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"Panikherz" am Berliner Ensemble
Der Pop-Literat, das Drogen-Wrack

Als Benjamin von Stuckrad-Barres autobiografischer Roman "Panikherz" 2016 erschien, waren die Kritiker gespalten – die einen nannten das Buch "moralisierend" und "selbstmitleidig", die anderen "herzergreifend" und "brillant". Am Berliner Ensemble hat Hausherr Oliver Reese das Buch auf die Bühne gebracht.

Von Barbara Behrendt | 18.02.2018
    3 Schauspielr stehen am Bühnenrand und gestikulieren, es sind Schauspieler des Berliner Ensembles, sie spielen Benjamin von Stuckrad-Barres "Panikherz" ,
    Carina Zichner, Laurence Rupp, Nico Holonics und Bettina Hoppe spielen alle den Ich-Erzähler in unterschiedlichen Stadien (Berliner Ensemble/© Julian Röder)
    Der Held in Benjamin von Stuckrad-Barres autobiografischem Pop-Roman ist nicht er selbst. Der große Retter, die überhöhte Vaterfigur und Lichtgestalt, die der Autor ungemein zärtlich beschreibt, das ist Udo Lindenberg. Seine Songtexte durchziehen Stuckrad-Barres Leben und so auch dieses Buch. Erwartbar, geradezu zwingend, dass Lindenbergs Hits den Soundtrack der Uraufführung bilden.
    Die Live-Musiker spielen ihre diversen Instrumente von rechts und links der Bühne ein, den Mittelteil bildet eine nostalgische, schummrige Hotel-Lobby: Wir sind im "Chateau Marmont" in Hollywood, dem legendären Hotel, in dem schon James Dean durchs Fenster sprang. Hier hat Lindenberg seinen Schützling einquartiert, hier schreibt Stuckrad-Barre sein Buch – mittlerweile clean von Kokain und Alkohol und einigermaßen von Bulimie genesen.
    "Per Pool-Telefon bestelle ich mir den Drink eines Überlebenden: One Camomile-Tea please. Vielleicht flippe ich aus und rühre mir Honig rein."
    Hier startet die Reise in die Vergangenheit. Bettina Hoppe, Carina Zichner, Nico Holonics und Laurence Rupp spielen den Ich-Erzähler in unterschiedlichen Stadien: Zichner gibt den hyperaktiven Jugendlichen, der aus der Kleinstadthölle fliehen will, die beiden Männer tauchen in den Karriererausch des Pop-Literaten und das Drogenhoch ein, Hoppe übernimmt die Partien des Abstinenten, der melancholisch zurückschaut.
    Deprimierende Tristesse
    Auf gut 40 Seiten hat Oliver Reese diesen knapp 600-seitigen Wälzer eingedampft. Übrig geblieben sind: viele Pointen, unzählige Geschichten über Koks-Highs und Brechattacken und noch viel mehr Reha-Episoden.
    "Schon als ich zu dir ins Auto stieg, wusste ich: Jetzt kommt der Rückfall. Alles an diesem Mädchen in ihrem Cabrio sagte mir: Wir knallen uns heute weg. Schon während der Fahrt trank sie Prosecco aus einer blauen Glasflasche und gab mir mit proseccovollem Mund einen Kuss. Und das war der Anfang bzw. das Ende."
    Das alles ist dicht an den Lebensstationen von Stuckrad-Barre erzählt, es ist das Porträt eines viel zu früh viel zu erfolgreichen jungen Mannes, der panische Angst vor Alltagsroutinen hat, vor dem Dickwerden, vor dem Nicht-perfekt-Sein. Ein Narzisst, nicht gerade sympathisch, und doch in seiner radikalen Ehrlichkeit herzanrührend. Stuckrad-Barre ist seit Jahren abstinent – auf der Bühne bleibt die deprimierende Tristesse des rauschlosen Alltags:
    "Einer der Aldi-Brüder, ich glaube, Karl war es, der hielt an seinem 90. Geburtstag folgende Festrede: ,Ich wollte gar nicht, dass ihr kommt. Ich habe Hunger. Ich geh bald nach Hause.’ Das ist eigentlich mein Text. Abend für Abend. So, drei Minuten sind um, die Zahnbürste ist aus, bin schon im Schlaftablettenwirkungsanflug. Geiles Leben."
    Abgesang auf die hypercoole Popkultur
    So berührend und kraftvoll das Schauspieler-Quartett in diese Biografie eintaucht, so einseitig bleibt der Abend doch im wahrsten Sinne auf den Drogen hängen. Das Buch "Panikherz" ist ein Abgesang auf die ironieverseuchte, hypercoole Pop- und Medienkultur der 90er- und 2000er-Jahre. Stuckrad-Barre war immerhin Gagschreiber bei Harald Schmidt, dem Fernsehkönig des Zynismus. In seiner Autobiografie steckt die Einsicht, dass die Pop-Generation mit dieser Haltung gegen die Wand gefahren ist. Und dass es, wenn es hart auf hart kommt, eben doch ganz ironiefrei Retter wie den eigenen Bruder, den alten Freund und die Musik braucht.
    Reese aber lässt kiloweise weißes Pulver auf die Bühne schütten und die nächste Reha starten. Naheliegender geht es kaum. Das ist auf zwei Stunden nur deshalb unterhaltsam, weil die Musiker und Schauspieler immer wieder unkaputtbare Udo-Songs anspielen. Berlin hat also sein neues Lindenberg-Musical. Stuckrad-Barre allerdings wird zu sehr auf die talentierte Koks-Nase reduziert, für die ihn das Show-Bizz lang schon gehalten hat.