Christian Jakob: "Die Bleibenden"

Flüchtlinge erkämpften ein Willkommen

Napuli Langa protestierte im April 2014 gegen die Räumung des Flüchtlingscamops am Oranienplatz in Berlin durch die Besetzung eines Baumes
Napuli Langa protestierte im April 2014 gegen die Räumung des Oranienplatzes in Berlin durch die Besetzung eines Baumes. © imago/Christian Mang
Von Stefan May · 02.04.2016
Von 1993 bis 2015, vom überparteilichen Asylkompromiss bis zum Willkommen für eine Million Flüchtlinge: Die Einstellung der Deutschen und ihrer Behörden zur Einwanderung habe sich tiefgreifend gewandelt, stellt Christian Jakob fest.
Es schwingt ein trotziger Wille mit. In den vergangenen 20 Jahren haben Asylsuchende ihn mitunter sehr erfolgreich gegenüber dem Staat, in dem sie leben wollten, durchgesetzt. Ihrer Hartnäckigkeit, so Christian Jakobs, sei es zu verdanken, dass Deutschland in vergleichsweise kurzer Zeit von einem Land, das Migration vermeiden wollte, zu einem wurde, das Einwanderung zuließ.
Im Koalitionsvertrag von 1982, zu Beginn der Ära Kohl, hieß es noch "Deutschland ist kein Einwanderungsland". Als die Zahl der Flüchtlinge zehn Jahre später auf 430.000 angestiegen war, gestalteten Union, SPD und FDP ihren Asylkompromiss noch dementsprechend: Flüchtlinge durften den Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde nicht verlassen.

Vor 20 Jahren waren Flüchtlinge unerwünscht

Untergebracht wurden sie in Sammelunterkünften fernab der Ballungsräume, insbesondere in leer stehenden und schlecht erhaltenen ehemalige Kasernen im Osten der wiedervereinten Republik. Statt Geld erhielten die Menschen Gutscheine für bestimmte Läden. Es waren Bestimmungen, die Flüchtlingen signalisierten, dass sie in Deutschland unerwünscht waren.
Buchcover: "Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird" von Marcel Fratzscher
"Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird" von Marcel Fratzscher© Hanser Verlag München
Christian Jakob stellt Betroffene vor, die erfolgreich rebellierten: gegen die oft jahrelange Ungewissheit, das Verurteilt-Sein zum Nichtstun, das Verwehren jeglicher Integration, gegen die Zermürbung, die psychisch und physisch krank machte.
Es waren Asylsuchende, die nicht länger als Menschen zweiter Klasse behandelt werden wollten, Rechtsmittel ergriffen und nach zähem Kampf auch die Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machen konnten. Je öfter dies geschah, umso mehr Unterstützung wuchs innerhalb der Bevölkerung.
In einer zweiten Phase versuchten Flüchtlinge, vornehmlich aus dem Iran, die Behörden mit Suizidandrohungen unter Druck zu setzen: Es waren die Jahre der Hunger- und Durststreiks, der Protestmärsche, der Camps in Würzburg, München oder am Berliner Oranienplatz.

Heute schafft Bürgerengagement eine Willkommenskultur

Jedes Mal erreichten die Asylsuchenden ein wenig mehr und bereiteten so den Boden für jene Willkommenskultur, welche die Flüchtlingswanderung durch den Balkan seit gut einem Jahr in Deutschland empfängt. Das Bürgerengagement füllte die Lücke staatlichen Versagens und beeinflusste das Handeln von Politik und Behörden nachhaltig.
Dem Redakteur der Tageszeitung "TAZ" gelingt es, die Asylpolitik der letzten 20 Jahre in einem kompakten Bild zusammenzufassen. Es erinnert an eben noch vertraute Namen und Ereignisse und an den Mut jener Hartnäckigen unter den Asylsuchenden, die ihre Rechte einzufordern versuchten. Ferner dokumentiert es einen erstaunlichen Wandel der Einstellungen in der deutschen Gesellschaft gegenüber Fremden.
Er werde bleiben und sei irreversibel, so ist Christian Jakob durch die Willkommenskultur überzeugt. Und doch gibt er sich keinen Illusionen hin - angesichts des Widerstands und Einflusses sogenannter "besorgter Bürger": "Es wird schwerste Konflikte in der Migrationsfrage geben".

Christian Jakob: Die Bleibenden. Wie Flüchtlinge Deutschland seit 20 Jahren verändern
Ch. Links Verlag Berlin, März 2016 256 Seiten, 18,00 Euro

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