, das ist eine große Frage. Es gibt illegale Grenzübertritte aus Syrien, dazu mögen Militante gehören, bisher sind die unter Kontrolle. Was alle meine Gesprächspartner überrascht hat, ist, dass es seit 2005 in Jordanien keinen großen Anschlag gegeben hat. Das ist besonders, das fällt auf - warum? Weil Jordanien, dieser besondere Staat, ist im Zentrum dieses Nahost-Konzertes, der die längste Grenze mit Israel hat, der offiziell einen Friedensvertrag mit Israel hat, der aber von der Masse der Bevölkerung – das kann man so sagen – wenig unterstützt wird. Und wenn da sozusagen zwei Funken – der syrische Funken und der palästinensisch-israelische zusammenkäme, dann könnte das sehr schnell zu einem Pulverfass werden, und diese Szenarien, im Plural, werden auch immer wieder entwickelt in verschiedenen Gesprächen.
    "Die Grenze ist insgesamt sehr, sehr gut kontrolliert"
    Zurheide: Sie haben jetzt gerade die illegalen Grenzübertritte angesprochen. Wie ist denn die Gefahr – da schauen wir natürlich im Moment ganz besonders – von IS oder Daesh, wie immer man das nennen mag, wie ist das einzuschätzen?
    Gerner: Ich war in Irbid, und in der Grenzregion von Irbid, Ramtha, auch die Grenzstadt, wo Übertritte sozusagen von Flüchtlingen sind. Die Grenze ist insgesamt sehr, sehr gut kontrolliert, weil der Geheimdienst, der jordanische, und die Sicherheitskräfte sehr stark sind und eine Ausnahmestellung haben in diesem sehr autoritären Staat.
    Zurheide: Also Grenze heißt wirklich Grenze?
    Gerner: Die Grenze zu Syrien. Es gibt mehrere Grenzübergänge, Ramtha ist einer, dort kommen auch die meisten Flüchtlinge …
    Zurheide: Ich meine damit, die Grenze ist kontrolliert.
    Gerner: Die Grenze ist kontrolliert, und der Staat ist sicherheitsmäßig gut gewappnet, das kann man so sagen, das sagen auch alle Experten vor Ort. Nichtsdestotrotz, es sind etwa 2.000 Jordanier – die Zahl wurde mir genannt –, die zu Daesh gegangen sind, wenn man so will, in den letzten Jahren, die dort kämpfen, und es gibt militante Salafisten im Land. Inwiefern die wie in Irbid, der Grenzstadt, vor einem Monat ausgeschaltet werden können, ist fraglich.
    Überhaupt, diese Vorgänge in Irbid letzten Monat, da sagen einige, ja, das war eine IS-Zelle, andere sagen, das stellt der Staat so dar, ein Staat, in dem die Medien nicht frei sind, in dem all das schwer zu kontrollieren ist, in dem auch ausländische Stiftungen, deutsche Stiftungen ihre genauen Informationen bei vielen Quellen zusammensuchen müssen. All das ist schwer einzuschätzen. Wir können aber davon ausgehen, dass, solange der Syrienkrieg andauert, es von jordanischer Regierungsseite und des Königtums sicherlich in alle Richtungen auch Bemühungen geben wird, sich den Staat nicht feind zu machen. Zugleich wird der Syrienkrieg instrumentalisiert, die syrische Zivilbevölkerung redet selbst davon, dass sie Angst hat vor einer syrischen Lösung. Das heißt, dass ein Protestpotenzial – ich hab eben die soziale schwierige Lage genannt, die 2011, 2012 zu erheblichen Protesten, Stichwort Arabischer Frühling, geführt hat und die nicht weg sind, dieses Protestpotenzial – wieder aufkeimen kann, zugleich der Staat aber auch die Vorgänge in Syrien so medial an die Bevölkerung bringt, dass sie hoffentlich aus Sicht des Staates ruhig bleibt. Dieses Spiel merkt die Bevölkerung, darum weiß sie, und sie ist sehr bewusst, dass es ein Privileg ist, dass dieses Land Jordanien mit seiner relativ kleinen Fläche ein ruhiger Flecken in Nahost ist. Sie weiß auch, dass das sich sehr schnell ändern kann.
    Zurheide: Die humanitäre Lage haben Sie angesprochen beziehungsweise die wirtschaftliche Lage und damit die schwierige humanitäre Lage. Was an Hilfe von außen würde dem Land denn helfen? Denn dass es nicht genug bekommt, ist, glaube ich, auch klar.
    Gerner: Na ja, ich hab von mehreren Flüchtlingen erfahren, gehört, erzählt bekommen in den letzten Jahren, dass etwa Zuweisungen durch UNO in den Lagern und außerhalb, wenn man unter UNO-Registrierung stand, unregelmäßig waren, und noch dazu bleibt man damit in einer Abhängigkeit. Und das ist ja ganz klar, die meisten Flüchtlinge wollen ein selbstbestimmtes Leben, deshalb wollen auch viele – nicht alle sicherlich, aber viele – nicht in Zaatari bleiben. Es gibt ein zweites großes Lager, was eingerichtet ist im Westen, Richtung irakischer Grenze, Mafraq, das ist weitgehend leer. Da sind 30, 40 Prozent besetzt nach aktuellen Informationen, da wäre noch viel Potenzial, das liegt aber relativ isoliert in einer Wüstengegend, ohne Anbindung an Großstädte. Eine Fehlkonstruktion? Auf den ersten Blick ja, auf den zweiten vielleicht auch, das müsste man mal eruieren. Azraq übrigens der Name, ich korrigiere, Azrag heißt das Lager. Und das stellt schon dar, unter welchen Fehlkonzeptionen auch Jordanien leidet. Die internationale Hilfe, glaube ich, täte gut daran, massiv wirtschaftlich die Bedingungen in Jordanien zu verbessern. Der UNHCR hat in Zaatari und Azraq viel zu tun mit diesem.
    Zurheide: Martin Gerner, herzlichen Dank für die Eindrücke einer Reise, ganz frisch, Sie sind gerade erst vor wenigen Stunden gelandet, und bedanken uns, dass Sie um 6:58 Uhr hier bei uns waren. Danke schön!
    Gerner: Gerne doch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.